Mord mit Ansage
Heute vor 50 Jahren wurde auf Rudi Dutschke geschossen.
Für die Teilnehmer einer Anti-APO-Demonstration im Jahr 1968 war er der „Staatsfeind Nr. 1“ Der Spiegel verstieg sich zu der Überschrift „Dutschke, Goebbels & Co.“. Heinrich Böll dagegen nannte ihn den „mehrfach Deutschgekreuzigten.“ Rudi Dutschke, Kopf und Herz der Studentenbewegung 1967/68, polarisiert noch immer. Ganz schlaue Politiker rufen jetzt sogar nach eine Art „Anti-68“. So schrieb CSU-Mann Alexander Dobrinth: „Fünfzig Jahre nach 1968 wird es Zeit für eine bürgerlich konservative Wende in Deutschland“. Als ob die nicht längst im Gang wäre! Vor 50 Jahren wurde Dutschke von einem angeblich verwirrten Einzeltäter, Josef Bachmann, tödlich verletzt – gleichsam der Erfüllungsgehilfe einer kollektiven Hysterie des Spießertums, die sich aufgebaut hatte. Rudi Dutschke braucht keine Nachrufe, aber unsere Zeit braucht die Wiederentdeckung Rudi Dutschkes und seiner Ideen.
Eine die ihn gut kannte, die Friedens- und Frauenaktivistin Ellen Diederich, schreibt über ihren ehemaligen Freund und Geliebten:
„Rudi war völlig uneitel, Äußerlichkeiten waren ihm so unwichtig. Die Begegnung mit dem lebendigen Menschen war wichtig, das ehrliche Interesse an den lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Traumata der Menschen. Und das nicht nur bei politischen Veranstaltungen, egal, ob im Taxi mit dem Fahrer, im Zug, wo mit einem mal Menschen, die stundenlang schweigend im Abteil gesessen hätten, miteinander ins Gespräch kamen, wenn Rudi dabei war.“
Wahrheitsspuren, die konkreten Erinnerungen von Menschen, die dabei waren, sind immer das beste Gegenmittel gegen Mythen, die diffamieren oder auch idealisieren wollen.
Ein „typischer“ 68er?
Als „typischer ’68er“ ist er tief ins kollektiven Gedächtnis eingeprägt. Dabei war er in vielerlei Hinsicht untypisch. Rudi Dutschke, der sich im Hippie- und Kommunardenmilieu ebenso wenig zuhause fühlte wie in den verkopften Kaderorganisationen der marxistischen und maoistischen Sekten. Rudi, der im Westen ebenso aneckte wie im Osten, der in beiden Reichen ein Ausgestoßener war, weil er in seinem Einsatz für die Erniedrigten und Beleidigten unbestechlich war, durch keine Ideologie zu vernebeln.
Rudi, der die DDR nicht idealisierte, weil er sie – um Osten aufgewachsen und kurz vor Schließung der Mauer in den Westen emigriert – viel zu gut kannte. Rudi, der ganz „uncool“ schon früh Verantwortung für seine Familie übernahm und sich auf „Freie Liebe“-Experimente erst einließ, als ihn seine Frau Gretchen ausdrücklich dazu aufforderte. Rudi, der, obwohl er das Private nie gänzlich der Politik opferte, obwohl er nicht wie Che Guevara den Hass als Voraussetzung für die Revolution propagierte, dieser Revolution doch bis zum Tod treuer war als alle Biermanns, Fischers und Cohn-Bendits zusammen.
Rudi Dutschkes Einschätzung des etablierten Politikbetriebs war nüchtern und bleibt in der Analyse zeitlos:
„Die Regierenden an der Spitze (…) sind bürokratische (austauschbare) Charaktermasken, die ich ablehne und gegen die ich kämpfe, die ich aber nicht hassen kann.“
Revolution war für Dutschke nichts Starres, vielmehr ein Lernprozess, der den Revoltierenden ebenso verwandelt wie das, wogegen revoltiert werden soll. So konnte er sich stets wandeln und sich dabei doch treu bleiben. Rudi Dutschke nahm eine sozialistische Partei links von der SPD ebenso visionär vorweg, wie er die Bedeutung der in den späten 70ern aufkommenden ökologischen Bewegung früh erkannte. „Alle wissen, dass der Weiterbestand der Gattung in Frage steht. Es geht nicht nur um ein Klasseninteresse.“ Er war weit mehr Versöhner und Integrator, als es sein provokantes Auftreten und sein Image als ewiger „Krawallmacher“ vermuten lassen.
Zwischen allen Stühlen
Weil er vieles zusammenbringen wollte, was lieber darauf beharrte, sich hinter Abgrenzungsritualen zu verschanzen, setzte er sich zwischen alle Stühle und wurde von allen Seiten angefeindet. So befürwortete Dutschke eine deutsche Wiedervereinigung – allerdings auf der Basis eines dritten Weges, der keines der beiden Altsysteme zu kopieren versucht: „die Wiedervereinigung Deutschlands unter freiheitlichem, sozialistischem Vorzeichen“ (Gretchen Dutschke). Er versuchte die klassische Linke und die Reste der 68er-Studentenbewegung mit der in den späten 70ern aufkommenden, teilweise bürgerlich und wertkonservativ orientierten Öko- und Anti-Atomkraftbewegung zusammen zu führen. Es gelang ihm sogar – in der frühen Lebensphase eher als in der späten – Marx mit Christus zusammen zu denken, mit Jesus, dem „größten Revolutionär“.
„Ich bin ein Sozialist, der in der christlichen Tradition steht. (…) Ich sehe Christentum als einen spezifischen Ausdruck der Hoffnung und Träume der Menschheit.“
Dutschke verstand die proletarische Revolution als Erbe der vorangegangenen bürgerlichen Revolution, die beide die Emanzipation, die Selbstermächtigung des Staatsbürgers gegen alle ihn unterdrückenden und entfremdenden Gewalten zum Ziel hatten. Wenn es ein geistiges Zentrum gibt, um das alle seine Gedanken und Aktionen kreisten, so ist es jener Satz von Marx, man müsse „alle Verhältnisse umwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Ein Satz, der in verschiedenen Varianten bei Dutschke immer wiederkehrt.
Rudis Revoluzzertum zielt nicht allein darauf ab, dass die Herrschaft die Farbe wechselt (z.B. von Schwarz nach Rot); seine Absicht war vielmehr das Zurückdrängen von Herrschaft als solcher – durch die Macht des Einzelmenschen, der aus seiner Duldungsstarre erwacht und sich zum Subjekt der Geschichte aufschwingt. „Politik ohne innere Veränderung der an ihr Beteiligten ist Manipulation von Eliten“.
Die Furcht vor der Freiheit
Die durch die Wahl des Parteinamens „Die Linke“ heute wieder sehr gängige Polarisierung von Links und Rechts hat dazu beigetragen, dass ein anderer, vielleicht viel fundamentalerer Gegensatz in Vergessenheit geriet: jener zwischen unten und oben. Rudi Dutschkes Perspektive war immer die „von unten“, so sehr er sich auch kurzfristig in seine Rolle als „Prominenter“ und „Rädelsführer“ hineinfand. Von den drei wichtigsten alternativen Bewegungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts – der sozialistischen, der ökologischen und der antiautoritären – erscheint die letztere, die antiautoritäre, in der politischen Diskussion heute wie ausradiert.
Seit Rudi Dutschkes Tod gibt es zudem keinen profilierten Vertreter dieser Richtung mehr in Deutschland. Wenn es möglich wäre, die politische Landschaft der Gegenwart durch ein einziges Wort zu charakterisieren, wäre dieses Wort für mich „Freiheitsvergessenheit“.
In einer unheiligen Allianz aus konservativen, marktradikalen, ökologischen und sozialistischen Kräfte herrscht Einigkeit nur über den einen Punkt: dass der dumme Bürger klein gehalten werden muss und dass er nicht frei sein darf.
Wozu und mit welcher Begründung gibt es überhaupt die Macht des Menschen über den Menschen? Wie kommt es zur scheinbar selbstverständlichen Herrschaft der Wenigen über die Vielen? Solche Fragen werden heute überhaupt nicht mehr gestellt. Unterstützt wird diese autoritaristische Mentalität durch eine Mehrheit der Bürger, die allem Anschein nach nicht frei sein will und die ihren Staat hilfesuchend um Schutz vor Bedrohungen anflehen (die gar nicht so bedrohlich erscheinen würden, hätte sie die Staatsmacht nicht aus durchsichtigen Gründen aufgebauscht).
„Der heutige Faschismus ist nicht mehr manifestiert in einer Partei oder in einer Person“, schrieb Dutschke. Er liegt in der tagtäglichen Ausbildung der Menschen zu autoritären Persönlichkeiten, er liegt in der Erziehung, kurz in der entstehenden Totalität der Institutionen und des Staatsapparats. Den letzteren zu sprengen ist unsere Aufgabe.“
Das Prinzip Hoffnung
Diese klammheilige Allianz zwischen denen, die gern herrschen und denen, die sich damit abgefunden haben, beherrscht zu werden, wollen Rudi Dutschke aufbrechen: nicht durch Beschimpfung des „dumpfen“ Volkes, sondern durch beharrliche Überzeugungsarbeit, die das Machbare mit dem Utopischen zu versöhnen suchte. In der Realität, im Hier und Jetzt, ansetzen und doch seine Träume nie aus den Augen verlieren – es ist keine Strategie, die bisher große Erfolge gezeitigt hat, und es ist dennoch der wahrscheinlich einzig mögliche Ausweg aus einer „Realpolitik“, die zu einem erstickenden Denkgefängnis pervertiert ist.
„Es bedarf in der Tat der Hoffnung, Phantasie und des Traums, um die bestehenden Verhältnisse transzendieren zu können“, schrieb Dutschke.
Die Brücke zwischen Realpolitik und Utopie fand er im philosophischen Begriff des „Noch-Nicht“, den Ernst Bloch in seinem Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung“ geprägt hatte. Wer, was sonst als illusionär bespöttelt und politisch ausgegrenzt wird, als „objektive Möglichkeit menschlichen Daseins“ betrachtet, versinkt nicht in Mutlosigkeit, selbst wenn sich Transformationsprozesse über Jahrzehnte hinziehen.
„Das Dynamit der Phantasie muss philosophisch-soziologisch sein, um realistische Phantasie, konkrete Utopie denken und entwickeln zu können. Solidarität, Freiheit, Phantasie, Utopie, Liebe etc. gehören zusammen, sie gilt es miteinander zu vermitteln.“
Konkret bedeutete das für Dutschke, den parlamentarischen und den außerparlamentarischen Weg, kurzfristige und langfristige Ziele parallel zueinander zu verfolgen. „Die wachsende direkte Demokratie wird möglicher, wenn ein Bündnis zustande kommt zwischen parlamentarischen Kräften und außerparlamentarischen Kräften.“ Die Spannung zwischen Reform (ein heute bis zum Überdruss strapazierter Begriff) und Revolution (die stets von Gewaltexzessen bedroht ist) wollte er überwunden wissen durch ein Konzept des „systemabschaffenden Reformismus“.
„Wir wollen die bürgerliche Demokratie nicht abschaffen, aber wir wollen sie sehr ernsthaft mit einem neuen Inhalt füllen.“
Eine Rätedemokratie betrachtete Dutschke immer als Fernziel, wobei es wohl vor allem um das Prinzip des imperativen Mandats ging, also um verpflichtende Umsetzung des Volkswillens in konkreten Einzelentscheidung. An die Stelle von Politikern, die zwischen den Wahlen völlig losgelöst vom Mehrheitswillen der Wähler agieren, würden dann jederzeit abwählbare Räte treten. (Der nur seinem „Gewissen“, nicht dem Wählerwillen verpflichtete Politiker neigt – wie der Fall Andrea Ypsilanti/Dagmar Metzger gezeigt hat – auf rätselhafte Weise zur Stabilisierung des neoliberalen Mainstreams.)
Die verweigerte Bürgermacht
Wenn es also eine Botschaft gibt, die Rudi Dutschke uns heutigen übermitteln kann und die in unserer Epoche im Wortsinn not-wendig ist, dann ist es diese: Steht auf und nehmt eure Geschicke selbst in die Hand.
„Wir in einer autoritären Gesellschaft aufgewachsenen Menschen haben nur eine Chance, unsere autoritäre Charakterstruktur aufzubrechen, wenn wir es lernen, uns in dieser Gesellschaft zu bewegen als Menschen, denen diese Gesellschaft gehört, denen sie nur verweigert wird durch die bestehenden Macht- und Herrschaftsstrukturen des Systems“.
Das ist es, wovor die Medienmacher und Politiker am meisten Angst haben: zurückgedrängt und in ihrer Bedeutung auf eine dienende Rolle reduziert zu werden durch einen selbstbewussten, beharrlichen zivilen Ungehorsam.
Ein deutscher „Star“ des zivilen Ungehorsams und des gewaltfreien Widerstands – so etwas wird nicht einmal im historischen Rückblick geduldet. Deshalb muss Rudi pathologisiert oder durch wiederholte Präsentation weniger, für ihn nicht schmeichelhafter Filmausschnitte zum geistigen Vater der RAF-Gewalt erklärt werden.
Sollte Rudi Dutschke im Zuge der „68er-Nostalgie“ jemals wieder zu einer historischen Figur mit Vorbildcharakter avancieren, so dürfte man ihn zum zweiten Mal ermorden. Seinem physischen Tod wird die mediale Hinrichtung seiner Person und seiner Werte folgen. Vorerst heißt die Parole: bagatellisieren und bespötteln. Anlässlich des Rudi-Dutschke-Fernsehspiels von 2008 riet der „Stern“ dem Dutschke-Darsteller Christoph Bach: „Wir erwarten eine ordentliche Vorbereitung, Herr Bach. Rasieren einstellen! Strickpulli tragen! Und Unverständliches Proklamieren von Weltgeist und Selbstbefreiung!“ Dass Selbstbefreiung für den Stern ein Fremdwort ist, überrascht nicht; erschütternd ist allerdings die Neo-Spießigkeit des Schreibers, die an die Elterngeneration der 68er erinnert, die sich noch ernstlich über Rudi Dutschkes lange Haare aufregte.
Phase der Selbstbesinnung
Rudis Anti-Autoritarismus war so fester Teil seiner Überzeugung, dass er selbstverständlich auch seine eigene Autorität als SDS-Führer und Identifikationsfigur der Bewegung umfasste. So wollte Dutschke, „eine allgemeine Führerrolle nicht nur ablehnen, sondern auch als autoritär und Befreiung behindernde Funktion entlarven.“ Er gehört zu den wenigen Führungspersönlichkeiten der jüngeren deutschen Geschichte, deren Botschaft nicht „folge mir!“, sondern „folge dir!“ zu lauten schien.
Paradoxererweise hat ihn das Attentat und die damit verbundenen körperlichen Einschränkungen in eine Phase aufgeklärter Demut und Selbstbesinnung geführt, die seinem Engagement die erste fiebrige Stoßkraft nahm, längerfristig aber hätte fruchtbar sein können, hätte ihn nicht der Tod an der Schwelle zu einem neuen politischen Lebensabschnitt eingeholt. Er wurde so in eine Versuchung der Macht (der er mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte widerstehen können) gar nicht erst geführt, auch nicht als möglicher künftiger „Promi“ der neu gegründeten Grünen-Partei. Dutschke blieb auch als Prominenter zeitlebens ein real machtloser „Underdog“, auch im reiferen Lebensabschnitt begabt mit dem, was der Zen-Buddhismus „Anfängergeist“ nennt.
Es ist relativ leicht, bei Rudi Dutschke Fehler, Irrtümer und Unausgegorenheit aufzuspüren. Hat er doch –speziell nach dem Attentat – ganz offen schon motorisch und auch mental Schwäche gezeigt (etwa Angststörungen). Man kann ihm die Neigung vorwerfen, über sein Ziel hinauszuschießen, übersteigerten Utopismus, Selbstüberschätzung vor allem. (Man denke nur an den Plan, Westberlin zur autonomen Räterepublik umzugestalten.)
Viele stören sich auch an seinem streckenweise spröden Soziologendeutsch. So wirkt es beinahe skurril, wenn Dutschke anlässlich seiner Eheschließung mit Gretchen analysierte: „Da ist der Liebeszusammenhang schon eingebettet in den Kampfzusammenhang.“ Der „klassische“ Rudi Dutschke der Jahre 67 und 68 war noch ein ziemlich junger Mann, inspiriert neben frühen und einschneidenden Lebenserfahrungen vor allem durch das Studentenmilieu, durch ausufernde und hochschwierige Lektüre (Marx, Lukács, Marcuse, Bloch). Dennoch schreiben ihm Zeitzeugen auch eine volksnahe Einfachheit zu, eine unzynische Lauterkeit, die seltene Begabung, achtungsvoll auf Freunde, Fremde und polische Gegner zuzugehen.
Legalität als Fetisch
Der größte Einwand gegen Rudi Dutschke und die von ihm verkörperte antiautoritäre Richtung der 68er-Bewegung ist zweifellos sein schillerndes Verhältnis zu Illegalität und Gewalt. Man muss diese beiden Bereiche klar trennen, denn zwischen der Verletzung von Vorschriften (etwa von Demonstrationsauflagen) und der Verletzung und Tötung von Menschen liegen noch immer Welten.
„Die Berufung auf Demokratie unterstellt demokratische Mündigkeit der Menschen in diesem Staate“, schrieb Dutschke zur Begründung möglicher illegaler Aktionen. „Wenn diese Mündigkeit nicht vorhanden ist, wenn sie systematisch verunmöglicht ist, so ist jede Aktion für die kritische Bewusstmachung der Menschen demokratisch! Legalität wird zum Fetisch der Aufrechterhaltung der illegalen Methode der Herrschenden in der Gesellschaft.“
Wie häufig bei Dutschke, bleibt leider unklar, welche Schlussfolgerungen daraus konkret zu ziehen wären.
Das Verhältnis Rudi Dutschkes zu Gewalt ist in erster Linie dadurch gekennzeichnet, dass er deren Opfer wurde.
Seine Biografie ist gespickt mit Berichten über willkürliche Verhaftungen, Schläge, Schikanen, Drohungen und erniedrigenden Sabotageakte – und zwar sowohl durch die westdeutsche Obrigkeit als auch durch DDR-Grenzpolizisten und nicht zuletzt durch staatstreue Normalbürger, die ihm Kot vor die Wohnungstür schaufelten und „Vergast Dutschke!“ auf die Wände schrieben.
Zweifellos gibt es in seinen Reden und seinem Tagebuch das gedankliche Spiel mit der Gewalt. „Der prinzipielle Verzicht auf Illegalität und Gegengewalt macht uns wie alle zu verwertbaren und nützlichen Idioten, lässt die Anerkennung des Bestehenden zur einzigen Möglichkeit werden.“ Dutschkes „Liebäugeln“ mit aktiver Gewalt erscheint im Rückblick allerdings sehr virtuell, eher auf die Ebene der Planung, der Absicht, der Theorie beschränkt; die Gewalt, die er selbst erlitten hat, dagegen sehr real – bis hin zum physischen Tod an den Spätfolgen des Attentats. Die systemtreue Geschichtsschreibung erwartet von einem dermaßen geschundenen, unzählige Male erniedrigten Menschen selbstverständlich, dies alles ohne Anzeichen von Wut und Gewaltabsichten hinzunehmen. Das ist weder fair noch ist es psychologisch stimmig.
Die Wurzeln des Terrors
Die veröffentlichte Meinung erregt sich über Eierwürfe auf eine amerikanische Botschaft heute wie damals mehr als über Brandbomben auf Kinder in Vietnam. Darin besteht die große Verlogenheit auch der gegenwärtigen Diskussion über die 68er. Zudem ist Heinrichs Bölls Satz noch immer gültig:
„Es gibt nicht nur die Gewalt auf den Straßen, Gewalt in Bomben, Pistolen, Knüppeln und Steinen, es gibt auch Gewalt und Gewalten, die auf der Bank liegen und an den Börsen hoch gehandelt werden.“
Rudi Dutschke hat schon als junger Mann in der DDR seine Karriere riskiert, weil er den Wehrdienst als nicht gezogene Lehre aus dem Dritten Reich ablehnte. Er ist vom gewaltfreien Weg – von der Durchbrechung von Polizeisperren und dergleichen abgesehen – nie wirklich abgewichen, ganz im Gegensatz zu seinen Gegnern.
Die RAF-Terroristen empfand er als Genossen, die sich verirrt hatten und die er im unbeugsamen Glauben an die verändernde Macht von Diskussionen auf den rechten Weg zurückführen wollte. Sein Drahtseilakt zwischen kritischer Solidarität mit den Inhalten und klarer Abgrenzung gegen die Mittel des Terrorismus war nicht deshalb illegitim, weil er im Ergebnis erfolglos war. Vielmehr enthalten Dutschkes Statements zum „Deutschen Herbst“ 1977 Ansätze, die in der Auseinandersetzung mit der RAF-Vergangenheit wie mit gegenwärtigen Erscheinungsformen des Terrorismus fruchtbar wären. „Wie kann man eigentlich den Terrorismus austrocknen, wenn gleichzeitig sozialökonomisch und sozialpsychologisch Boden dafür geschaffen wird?“ Rudi Dutschke oder gar die 68er auf die gereckte Faust am Grab von Holger Meins und den Ausruf „Holger, der Kampf geht weiter“ zu reduzieren, ist ebenso perfide wie von interessierter Seite politisch gewollt.
Wirklich nur ein Einzeltäter?
An der offiziellen Darstellung, Rudi Dutschke sei von einem verwirrten Einzeltäter, dem rechts gerichteten Josef Bachmann, angeschossen worden, sind auffällig wenige Zweifel aufgetaucht. Zu rasch haben sich Presse und Staatsapparat mit dem Hinweis auf einen bedauerlichen Einzelfall ihrer Mitverantwortung entledigt. Dutschke selbst hegte jedenfalls zeitlebens Zweifel, zumal die Konstellation – ein Attentäter bringt sich bald nach seiner Tat selbst um – an den Kennedy-Mord und das Schicksal Lee Harvey Oswalds erinnert. „Ich habe niemals an den Selbstmord meines Attentäters Bachmann geglaubt. (…) Der Attentäter Bachmann soll auch ein Einzelgänger sein. Das mag eine kriminalpolizeilich richtige Aussage sein – in allen Fällen, aber ist es eine politische Wahrheit?“
Besagt diese Andeutung, dass aus Sicht der Staatsmacht und der politischen Rechten quasi eine „objektive“ Notwendigkeit für den Tod Dutschkes bestand, die sich auf geheimnisvolle Weise im Tatimpuls Bachmanns verdichtet hat?
Auffällig ist, dass es nach dem Dutschke-Attentat keinen revolutionären Anführer von Format mehr in Deutschland gegeben hat. Kann man diese Beobachtung völlig unabhängig von der Tatsache sehen, dass viele, die sich für eine wirklich andere Politik profiliert haben – King, Dutschke, Rosa Luxemburg – ihren Mut mit dem Leben bezahlt haben?
Hans-Dieter Hey schrieb in einem Artikel im Jahr 2008: „Heute, 32 Jahre nach dem Tod von Ulrike Meinhof, erlebt das Land neue Repressionen in Form von Turbo-Kapitalismus, Hartz IV, Generalüberwachung, weltweiter deutscher Kriegsbeteiligung und – neu – Übermittlung personenbezogener Daten an die USA gegen den Willen der Bürgerinnen und Bürger. Es scheint, als laufe das Glas wieder voll.“ Hey meint, dass damit der Boden für eine Gewalt bereitet wird, die er selbst sicher nicht herbeiwünscht.
Konstantin Wecker schrieb in seinem Tagbuch: „1968 – das war gut und wichtig und vieles davon könnten wir heute wieder richtig gut brauchen.“ Vergleichbare Stimmen sind aber – gemessen an der Misere der gegenwärtigen Situation – selten.
Die Anti-68er blasen zum Sturm
Gleichzeitig gehen die Gegner von sozialer Gerechtigkeit, Bürger-Selbstbestimmung und Frieden heute noch gewiefter, weil vorausschauender vor. Noch bevor sich Ansätze zu einem „neuen ’68“ formieren könnten, schießen sie aus allen Rohren gegen das alte 68. Filme wie „Das wilde Leben“ (Uschi Obermaier), „Elementarteilchen“ und die Klamotte „Meine Braut, ihre Schwiegereltern und ich“ durchdringen die Pop-Kultur mit einer Karikatur des „typischen“ 68ers: unverantwortlich, narzisstisch, sexsüchtig und von pubertärer Rebellionssucht getrieben.
Die Aufregung linker Kommentatoren über die Anti-68-Bücher von Götz Aly und Kai Dieckmann (den doch schon die Zeitung, der vorzustehen er die Unehre hat, für den vernünftigen Dialog disqualifiziert) bindet viel Energie, die besser in die Entwicklung eines eigenen, wahrheitsgetreueren 68er-Bilds investiert worden wäre. Was eigentlich ist „unsere“ Auffassung von 1968, von Rudi Dutschke und den Erkenntnissen, die aus seinem Leben und seinem Denken für heute zu gewinnen sind? Eine ernsthafte Auseinandersetzung damit hat gerade erst begonnen, während der politische Gegner in seinen Diffamierungsbemühungen schon weit fortgeschritten ist.
In Ellen Diederichs Gedanken vermischt sich die Erinnerung an Rudi Dutschke häufig mit der Figur des „Willy“ aus Konstantin Weckers bekanntem Chanson. Willy, der von einem Faschisten mit dem Bierkrug erschlagen wurde, nur weil er aufstand gegen die Dominanz der Dummheit an den Stammtischen, weil er entschlossen war, eine Freiheit zu verwirklichen, die sich vor nichts und niemandem fürchtet. Über diesen Willy singt Konstantin Wecker: „Wir hätten dich doch noch ’braucht. Wir alle brauchen einen wie du einer bist.“