Mit Gott gegen den Sinnverlust
Ein Roman über eine beklemmende Welt, in der jeder einzelne Schritt eines jeden Bürgers kontrolliert wird. Doch es gibt Hoffnung: Gott hat sich endlich auf die Seite der Unterdrückten geschlagen.
Autoren sind herzlich eingeladen, Kurzgeschichten oder Roman-Auszüge an den Literatursalon des Rubikon zu senden: literatur@rubikon.news. Auch Teer Sandmann hat sich mit seinem literarischen Projekt an unsere Redaktion gewandt und wir freuen uns, in dieser Folge des Literatursalons sein Debüt zu veröffentlichen.
Golo spaziert oder Das Land der sicheren Freiheit
von Teer Sandmann
Die folgenden Auszüge entstammen einem in sich geschlossenen Buch-Projekt, das man weder als Roman noch als Kurzgeschichten-Sammlung bezeichnen kann. Es ist eher eine Art Text-Mosaik, das in einer fiktiven Form die heutige Gesellschaft reflektiert. Die zentrale Figur Golo lebt in einer Welt, die unschwer als Spiegelung heutiger politischer Zustände erkennbar ist, mal hyperrealistisch, mal surreal verzerrt. Für die Einwohner dieser Gesellschaft ist freies Gehen limitiert (15 Kilometer jährlich), denn Gehen stimuliert das Gehirn und könnte zu Gedanken führen, die nicht erwünscht sind. Golo begreift sich selbst als letzten Flaneur und weiß, dass er bedroht ist. Von Drohnen, Scannern und der Sicherheit. Seine tägliche Suche nach Freiheit hält ihn am Leben, obgleich sie ihm nicht gut bekommt.
Weitere Bausteine des Textes sind u.a. vortragsartige, fiktive wissenschaftliche Rückblenden auf unsere Gegenwart, eine unter eine Decke kriechende Ich-Figur, die nachdenkt, und vor allem Gott, der sich, auf einem Wolkensofa sitzend, größte Sorgen um sein Projekt Menschheit macht und ab und an versucht, einzugreifen. So tötet er Staatsanwälte, Politiker und Journalisten. Zumeist mit einem Blitz.
Der Text erprobt über Golo, Gott und die weiteren Sprechfiguren unterschiedliche Formen der Widerrede und des Widerstandes. Und er testet, was in neoliberalen Zeiten, in denen die Freiheit zur Zahl wird und der Mensch zur digitalisierten Konsummaschine, noch gesagt werden kann, was nicht.
Nachdenken unter der Decke
Bevor ich starte mit meiner Vernichtung, gänzlich aufstarte, so muss ich ja wohl sagen, krieche ich unter die Decke. Denn ich muss von einer Erfahrung erzählen, die sonderbar ist. Ich stoße, also ganz im Leben draußen, real meine ich, auf einen interessanten Gedanken, verfolge den und treffe auf einen Autor, den ich nicht kenne. Ich gebe den Namen ein im Internet und sehe bei Wikipedia: Verschwörungstheoretiker. Ich treffe auf einen ganz anders gearteten Gedanken sodann, womöglich im Kern gar gegenläufig, aus anderen Zusammenhängen und anderen Prämissen heraus konzipiert, gehe ihm nach und stoße auf einen Autor, folge dem Namen und finde bei Wikipedia den Eintrag: Verschwörungstheoretiker. Ich stoße sodann auf einen pazifistischen Gedanken, gehe dem nach, treffe auf den Autor, der von Linksaußen kommt, wie gesagt wird, und lese bei Wikipedia: Verschwörungstheoretiker. Und dann treffe ich einen, der aus der rechten Ecke kommt, und am Ende ist es wieder ein Verschwörungstheoretiker. Dann stoße ich auf einen Wissenschaftler, der in seiner Doktorarbeit Geheimarmeen der Nato belegt. Bei Wikipedia ist es ein Verschwörungstheoretiker. Dann auf einen Physiker, der die offizielle Erklärung für den Einsturz des dritten Turms bei 9/11, jenes so genannten WTC 7, aus physikalischen Gründen für nicht plausibel hält: ein Verschwörungstheoretiker. Dann auf einen Arzt, der sich nicht nur in der Schulmedizin, sondern auch in östlichen Heilkunden auskennt und zum Impfen kritische Gedanken festhält: ein Verschwörungstheoretiker. Dann auf einen Journalisten, der etwas schreibt, das man nicht schreiben darf, und daraufhin seinen Job verliert. Die Begründung, wie ich in Wikipedia lese: ein Verschwörungstheoretiker. Es ist verhext: Jeder interessante Gedanke endet in einer Verschwörung, als führte eine verdeckte Hand Regie.
Das könnte man als Detail abtun. Wem allerdings das Etikett umgehängt wird, hat es nicht leicht. Nicht leicht, Gehör zu finden. Ja, überhaupt sprechen zu dürfen. Und das wiederum verstärkt naturgemäß das Verschwörerische an ihm. Er wird ausgeladen von allen, die sich eingenistet und genug haben von störenden Gedanken und einfach Ruhe wollen und Frieden.
Früher, bei den in Deutschland erfolgreichen Schisten etwa, gab es Listen. Mit dem, der darauf war, mit seinen Gedanken, musste man sich fortan nicht mehr beschäftigen. Er und seine Gedanken waren erledigt. Auch heute gibt es Listen. Zum Beispiel Pädophilenlisten, worauf sich etwa ein Pasolini und ein Novalis, lebten sie heute, wiederfänden. Und es gibt die Steuersünderliste, um den Zorn des Volkes zu glätten und es für den freien Handel und die Honorare der Fußballer bei Laune zu halten. Weiter gibt es Terrorlisten und eben auch die Verschwörungsliste. Wer auf solchen Listen steht aber, wie gesagt, mit dem muss man sich nicht mehr beschäftigen. Und da ist es eben praktisch, dass man alle, die stören, draufsetzt. Weitergehende Vernichtungsmaßnahmen sind oft nicht vonnöten. Der Eintrag genügt. Das Etikett, der Stempel. Wer auf der Liste steht, verliert Job und Aufträge. Die Quoten gehen aus. Dafür sorgen Google und die Presse. Und ich begreife: Denken ist Verschwörung. Die Liste merzt aus.
Ich bin unter der Decke und gehe der Erleichterung nach, die mich für Bruchteile von Sekunden nach dem Einschlag von Bomben erfasst. Dieses bruchteilartige Gefühl lote ich aus. Suche, woher es kommt, was es herbeiführt. Die Listen aber, das ist zu sagen in diesem Zusammenhang, fliegen mit, wenn alles in die Luft fliegt. Die Verschwörungen wohl auch, noch mehr aber ihre Kennzeichnung, der Stempel. Und auch das mag ein Grund sein, weshalb es mir schwerfällt nur Schlechtes zu sehen, wenn Bomben zünden. Aber wie gesagt, sowas kann ich nur unter der Decke sagen. Wer aber kriecht unter Decken? Was wohl ist nachzulesen bei Wikipedia über solche, die unter Decken kriechen? Wo nehmen Verschwörungen ihren Ausgang?
Wer hält einen Vortrag? Wer traut sich noch? Was sicher scheint: Es handelt sich um die Vortragsreihe am Donnerstag. In einem trüben, feuchten Kellerraum referiert ein Historiker über die Mechanismen der sicheren Freiheit. Als wäre die schon passé. Bis er verhaftet wird. Golo sitzt im Publikum.
„Das Böse“
Aus der Vorlesungsreihe "Das Land der sicheren Freiheit".
Kirchen, meine Damen und Herren, verloren im Land der sicheren Freiheit die Bedeutung und wurden verkauft. Investoren ließen sie zu luxuriösen Wohnhäusern umbauen. Aus Christi Himmelfahrt wurde der Vatertag, aus Weihnachten und Ostern, wie Sie wissen, die großen Konsumfeiern. Christliche Werte galten als diskriminierend und Religion als Hort von Hass. Das Heilige aber ging nicht verloren. Der metaphysische Glanz sprang auf Fußball und Einkauf über. Sportstätten, Shopping-Malls, Flughäfen und Autohallen waren die Sakralbauten. Und die tröstenden Worte kamen nicht von einem Priester, sie kamen von Stars. Heilig war nicht mehr der geschundene Leib Christi, heilig war der trainierte Leib eines Sportlers. Nach Bällen tretende und schlagende Gelenke und Muskeln wurden wie Reliquien behandelt. Lagen sie kaputt, verstaucht, gebrochen, so beugten sich Journalisten zu Tausenden über sie. Und fanden sich Zeichen der Heilung, wurde die frohe Botschaft in alle Länder verstrahlt. Es war nie bloß die Meldung, die hereinkam. Auf dem Bildschirm lag ein Glanz.
Eine Religion aber, meine Damen und Herren, kommt nicht ohne das Böse aus. Und wenn es nicht existierte, um es etwas pointiert zu sagen, müsste es erfunden werden. Wo aber war das Böse im Lande der sicheren Freiheit? Wie zeigte es sich, wie stellte es sich ein? Diesen Fragen widme ich mich heute, etwas überrascht darüber, dass wir den Raum noch immer haben, um ehrlich zu sein.
Nun, in der Tat, vom Bösen wurde gesprochen, es wurde benannt. Wenn Terroristen Bomben warfen, dann sprach man sogar vom absolut Bösen. Oder man sagte einfach: DAS Böse. Also mit Artikel. Und dass die Politiker wirklich den Teufel meinten, wenn sie das sagten, wurde im Grunde mehr noch durch die Art und Weise, wie sie sprachen, deutlich, als durch die Benennung selbst. So sprachen die Politiker mit scharfer und entschlossener, nicht selten aber bebender Stimme und einem Glanz in den Augen davon, die Bösen hart zu bestrafen. Nicht viele indes, das ist zu bedenken, fanden es gut, wenn Bomben fielen. Und für diese Wenigen waren die Worte eines bebenden Politikers kaum von Belang.
Die meisten fanden einen Terroranschlag schlecht. Und insofern ist zu fragen: An wen richtete sich die Botschaft, es sei hier das Böse am Werk? Nun, gerichtet war weder die Aussage, das absolut Böse sei am Werk, noch die Aussage, man werde hart bestrafen, an die, die die Bomben warfen. Für die nämlich war das Werfen von Bomben heilig und dass sie hart bestraft würden, davon gingen sie aus, und sie sahen darin die Notwendigkeit und den Wert ihres Handelns wohl mehr noch bestätigt. Im Grunde zielten die Worte der Entrüstung aufs Volk im Ganzen. Aufs Wahlvolk. Ein Anschlag nämlich war Anlass, die sichere Freiheit im Lichte der Missetat feierlich erstrahlen zu lassen. Wenn die, die gegen die sichere Freiheit Bomben warfen, böse waren, so war die sichere Freiheit, die derart bedroht wurde, allein deshalb gut, weil die, die sie bedrohten, schlecht waren. Und also sagten die bebenden Präsidenten und Kanzler und Premierminister und auch der bebende UNO-Generalsekretär im Grunde nicht, die anderen seien absolut böse, sondern sie sagten vielmehr: Wir alle sind gut. Und wir, als eure Repräsentanten, potenziert gut, weil wir ja eure Repräsentanten sind. Darüber hinaus aber verunmöglichte die Einstufung als absolut böse jeden Einspruch. Nicht gegen die Aussage, es sei böse, was geschehen sei, denn das stellte, wie gesagt, ohnehin kaum einer in Abrede, sondern gegen alle Maßnahmen, die das Gute zur Verteidigung gegen das Böse ergreifen musste.
Die rituelle Verwertung von Anschlägen stellte sicher, dass Angriffe gegen die sichere Freiheit stets und immer einer vernünftigen Debatte entzogen und mythologisch verklärt werden konnten. Das aber war die Voraussetzung, um alle, die sich gegen Freiheitsbeschneidungen wandten, im Lichte des Bösen mit erstrahlen zu lassen. Wer sich erhob, fand sich auf der Liste. Das war bestimmt ein genialer Schachzug der sicheren Freiheit. Keiner durfte mit Solidarität rechnen, der gegen die bebende Stimme eines Präsidenten ansprach. Denn sprach einer gegen dieses Beben an, verharmloste er den Anlass, der die Stimme zum Beben gebracht hatte. Und wer den verharmloste und nicht mitbebte, war selbst böse.
Dieser Mechanismus aber strahlte weit über einen Terroranschlag hinaus. Die Entrüstung war bestimmend bei allen Fragen. Bei Renten, Krankenkassen, bei der Frage, wer wen heiraten und wer mit wem Sex haben dürfe. Bei der Einwanderung, bei Steuern und überhaupt bei Allem. To like or not to like. Und weil hinter allem immer das Böse stand, das beim Terrorangriff lediglich in seiner gänzlich absoluten und teuflischsten Form auftrat, war dann auch böse, wer bei der Heiratsfrage oder der Flüchtlingsfrage oder der Steuerfrage oder bei der Bildung eine falsche Meinung vertrat und die Entrüstung nicht teilte. Böse waren zuletzt alle, die von der Linie abstanden, von der Zahl. So viel Böses wie im Land der sicheren Freiheit, glauben Sie mir, gab es kaum zuvor. Nicht einmal im strengsten Katholizismus.
So in etwa, meine Damen und Herren, wäre die Funktion des Bösen und der Entrüstung, die aus ihm hervorging, zur Zeit der sicheren Freiheit auf den Punkt zu bringen. Eine absolute, eine heilige Funktion. Wo das Böse herrscht, endet die andere Perspektive. Der Diskurs hört auf und mit ihm das Räsonieren. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit und hoffe, dass wir uns in einer Woche wiedersehen.
Hier kommt Golo. Er ist arbeitslos, spaziert durch Deutschland und sucht Caspar David Friedrich. Gehen aber ist eingeschränkt worden. Golo hat einen Mahnbrief der Polizei bekommen. Er ist zu viel gegangen. Strafe droht.
Warten beim Urologen
Golo weiß zuweilen nicht mehr weiter. Mit sich in diesem Land. Nicht nur, dass da, wo er sucht, das, wonach er sucht, nicht zu finden ist. Nein, suchen allein macht einsam. Sperrt ein. Auch weil das Terrain dafür immer kleiner wird. Gesetzlich kleiner. Und das macht krank. Und so sitzt Golo wieder in einem Wartezimmer. Ohne Hoffnung. Doch ist das Gehen beschränkt, bleiben nur Arztpraxen. Er ist beim Urologen heute. Ihm gegenüber, an der Wand sitzend, weitere fünf Patienten. Vier Männer, eine Frau. Mit Blasenleiden und Entleerungsproblemen. Ist anzunehmen. Allerdings schauen sie sachlich drein, lassen sich von den Leiden nichts anmerken. Bloß einer -es handelt sich naturgemäß um ein älteres Publikum hier- beschäftigt sich mit seinem Endgerät, die anderen lesen in Zeitungen und Magazinen. Und auch Golo greift, was er selten tut, in das Zeitungsmeer, das sich vor ihm auf einem niedrigen quadratischen Tisch in der Mitte des Raums ausbreitet. Namen wie Zeit und Welt und Spiegel liegen da herum. Auch Autobild, Motorsport und Stern. Die Auslage in den Arztpraxen allein, so denkt Golo, während er zugreift, stellt sicher, dass die Erzählung konstant bleibt. Verschwörungstheorien sind da keine anzutreffen. Und gehen Menschen auch kaum gesund aus Arztpraxen heraus, so hält man sie doch von kranken Gedanken fern. Golo greift also hinein und zieht die FAZ an Land, schlägt eine Seite auf und landet bei einem Artikel, einem erstaunlich langen, über den Antrag der demokratischen Parteien betreffs Beobachtung Gottes durch den Verfassungsschutz.
Eine Mehrheit, so liest Golo da, für den Antrag sei noch nicht gesichert. Zwar gebe es Zustimmung aus allen Parteien. Doch sei die Umsetzung selbst bei einer Zustimmung fraglich. Denn Juristen zweifelten, ob das Landesparlament überhaupt die Kompetenz habe, Gott beobachten zu lassen. Außerdem müsste noch geklärt werden, wie Gott aussähe, ja, wer er überhaupt sei. Man könne ja nicht beobachten, was man gar nicht erkenne. Und ein Abgeordneter der Liberalen habe die Frage gestellt, ob denn wirklich Gott gemeint sei und ob die Grünen und die Sozialdemokraten das nicht etwas eingrenzen könnten, zumal eine solche Überwachung ja Geld koste. Ein namentlich nicht genannt sein wollender Christdemokrat wiederum, langjähriges Mitglied eines transatlantischen Denktanks, verweist laut Artikel darauf, dass der amerikanische Geheimdienst bereits ein umfassendes Überwachungsprogramm betreibe. Es sei womöglich nicht nötig, selber Daten zu erheben. Vielmehr sei die Zusammenarbeit auszubauen. Die Grünen und die Sozialdemokraten dagegen bestehen auf einer eigenen Überwachung. Hinter der Kulisse, wie in einem nächsten Abschnitt berichtet wird, werde allerdings gemunkelt, man hätte Gott bereits gestellt. Oder aber sei ihm auf den Fersen. Ausschlaggebend hierfür sei eine Videoaufzeichnung aus der Wartehalle eines Flughafens. Die hätte die Spur eröffnet. Auch hier wollen Informanten nicht näher genannt sein.
Golo, wie er das alles liest, schwitzt. Er ist drauf und dran, das Blatt zurückzulegen, geht ihm die Lektüre doch nahe. Und doch liest er weiter. Und da steht: Es sei davon auszugehen, dass es Gott gar nicht gebe. So jedenfalls wird ein Sprecher des Bundesnachrichtendienstes zitiert. Hingegen sei man einem verdächtigen Subjekt auf der Spur. Einem Subjekt, das sich hinter Gott verstecke. An Texte sei man gelangt, die das belegen würden. Eine andere Quelle aus dem Nachrichtendienst hält allerdings an Gott fest, geht jedoch von einem Ghostwriter aus. Auch eine Troll-These steht zur Diskussion, und ein Abgeordneter der Grünen möchte klären lassen, ob es sich bei Gott nicht um eine Software handelt, einen Social Bot, der automatisch Texte generiere.
Golo überkommt die Hitze nun gänzlich. Seine Hände zittern, wie er die Zeitung dem Tisch zuführt. Das Blatt aus der Hand gebend und nach vorne gebeugt, wird er plötzlich der Menschen auf den Stühlen an der gegenüberliegenden Wand wieder gewahr. Vier Männer und eine Frau. Dass sie alle in diesem Augenblick ihn fixieren, seine zittrige Hand, mag Zufall sein oder Einbildung. Vielleicht denken sie an nichts. Oder, wahrscheinlicher, an ihre Beschwerden und PSA-Werte. Vielleicht aber, so überkommt es Golo in der gebeugten Haltung plötzlich, sind das gar keine Patienten mit urologischem Leiden. Nein, so schauen keine Gesichter drein, die ein urlogisches Leiden haben. Und bei der Vorstellung, auch der Arzt, den Golo eigentlich mag und der sich sogar als Anhänger der Jenaer Romantik entpuppt hat -Bilder von Novalis und den Schlegels, Stiche des alten Jena und Weimar an den Wänden der urologischen Praxis zeugen davon-, bei der Vorstellung, der Arzt sei Teil des Sicherheitsapparats, schießt Golo auf und verlässt die Praxis, nicht ohne sich an der Theke abzumelden, einen plötzlich auftretenden Termin vorschiebend.
Der Gang nach Hause wird nicht von seinem Gehkonto abgezogen. Arztbesuche sind erlaubt, sofern mit dem richtigen Code angemeldet. Golo beruhigt sich beim Gehen. Der Gedanke, dass ihm die Schritte nicht abgezählt würden, heitert ihn sogar etwas auf. An einer Ampel muss er warten und sein Blick bleibt jenseits der Straße an der Außenwand eines Gebäudes haften. Er liest die Inschrift, in überlebensgroßen Lettern aufgesprayt:
Gott ist ein Whistleblower.
Er sitzt im Gefängnis.
Lebenslang.
Gott ist aufgewacht und schaut auf Deutschland. Er steigt herunter und greift ein. Er tötet nacheinander Staatsanwälte, Politiker und Journalisten. Ohne nennenswerte Auswirkungen. Dann zieht er sich in den Himmel zurück. Auf sein Sofa.
Sofagedanken
Gott lag in eine Decke gewickelt und halb benommen auf seinem Sofa im Himmel. Was war aus den Menschen geworden, aus seinem Mensch! So fragte er sich verstört und verzweifelt, während er den Kopf immer wieder ins Kissen stieß. Der großangelegte Fußmarsch durch Wüste und Meer, so musste er einsehen, endet vor kleinen glatten Flächen. Touchscreens. Da schlagen sie die Zeit tot. Mit Passwörtern, Registrieren, Formularen und wieder Passwörtern. Lasst sie nur wählen und entscheiden. Bis zur Erschöpfung, bis zur Verblödung. So soll Mussolini gesagt haben. Lasst sie registrieren und buchen und kaufen und bewerten und wieder wählen und wieder kaufen und den Lieferstatus überprüfen. So dachte Gott, ermattet auf dem Sofa liegend. Auch ein Vernichtungslager, so kam ihm der Gedanke, lässt sich als Erfolgsgeschichte seiner Insassen erzählen.
Nun hatte er aber Staatsanwälte, Politiker und Journalisten getötet. Und es war richtig. Doch es reichte nicht. Gewiss, er hätte alle auslöschen müssen, die hetzten und jagten, die Sprache verkürzten und die Welt zur Zahl machten. Aber auch das hätte nicht gereicht. Woran bloß lag es, so fragte sich Gott, erneut mit dem Kopf gegen das Kissen schlagend. Irgendetwas, so dachte er betrübt, war an Adam und Eva falsch gestrickt. Die Biologie? Das Betriebssystem? Um das zu korrigieren allerdings: Was blieb anderes als eine erneute Sintflut? Und Gott warf die Decke ab, raffte sich hoch, saß nun aufrecht auf dem Sofa und schlug mit der Faust gegen den Kopf.
Wo immer er hinkam, sprachen die Menschen von der Komplexität. Ungeheuer komplex sei sie geworden, die Welt. So sprachen sie, ihre Endgeräte umklammernd. In den 70ern noch hatten die Menschen mit LSD und Pilzen experimentiert. Es ging um Transzendenz. Wo aber war der Wechsel, der Übergang? Vielleicht war es die Technozeit, als man durch Nächte tanzend sich dem Tag entzog. Hallen voller Menschen bewegten sich zu Rhythmen, erzeugt von Apparaten, auf und ab. War dies das letzte Aufbäumen? Oder schon der Endsieg? Im neuen Jahrtausend standen die Leute nur noch herum, wippten allenfalls leicht mit der Hüfte, waren im Grunde aber erstarrt. Sie wussten nichts mehr mit sich anzufangen. Und so hörten sie auf zu tanzen und klammerten sich an Geräten fest. Aus Transzendenz war Transparenz geworden und so sah man sie überall. Auf kleine Flächen starrend. In Parks, an Haltestellen, in Restaurants. Und hätte sie nicht gewusst, das ist ein Erlebnis, dieses Starren, sie wären wohl ausgerastet und hätten die Geräte zertrümmert. So dachte Gott bei sich, noch immer mit der Faust gegen den Kopf hämmernd. Aber es fehlte die Kraft. Komplexität macht müde.
Er hatte die Menschen gesehen. Seine Menschen. Umgeben von Gütern. Am Rhein bei der Südbrücke. Sie standen am Ufer. Vor ihnen Kanalfrachter mit Containern, über ihnen die Brücke mit Güterzügen voller Container, im Rücken Lastwagen mit Containern und ab und zu ein Flugzeug im Landeanflug. Sie standen oder lagen auf einer Wiese und schauten zu. Manche filmten mit dem Endgerät. Und eine Erregung ergriff sie, eine indes, die sie sedierte. Es war, wie Gott zu erkennen glaubte, Schwindel, was im Kopf ansetzte und sich langsam hinab zwischen die Beine schob. Ja, sie befriedigen sich selbst, so dachte Gott, am Rhein die Menschen beobachtend. Die Güter waren sie. Nichts weiter. Sie selbst verschoben sich. Vor, neben, über und hinter ihnen. Das und nichts anderes enthüllte ihr Blick. Apathisch, autistisch. Nicht frei von Sehnsucht indes. Die Container waren der Teil ihrer selbst, der in Bewegung verblieben war. Der Teil, der das Reisen noch kannte, den Weg als Ziel. Es war diese Bewegung die letzte Reibung an ihnen selbst, fast nahtloses Gleiten schon, und doch Reibung noch. Als letzte Reibung aber versetzte der Güterfluss die Menschen in eine Erregung, von der sich kaum sagen ließ, war sie Bestandteil des toxischen Rauschens schon oder aber der letzte Widerstand dagegen.
Ja, er hatte auch Ameisen gemacht, so sagte Gott zu sich, nun wieder liegend auf dem Sofa im Himmel. Die Decke übergezogen und mit Kopfschmerzen. Doch er hatte bewusst Ameisen und Menschen gemacht. Diese Differenz, so musste er nun aber einsehen bei seinem Besuch im Land der sicheren Freiheit, war aufgehoben. Bildungsprogramme und Testverfahren mit klingenden Namen ebneten aus, was er geformt hatte. Vielleicht hätte er besser von Anfang an nur Ameisen gemacht. Die Sprache aber, Krönung seiner Schöpfung, würde ohnehin bald gänzlich den Apparaten übergeben.
Teer Sandmann ist Doktor der Philosophie. In dieser Form ist es sein erster Versuch der Widerrede. Er lebt in Köln.