Mit Herz und Verstand
Gewachsene Freundschaften sind ein guter Nährboden dafür, gemeinsam Visionen für eine bessere Welt zu entwickeln.
Unser Verstand hindert uns nicht daran, an dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen. Dennoch versteifen wir uns darauf, unseren Kopf als obersten Wegweiser gelten zu lassen. Dabei ist es das Herz, dessen verbindende Kraft uns aus einer Situation herausführen kann, die unser aller Leben bedroht. Gerade alte Freunde geben uns die Möglichkeit, Differenzen zu überwinden und gemeinsame Visionen für eine bessere Zukunft zu entwickeln.
Alte Freunde sind im Leben ein Schatz. Sie begleiten uns über Jahrzehnte, vielleicht seit der Kinderzeit. Die über lange Zeit gewachsenen Bindungen überleben Differenzen und Auseinandersetzungen und lassen sich nicht einfach ablegen wie ein alter Hut. Sie gehören sozusagen zur Familie. Auch wenn gelegentlich Türen knallen und Abteile gewechselt werden, reisen wir im selben Zug weiter.
In alten Freundschaften kann sich unsere eigene Entwicklung besonders deutlich spiegeln. Sie sind Indikatoren dafür, wie wir uns verändern: „So hast du früher nicht geredet“, „Was sind denn das für neue Sachen?“. Wir schreiten nicht im Gleichschritt voran und folgen nicht denselben Rhythmen. Und manchmal kommen wir nicht mehr miteinander mit. Wir fühlen uns unverstanden, verunsichert, abgehängt und verletzt, wenn der andere nicht mehr wie gewohnt neben uns spaziert.
Eine besondere Herausforderung
Meine alten Freunde haben es nicht leicht mit mir. Sie sahen mich mit einem Koffer und einem mittellosen Opernsänger ins Ungewisse ziehen und nahmen mich wieder auf, nachdem dessen ozeanische Liebe in den Armen meiner mexikanischen Freundin gestrandet war. Sie sahen, wie ich in letzter Sekunde eine Verbeamtung und lebenslange Absicherung in den Wind schoss und allein in Frankreichs Süden zog. Sie erlebten, wie ich nach einer Krebserkrankung nicht nur die konventionelle Medizin, sondern auch das gesellschaftliche System insgesamt in Frage stellte — und damit unser aller Art zu leben.
Das geht ans Eingemachte und wird entsprechend lebhaft diskutiert. Es sind nicht die Argumente, die uns immer wieder an einem Tisch zusammenbringen. Der Verstand ist hier kein guter Vermittler, denn er will Recht haben: So wie ich die Dinge sehe, so ist es richtig. Der Verstand analysiert, interpretiert und urteilt. Er erhebt sich und marschiert gegen die Meinung des anderen auf. Wird ihm ein Ball zugespielt, nimmt er ihn auseinander — vergessend, dass es sich um ein Spiel handelt, das am meisten Spaß macht, wenn die Bälle so geworfen werden, dass der andere sie fangen kann.
Trennung von Denken und Fühlen
Doch in unserer Zivilisation genießt der Verstand ein hohes Ansehen. Hat sein Aufflammen nicht das Wilde, Unberechenbare in uns domptiert? Sind Vernunft und Aufklärung nicht Garanten dafür, dass wir uns nicht ständig die Köpfe einschlagen und uns gegenseitig respektieren? Haben Logik und Kalkül uns nicht den technischen Fortschritt gebracht, der uns heute das Leben so bequem macht?
Im Laufe der vergangenen Jahrhunderte haben wir verlernt, uns auf etwas anderes zu verlassen als auf das rationale Denken. Allein die Vernunft könne erkennen, was Wirklichkeit und Wahrheit ist. Für Descartes, Spinoza und Leibnitz waren Sinneseindrücke dunkel und täuschungsanfällig. Für Kant waren sie immerhin eine Quelle der Erkenntnis, während für Schopenhauer nur der Verstand dazu in der Lage ist, aus dumpfen Empfindungen heraus kausale Zusammenhänge abzuleiten und zu einer objektiven Weltanschauung zu gelangen.
Wir wissen heute, dass Subjekte keine Objektivität erzeugen können und dass es neben der logisch-rationalen noch jede Menge andere Formen von Intelligenz gibt.
Die moderne Physik hat erkannt, dass sich in unserem Universum die Dinge nicht brav auf einer Linie anordnen und uns den Gefallen tun, auf A stets B folgen zu lassen. Je weiter unsere Forschung voranschreitet, desto deutlicher wird, dass das Lebendige in so hochkomplexen Systemen miteinander vernetzt ist, dass wir es kaum erfassen können.
Fatale Sturheit
Der rationale Geist, auf den wir so stolz sind, hat uns dahin geführt, heute von Kindern und Jugendlichen angeklagt zu werden, ihnen ihre Zukunft und ihr Leben zu rauben. Doch wir bleiben hartnäckig auf Linie. Während uns allen zusammen das Wasser bis zum Hals steigt, diskutieren wir darüber, ob Greta eine Heilige oder eine Marionette ist. Wir richten Labore ein, nehmen Proben von der globalen Zerstörung, legen Ordner und Statistiken an und beschäftigen uns vor allem damit, wie wir die Probleme, die wir geschaffen haben, verwalten.
Unser Erfindungsgeist läuft zu Hochtouren auf, wenn es darum geht, uns davon abzulenken, dass wir mit unserem Latein am Ende sind. So lang schon ist es her, dass der Kopf vom Rest des Körpers (ab-)getrennt worden ist. Bezeichnenderweise endet das Zeitalter der Aufklärung — das alle den Fortschritt behindernden Strukturen überwinden wollte — mit der Erfindung der Guillotine. Fortan übernimmt die Maschine die unbequemen Aufgaben und macht den Weg frei für das unbegrenzte Wachstumsdenken, das uns heute mit unserer eigenen Auslöschung konfrontiert.
Die Logik eines Systems, in dem die auszubeutenden Ressourcen umso wertvoller sind, je knapper sie werden, wird dabei nicht in Frage gestellt. Der Glaube an den Fortschritt bleibt der Apostel unserer zu Ende gehenden Zivilisation. Unsere Intelligenz hält uns nicht davon ab, die Probleme stur mit den gleichen Mitteln lösen zu wollen, mit denen sie herbeigeführt wurden.
Verlorener Überblick
Um aus dem Schlamassel herauszukommen, müssen wir es anders machen als jener Mann, der bei Nacht seine Schlüssel unter der Laterne sucht. Als jemand vorbeikommt und ihn fragt, wo er sie denn verloren habe, antwortet er: „Ich weiß nicht, aber hier sieht man am besten.“ Wir müssen in die Dunkelheit hinein, in das Unberechenbare, Unkontrollierbare, wenn wir Lösungen für unsere Probleme finden wollen. Die Philosophen der Vernunft sind hier keine guten Wegweiser. Denn sie interessierten sich nicht für den Teil in uns, der die gesamte Situation beleuchten kann: unser Herz.
„On ne voit bien qu’avec le coeur — wir sehen nur mit dem Herzen gut“, schrieb Antoine de Saint-Exupéry im Kleinen Prinzen. Tatsächlich liegt in der Embryogenese das, was unser Herz wird, vor dem, was unsere Augen werden. Was der Verstand zerteilt, bringt das Herz zusammen.
Wenn der Verstand sich im Detail verliert, behält das Herz den Überblick über die Zusammenhänge. Wo der Verstand sich über andere erhebt, umarmt das Herz.
Der Verstand ist es, der uns zuflüstert, dass wir zu viele seien und eben nicht alle von unserem Kuchen essen können. Doch Menschen, die sich selbst auf der richtigen Seite wähnen und andere verdursten, verhungern, ertrinken, verbrennen und von Bomben zerfetzen lassen — die Anderen haben eben Pech gehabt — , solche Menschen haben nicht nur den Zugang zu ihrem Herzen verloren, sondern auch zu ihrem Verstand.
Sie haben nicht begriffen, was wir täglich vor Augen geführt bekommen: Wir sind Teile eines Ganzen. Wenn sich ein Teil bewegt, hat das Konsequenzen für das Gesamte. Was wir anderen Lebewesen antun, kommt zu uns selbst zurück. Ganz sicher. Solange wir das ignorieren, solange wir keinen Zusammenhang zwischen den Kriegen in dieser Welt und unserem eigenen Verhalten sehen, solange wir uns getrennt von unserer Umwelt sehen, wird die Zerstörung weiter voranschreiten.
Einer für alle, alle für einen
Entweder werden wir allein — jeder für sich — als Idioten untergehen oder gemeinsam überleben. Hierzu müssen wir Kopf und Rumpf, Herz und Verstand, Denken und Fühlen zusammenbringen und Hand in Hand gehen lassen. So kommt das zum Wirken, was wir „gesunden Menschenverstand“ nennen. Diese Art von Intelligenz hält uns davon ab, an dem Ast zu sägen, auf dem wir sitzen. Der gesunde Menschenverstand beugt sich nicht dem Diktat von Wachstum und Fortschritt, sondern schützt das Lebendige. Vor allem aber lässt er sich nicht einreden, dass wir nichts machen können, um das Steuer in eine andere Richtung zu drehen.
Der gesunde Menschenverstand lässt uns in die Hände spucken und die Ärmel hochkrempeln. Er treibt unsere kranken Körper aus den Sesseln hoch und von den Bildschirmen weg auf die Straße. Er lässt die Energien nicht in Selbstgerechtigkeit verpuffen, sondern nährt Visionen, in denen wir es zusammen schaffen können. Er schickt uns hinaus auf das weite Feld der Möglichkeiten, auf dem wir die Bulldozer anhalten und Bäume pflanzen, Blumen, Kräuter, Obst und Gemüse. Hier erfahren wir, wie viel Spaß es macht, zusammen zu spielen und eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Gute alte Freundschaften sind eine wunderbare Gelegenheit, das zu versuchen.