Mit dem Drachen leben
In Krisen liegt immer auch eine Chance.
In unserer von technologischen Erneuerungen geprägten Welt taucht immer wieder ein Wesen aus der Zeit der Mythen, Legenden und Märchen auf: der Drache. Heute hat er seine Rolle als todbringendes Ungeheuer weitestgehend hinter sich gelassen und erscheint immer mehr als ein Begleiter, der uns dazu ermutigt, unsere Grenzen zu überschreiten. Er kann uns dabei helfen, in unserer Entwicklung ein Stück weiterzukommen, auch wenn er sich nach wie vor in schreckenseinflößendem Gewand präsentiert.
Reptil, Vogel, Raubtier? Monster oder Glücksbringer? Der symbolische Gehalt des Drachen, dieses geflügelten Fabelwesens, das uns seit Beginn unserer Existenz begleitet, ist von jeher zwiegespalten. Hier symbolisiert er die Auseinandersetzung des Heiligen mit dem Bösen, dort kaiserliche Macht. In vielen unserer Mythologien zeugen Urmutter und -vater Wesen wie Titanen, Riesen oder Drachen, die besiegt werden müssen, damit die Erde bewohnbar werden kann.
Das Drachenblut als eine Art nährender Urquell also, der das Leben auf unserem Planeten erst möglich macht. In unseren Entstehungsmythen und Legenden sind demnach Chaos und Finsternis notwendig, um einen Schritt in unserer Entwicklung weiterzugehen. Ohne das Aufbrechen einer harten Schale oder das Durchqueren eines engen und dunklen Tunnels gibt es kein neues Leben. Hier müssen wir immer wieder hindurch, um in unserer Entfaltung vorankommen zu können.
Auf ins Abenteuer
Der durch Phantasiefilme und Mangas populär gewordene Drache symbolisiert heute eine Kraft, die mit uns ist.
Vom bösartigen Ungeheuer wurde er zur personifizierten Herausforderung, mit deren Überwindung wir unsere Fähigkeiten erweitern können. Er wurde sozusagen zu einem Partner, der uns dabei hilft, unsere eigenen Grenzen zu überschreiten.
Wie in den alten Mythen ist er der Hüter eines verborgenen Schatzes, an den wir nur herankommen, wenn wir uns in Bewegung setzen.
Wenn der Drache sein Feuer speit, wird es ungemütlich. Das Feuer scheucht uns hoch aus dem Gewohnten, Eingefahrenen, Alltäglichen. Es treibt uns in eine Richtung, die wir bisher vielleicht nicht wahrgenommen haben. Und es leuchtet uns den Weg, wenn wir uns verirren. Der Drache meint es gut, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht. So habe ich es erfahren.
Alte Häute abstreifen
Mein Drache hatte die Gestalt eines Tumors. Auch wenn er heute überwunden ist, hängt die Möglichkeit seiner Wiederkehr wie ein Damoklesschwert über meinem Kopf. Ich habe dieses Schwert in die Hand genommen. Nicht, um den Drachen zu töten. Er ist ja nicht mein Feind. Er ist mir nützlich, denn er hält mich wach und kann mich zu dem führen, was wesentlich und wichtig ist in meinem Leben.
Ich habe das Schwert in die Hand genommen, um zu beginnen, das von mir abzustreifen, was hart und verkrustet ist, was mich unnachgiebig, unflexibel und krank macht. Gesundheit bedeutet In-Fluss-Sein, Gleichgewicht, Harmonie. Krankheit ist Blockade, Ungleichgewicht, Unterbrechung. Mein Schwert dient mir dazu, all das aus dem Weg zu räumen, was die Energie daran hindert zu fließen.
Es sind nicht die Hindernisse, die mir die Ereignisse oder andere in den Weg legen, sondern meine eigenen inneren Widerstände, die mir zu schaffen machen: meine Unnachgiebigkeit zum Beispiel, meine Dickköpfigkeit, meine Eitelkeit, mein Irrglauben, es besser zu wissen. Sie hindern die Dinge daran, in Fluss zu sein. Sie machen mich schwer und undurchdringlich.
Die Stärke hinter der Schwäche
Ich stelle mir also vor, wie dieses Schwert, das mich daran erinnert, dass mein Leben in jeder Minute zu Ende sein kann, mir dabei hilft, leichter zu werden, durchlässiger, transparenter. So bin ich bereit, meinem Drachen gegenüberzutreten. Aus den alten Erzählungen weiß ich, dass es nicht die draufgängerischsten, lautesten und wagemutigsten Ritter sind, die an den Schatz kommen und die Prinzessin heiraten. Es sind die etwas Ungeschickten mit dem reinen Herzen.
Diejenigen, die zu dem vordringen, was der Drache verbirgt, sind die, die zweifeln, die stolpern und sich verirren, die menschlichsten also unter den Rittern. In dem Moment, in dem sie nicht mehr weiterkönnen, in dem alles verloren scheint, öffnet sich eine Tür.
Eine Fee erscheint und zeigt dem Suchenden die Möglichkeiten, die er bisher nicht erkannt hatte. Im Anerkennen seiner Schwäche findet der Ritter den Schlüssel zur Lösung seines Problems.
Mit Mut und Demut
Erst im Gefühl der Hilflosigkeit findet der Suchende den Zugang zu seinem Potential. Das Problem kann erst dann wirklich und wahrhaftig überwunden werden, wenn die eigene Begrenztheit wahrgenommen und akzeptiert wird. Die Lösung offenbart sich nicht dem, der mit stolzgeschwellter Brust voranschreitet, sondern dem, der sich zum rechten Zeitpunkt zu beugen weiß.
Um durch die dunklen Passagen und Tunnel, denen wir immer wieder begegnen, hindurchzukommen, müssen wir flexibel und biegsam sein. Wir müssen bisweilen den Kopf einziehen, wenn wir keine Beulen bekommen wollen. Erst wenn wir auf der anderen Seite der Erfahrung und also auf einer höheren Bewusstseinsebene angelangt sind, können wir uns wieder zu unserer vollen Größe aufrichten.
Jede Krise, die wir durchqueren, fordert somit nicht nur unseren Mut heraus, sondern auch unsere Demut. Erst wenn der Ritter sich vor dem verneigt, was grösser ist als er, erschließt sich ihm, was in ihm steckt.
In diesem alchimistischen Prozess wird ihm das Geschenk bewusst, zu dem ihn der Drache geführt hat.
Mir hilft diese Vorstellung im Kleinen wie im Großen, ob bei den Querelen des Alltags oder beim Durchqueren existentieller Lebenskrisen. Was ihm auch begegnet: Der Ritter ist niemals ohne Möglichkeiten. Er hat immer die Wahl. Mag er sich auch hilflos und verlassen fühlen, schwach und dem Tode nah: Im Schlimmsten kann er sich immer dafür entscheiden, sich zu verneigen. So kann er unversehrt durch den Tunnel und auf die andere Seite gelangen.