Müdigkeit, Chaos, Utopie

Depressive, isolierte und zugleich angepasste Bürger taugen nicht für eine positive Umwälzung. Netzwerke innerlich freier Menschen können jedoch die Saat des Neuen säen.

Jede gesellschaftliche Umwälzung hat ihren Ursprung in der Utopie einer Minorität. Diese vollzieht die ersten Schritte, um die als negativ verstandene Realität abzuschütteln. Konkrete Taten, in denen sich die Utopie spiegelt, dienen dazu, möglichst viele Menschen positiv anzusprechen und sie für das Vorhaben zu begeistern. Die Last der Veränderung wird von der Masse getragen. Wenn sie sich bewegt, wird die Realität von der Utopie überrollt. Der Übergang vom Heute ins Morgen ist die Revolution. So war es zumindest in der Vergangenheit. In der Gegenwart ist die Masse müde. Sie bewegt sich nicht und befindet sich in einer Vorphase der Agonie. Die Erfindung einer besseren Zukunft könnte jedoch von agilen und kleinteiligen Strukturen ausgehen — getragen von Menschen, die azyklisch denken und handeln. Nach dem systembedingten Chaos, das die Revolution der Massen ersetzt, könnte so eine neue Wirklichkeit erblühen.

Im Neoliberalismus wurde das Ich zum Kult erhoben und das Subjekt seiner sozialen Substanzen beraubt. Dieser Schachzug hat die Gesellschaften im ersten Schritt fragmentiert und in der digitalen Epoche atomisiert. Sinn und Zweck der Existenz sind nun auf den Mikrokosmos Ich verengt. Durch wohlwollend „strenge Regeln“ gezüchtigt und politisch gebändigt durch moralisierende Belehrungen, die sich der „moderne“ Ich-Mensch wie ein Psychiater selbst verordnet, wandelt er auf dem ihm zugewiesenen Spaltenboden der „Freiheit“. Dessen Grundfläche wird von den Dienern der Kapitalmacht weiter reduziert, die danach trachtet, alles und jeden dem „freien Markt“ einzuverleiben und in Rendite zu verwandeln. Die intellektuelle Bewegungslosigkeit kennzeichnet den Endpunkt von Widerstand und den Beginn der Agonie.

Der Terror des Gleichen

Der Philosoph Byung-Chul Han, der in Essays wie „Müdigkeitsgesellschaft“ (1) oder „Vom Verschwinden der Rituale“ (2) die Bestandteile des kapitalistischen Selbstausbeutungssystems identifizierte, zog schon 2014 in seinem Aufsatz „Warum heute keine Revolution möglich ist“ (3) nachvollziehbar einen temporären Schlussstrich unter die Vision einer Umwälzung der Verhältnisse.

Der Leistungsdruck hat die Menschen vereinzelt. Das Urvertrauen wurde zerstört und durch Bindungslosigkeit ersetzt. Die persönliche Karriere hat den Platz der Familie eingenommen, Kinder die Rolle eines Luxusartikels. Die Solidarität der Generationen ist aufgekündigt. Unsexy ist, wer sich um die Seinen kümmert. Das als objektiv angenommene Wissen von der Welt ist durch mediale Filterung auf wenige Narrative verengt, die sich als subjektive Wahrheiten im Ich verankern — „Du bist Freiheit“, „Du bist Demokratie“, „Du bist Markt“.

Jeder sei einzigartig, heißt es, und kann sein, wer und was er will. Die Sozialisation als komplexer Prozess der Identitätsbildung ist damit abgewickelt.

Eingeschworen auf die Illusion personeller Bedeutung und angefixt mit einem Cocktail aus ständiger Eile, Betroffenheit ohne persönlichen Bezug und der Sehnsucht nach einer nie erreichbaren Perfektion des Ich, sind die „User“ im Sinne global vernetzter Verwertungsinteressen umgeformt. Sie träumen vom Individualismus und leben im Konformismus. In den „sozialen“ Medien, an digitalen Pinnwänden und auf Blogs stehen die Ichs als konkurrierende Varianten ein und desselben Angebots im Schaufenster. Es herrscht der von Han beschriebene Terror des Gleichen.

Das Leben in der digitalen Epoche duldet keine Privatsphäre und keine Verbindlichkeit. Es fordert die freiwillige Preisgabe des Intimen ein und kultiviert im Sog der Überschleunigung die Oberflächlichkeit. Gefeiert wird, wer sich selbst beklatscht. Räumlich-zeitliche Konstanten weichen unsteter Wanderung. Die zwischenmenschliche Verbundenheit, in ihrer höchsten Stufe ausgedrückt in Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit, wurde in eine Wüste individueller Einsamkeit verwandelt. In dieser Hölle emotionaler Dysfunktionalität reproduziert sich eine anhaltende Unzufriedenheit mit dem Ich. Ecken und Kanten verschwinden. Fremdansprüchen zu genügen, die zum Eigenanspruch umgedeutet sind, ist als Persönlichkeitsmerkmal ins Selbstverständnis eingesickert. Die Biografie des Ich-Menschen bündelt sich in Skills, Zuständen und Diagnosen. Belastende Indizien sind die mit Botox geglätteten Gesichter, aus denen die Geschichten des Lebens getilgt sind.

Entgegenkommen, Aufmerksamkeit und Freundlichkeit sind dem Selbst entrissen. Sie dienen jetzt als Mittel, um Mehrwert zu erzielen. Angebot und Nachfrage verschmelzen im Sein. Die sozialen Beziehungen sind ökonomisiert. Die Belastung der ständigen Selektion, die an der Rampe des Anspruchs die nützlichen von den unnützen Beziehungen trennt, verschlingt die letzten Energiereserven.

Im Auge des Sturms

„Das neoliberale Regime“, sagt Han, „verwandelt die Fremdausbeutung in die Selbstausbeutung“ (4). Der Körper ist eine Nutzmaschine, der Geist eine Bleimine. Der „neue“ Ich-Mensch ist sein eigener Knecht, Ausbeuter und Unterdrücker, der sich selbst mit Aggression begegnet. Sich zu besaufen, Drogen einzuwerfen oder Glückspillen zu schlucken, um diesen Alptraum zu ertragen, ist eine logische Reaktion. Der Mix aus Anpassungs- und Erfolgsdruck, eine nie nachlassende Auspeitschung des Ich, verursacht Pein. Sie verlangt nach Linderung.

Im reichen Europa, das keinen Mangel mehr kennt und dennoch nie Zufriedenheit ausstrahlt, steigt seit 20 Jahren der Konsum von Antidepressiva, Schmerz-, Beruhigungs- und Schlafmitteln kontinuierlich an.

Und selbstverständlich werden heimlich Stimulanzien und Drogen benutzt, um fröhlich durch den stressigen Tag zu kommen und die Erosion der Ich-Verpackung zu verhindern. Spanien, Österreich, Frankreich, Deutschland, Niederlande und so weiter: Überall dort, wo das Regime des Neoliberalismus seine Fahne aufgestellt hat, dröhnt sich ein signifikanter Anteile der Bevölkerung zu (5, 6, 7).

Sich mit dem Bedrücker zu arrangieren und durch Unterwerfung die Illusion von Freiheit aufrecht zu erhalten, ist eine andere Taktik. Ein an den Bedrücker und seine Narrative gerichtetes „Nein!“ wird vermieden, um sich die Eiseskälte aus Denunziation und Ausgrenzung zu ersparen. Das aus Kaiserreich und NS-Staat bekannte „Jawohl“ und der „Gefällt mir“-Button segnen den Wahnsinn des Krieges ab und den soziokulturellen Gagaismus einer „Political Correctness“, die Normen, Werte und Begriffe verdreht und sozialen Ausschluss, Marginalisierung und Herabwürdigung fördert. In der uniformen Widerspruchslosigkeit vollendet sich die Krümmung des eigenen Verhaltens.

Insofern hat Byung-Chul Han recht, wenn er der Masse keine Revolution zutraut. Depressive und antisoziale Ich-Menschen, in denen sich der Markt als verinnerlichte Haltung manifestiert, sind in der Tat ungeeignet für eine Umwälzung der unerträglichen Verhältnisse. Der Zoon politikon, das soziale und politische Lebewesen, das den Aufstieg in das digitale Bürgertum geschafft hat, ist für diesen gewaltigen Schritt, der das System der Vernutzung vom Thron stürzt, viel zu erschöpft. Er meutert nicht, sabotiert keine Kriege und beißt nicht nach der lieblosen Hand, die ihn füttert, wenn er gehorcht. Er ist sediert. Jedenfalls temporär, bis ihn Unordnung und Verwirrung wachküssen, die den geistigen Tod der neoliberal verstrahlten Gesellschaften begleiten.

Im Auge des Sturms wird Freiheit für diejenigen zur Tugend, die gegen ihre emotionale Entleerung und die Vergiftung des Sozialen revoltieren. Sie suchen nicht das Gestern in einer idealisierten Vergangenheit, die nicht weniger unfrei war als die Gegenwart, sondern erfinden jetzt und sofort die Zukunft: eine Welt freier und sozial agierender Menschen, die sich kleinteilig organisieren, Netzwerke gegenseitiger Unterstützung erschaffen und friedlich koexistieren, um gemeinsam Hüter des Garten Edens zu sein, in dem sie nach dem Ende des Elends leben werden. Diese Utopie versteckt sich im Chaos, dem die Zivilisation der Ich-Menschen entgegenrennt. Und niemand wird sie aufhalten. Niemand ...