Mord an der Geschichte
Geschichte wird von den Mächtigen „gemacht“.
Eines der am meisten gehypten “Ereignisse“ im amerikanischen Fernsehen, „Der Vietnamkrieg“, läuft nun auf PBS Network. Regie führten Ken Burns und Lynn Novick. Gefeiert für seine Dokumentationen über den Bürgerkrieg, die Weltwirtschaftskrise und die Geschichte des Jazz, äußert sich Burns wie folgt zu seinen Vietnamfilmen: „Sie werden unser Land dazu inspirieren, auf eine völlig neue Weise über den Vietnamkrieg zu sprechen und zu denken.“
In einer in weiten Teilen um jegliche historische Erinnerung gebrachten Gesellschaft, die der Propaganda ihrer eigenen „Einzigartigkeit“ erlegen ist, wird Burns‘ „vollkommen neuer“ Vietnamkrieg als „episches, historisches Werk“ präsentiert. Seine verschwenderische Werbekampagne preist seinen größten Unterstützer, die Bank of America, die 1971 von Studenten in Santa Barbara, Kalifornien, als Symbol für den verhassten Vietnamkrieg niedergebrannt wurde.
Burns erklärt, er sei “der gesamten Bank-of-America-Familie” dankbar, die „lange die Veteranen unseres Landes unterstützt hat”. Die Bank of America war eine unternehmerische Stütze für eine Invasion, die wohl nicht weniger als vier Millionen Vietnamesen getötet und ein vormals üppiges Land verwüstet und vergiftet hat. Mehr als 58.000 amerikanische Soldaten fielen, und ungefähr dieselbe Anzahl soll Schätzungen zufolge Selbstmord begangen haben.
Ich habe mir die erste Folge in New York angesehen. Gleich zu Beginn macht der Film seine Absichten glasklar. Der Erzähler sagt, der Krieg „wurde aufgrund einer verhängnisvollen Fehleinschätzung, amerikanischer Vermessenheit und aufgrund von Missverständnissen des Kalten Krieges von anständigen Menschen in gutem Glauben begonnen.“
Die Unehrlichkeit dieser Aussage überrascht nicht. Die zynische Inszenierung kriegerischer Handlungen des Gegners („false flags“), die zum Überfall auf Vietnam geführt hat, ist gut dokumentiert – der Tonkin „Zwischenfall“ im Jahr 1964, den Burns hier als historische Wahrheit darstellt, war nur eine davon. Die Lügen überdecken eine Vielzahl von offiziellen Dokumenten, allen voran die Pentagonpapiere, die der große Whistleblower Daniel Ellsberg im Jahr 1971 veröffentlichte.
Es gab keine Gutgläubigkeit. Der Glauben war verrottet und krebsartig. Für mich – und wohl für viele Amerikaner – ist es schwer, den Film anzusehen, der zusammengestückelt ist aus Landkarten, in die die „rote (Anm. d Ü. kommunistische) Gefahr“ eingezeichnet ist, aus Interviewpartnern, die man nicht einordnen kann, unpassend zusammengeschnittenem Archivmaterial und rührseligen Sequenzen vom amerikanischen Schlachtfeld.
In der Pressemitteilung zu der Serie in Großbritannien – auch die BBC wird letztere zeigen – werden keine toten Vietnamesen erwähnt, nur Amerikaner. „Wir alle suchen nach einem Sinn in dieser schrecklichen Tragödie“, mit diesen Worten wird Novick zitiert. Wie ungeheuer post-modern.
All dies wird jenen vertraut vorkommen, die beobachteten, wie der amerikanische Medien- und Popkulturkoloss das große Verbrechen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bereinigt und dem Publikum aufgetischt hat: von The Green Berets und The Deer Hunter bis zu Rambo. Durch diese Vorgehensweise wurden spätere Angriffskriege legitimiert. Der Revisionismus hört niemals auf und das Blut trocknet nie. Der Angreifer wird bedauert und von seiner Schuld reingewaschen, während man „nach einem Sinn in dieser schrecklichen Tragödie sucht“. Stichwort Bob Dylan: „Oh, wo bist du gewesen, mein blauäugiger Sohn?“
Ich habe über die Begriffe “Anstand” und “Gutgläubigkeit” nachgedacht, als ich mir meine eigenen ersten Erfahrungen als junger Reporter in Vietnam ins Gedächtnis rief: Wie hypnotisiert beobachtete ich damals, wie Bauernkindern unter der Einwirkung von Napalm die Haut wie altes Pergamentpapier vom Körper fiel, und die Serien von Bomben, die versteinerte und mit menschlichem Fleisch behangene Bäume hinterließen. Der amerikanische Befehlshaber General William Westmoreland sprach von Menschen als „Termiten“.
In den frühen 70er Jahren kam ich in die Provinz Quang Ngai, wo in dem Dorf My Lai zwischen 347 und 500 Männer, Frauen und Kinder von amerikanischen Truppen ermordet wurden (Burns spricht hier lieber von „Tötungen”). Damals wurde das als ein Ausreißer dargestellt: eine „amerikanische Tragödie“ (Newsweek). In dieser einen Provinz waren schätzungsweise 50.000 Menschen dahin geschlachtet worden in der Epoche der amerikanischen „Frei-Feuer-Zonen“. Massentötungen. Das hatte keinen Nachrichtenwert.
Richtung Norden, in der Provinz Quang Tri, wurden mehr Bomben abgeworfen als in ganz Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Seit 1975 haben nicht explodierte Kampfmittel mehr als 40.000 Todesopfer gefordert, vor allem in “Südvietnam”, dem Land, das die Amerikaner zu „retten“ vorgaben und welches sie, zusammen mit Frankreich, als Teil einer überaus imperialistischen List konzipiert hatten.
Der “Sinn” des Vietnamkrieges unterschied sich in nichts vom Sinn des völkermörderischen Feldzuges gegen die Ureinwohner Amerikas, den kolonialen Massakern auf den Philippinen, den Atombombenabwürfe auf Japan und dem Niederbombardieren einer jeder Stadt in Nordkorea. Colonel Edward Lansdale, der berühmte CIA-Mann, nach dem Graham Greene die Hauptfigur seines Romans „The Quiet American“ entworfen hat, beschreibt das Ziel.
Lansdale erklärte, indem er Robert Tabers “The War of the Flea” zitierte: “Es gibt nur einen Weg, ein aufständisches Volk, das sich nicht ergeben will, zu bezwingen, nämlich: es auszulöschen. Es gibt nur einen Weg, ein Gelände zu kontrollieren, das Widerstand leistet, nämlich: es in eine Wüste zu verwandeln.“
Seitdem hat sich nichts geändert. Als Donald Trump am 19. September vor den Vereinten Nationen sprach – einem Gremium, das man ins Leben gerufen hatte, um der Menschheit „die Geißel des Krieges zu ersparen“ – erklärte er, er sei „bereit, willens und in der Lage dazu“, Nordkorea und seine 25 Millionen Einwohner „komplett zu zerstören“. Sein Publikum hielt den Atem an, doch Trumps Sprache war nichts Außergewöhnliches.
Seine Konkurrentin um das Präsidentenamt Hillary Clinton hatte damit geprahlt, sie sei dazu bereit, den Iran - ein Volk von über 80 Millionen Menschen - „völlig auszulöschen“. Das ist der „American Way“; nur die Euphemismen fehlen heute.
Bei meiner Rückkehr in die USA verblüfft mich die Stille und die Abwesenheit einer Opposition – auf der Straße, im Journalismus und in den Künsten, als ob der Dissens, der einst im „Mainstream“ toleriert wurde, sich nun in die Dissidenz zurückentwickelt hat: einen metaphorischen Untergrund.
Es gibt viel Lärm und Wut um und auf Trump, den Verhassten, den „Faschisten“, aber kaum Kritik an Trump als Symptom und Karikatur eines dauerhaften Systems von Eroberung und Extremismus.
Wo sind die Geister der großen Anti-Kriegs-Demonstrationen, die in den 70ern die Führung in Washington übernommen hatten? Wo ist die Entsprechung einer Anti-Atomwaffen-Bewegung, die in den 80ern die Straßen von Manhattan füllte und von Präsident Reagan den Abzug von nuklearen Kriegswaffen aus Europa forderte?
Die schiere Energie und moralische Beharrungskraft dieser großen Bewegungen war zum großen Teil erfolgreich; bis 1987 hatte Reagan mit Mikhail den Washingtoner Vertrag über nukleare Mittelstreckensysteme ausgehandelt, der quasi den Kalten Krieg beendete.
Geheimen Nato-Dokumenten zufolge, welche die “Süddeutsche Zeitung erlangt hat, wird dieses wichtige Abkommen wahrscheinlich aufgekündigt, da „die nukleare Zielplanung verstärkt“ wird. Der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat davor gewarnt, „die schlimmsten Fehler des Kalten Krieges zu wiederholen… All die guten Abkommen zur Abrüstung und Waffenkontrolle von Gorbatschow und Reagan sind akut bedroht. Europa ist wieder in Gefahr, ein militärisches Übungsgelände für Atomwaffen zu werden. Dagegen müssen wir unsere Stimme erheben.“
Nicht so in Amerika. Die Tausenden, die letztes Jahr im Präsidentschaftswahlkampf für Senator Bernie Sanders “Revolution” auf die Straße gegangen sind, bleiben angesichts dieser Gefahren kollektiv stumm. Dass die meisten der Gewalttaten auf der Welt nicht von Republikanern oder Mutanten wie Trump begangen wurden, sondern von liberalen Demokraten, bleibt ein Tabu.
Barack Obama hat dem Ganzen die Krone aufgesetzt: Er führte sieben Kriege gleichzeitig – ein präsidentieller Rekord – und zerstörte mit Libyen einen modernen Staat. Obamas Sturz der gewählten Regierung der Ukraine hatte den gewünschten Effekt: den massenhaften Aufmarsch US-geführter NATO-Streitkräfte in Russlands westlichem Grenzland, durch welches 1941 die Nazis einmarschierten.
Obamas “Hinwendung nach Asien” im Jahr 2011 gab das Signal für den Transfer eines Großteils der amerikanischen Marine- und Luftstreitkräfte nach Asien und zum Pazifik, mit dem einzigen Zweck der Konfrontation und Provokation Chinas. Der weltweite mörderische Feldzug des Friedensnobelpreisträgers ist wohl der umfassendste terroristische Einsatz seit 9/11.
Die Kräfte, die in den USA als “die Linke” firmieren, haben sich tatsächlich mit den dunkelsten Untiefen institutioneller Macht eingelassen, allen voran mit dem Pentagon und der CIA, um ein Friedensabkommen zwischen Trump und Wladimir Putin zu zerschlagen und Russland wieder als Feind zu setzen, auf der Grundlage seiner Einmischung in den Präsidentschaftswahlkampf von 2016, für die es keinerlei Beweise gibt.
Der eigentliche Skandal ist die hinterhältige Machtergreifung finsterer kriegführender Eigeninteressen, die kein Amerikaner gewählt hat. Der rasche Aufstieg des Pentagons und der Überwachungsbehörden unter Obama stellte eine historische Machtverschiebung in Washington dar. Daniel Ellsberg nannte sie zurecht einen Staatsstreich. Die drei Generäle, die hinter Trump stehen, bezeugen dies.
All dies will in diese “liberalen Gehirne, die im Formaldehyd der Identitätspolitik eingelegt wurden“, wie es Luciana Bohne denkwürdig formulierte, nicht hinein. Zur Ware gemacht und markterprobt ist „Identität“ die neue liberale Marke, nicht die Klasse, der Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht und ihrer Hautfarbe, dienen: auch nicht unser aller Verantwortung, einen barbarischen Krieg, ja alle Kriege zu beenden.
“Wie um aller Welt ist es nur so weit gekommen?”, fragt Michael Moore in seiner Broadway-Show Terms of My Surrender, einem Varieté für die Unzufriedenen mit Trump als Big Brother im Hintergrund.
Ich habe Moores Film Roger & Me bewundert, der von der ökonomischen und sozialen Verheerung seiner Heimatstadt Flint in Michigan handelt, und auch Sicko, seine Analyse der Korruption im amerikanischen Gesundheitswesen.
An diesem Abend sah ich seine Show, und sein Friede-Freude-Eierkuchen-Publikum jubelte über seine Versicherung, dass „wir die Mehrheit sind!“ und seine Aufrufe, „den Lügner und Faschisten Trump seines Amtes zu entheben!“. Seine Botschaft schien zu heißen, hätte man sich die Nase zugehalten und Hillary Clinton gewählt, wäre das Leben wieder vorhersehbar.
Er mag recht haben. Statt die Welt nur zu beschimpfen, wie Trump es tut, hätte die Große Auslöscherin vielleicht den Iran angegriffen und Raketen auf Putin geschossen, den sie mit Hitler verglichen hat: eine besondere Obszönität angesichts der 27 Millionen Russen, die durch Hitlers Invasion starben.
„Jetzt hört mal zu“, sagte Moore, „mal abgesehen davon, was unsere Regierungen tun, liebt man die Amerikaner in der Welt!“
Es herrschte Stille.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel "The Killing of History. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ebenfalls ehrenamtlichen Rubikon-Lektoratsteam lektoriert.