Mit aller Gewalt
In seiner Spätphase konzentriert sich der Kapitalismus auf die Organisation schöpferischer Zerstörung — sie macht auch vor der menschlichen Seele nicht Halt. Teil 2 von 4.
Als denkendes und planendes Wesen ist der Mensch zur Aktivität verdammt. Alles andere ist wider seine Natur, Passivität ist ihm fremd. Er handelt, um sich zu artikulieren, seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, Dinge zu erschaffen, sich geistig zu entfalten, ausgelastet zu sein, und er sucht nach Beschäftigung, die ihn herausfordert. Enge, Inaktivität, Monotonie und Hilflosigkeit reizen ihn eher. Enttäuschungen, anhaltender Frust und ständige Kontrolle machen ihn aggressiv. Das äußert sich in unterschiedlichen Varianten der Gewalt. An diesem Punkt zeigt sich die Gefährlichkeit des Menschen. Sie ist ein Grundbaustein der Zivilisation und im 21. Jahrhundert für die Diktatur des Profits eine wertvolle Ressource. Ihre Nutzung sichert politische Macht, garantiert wirtschaftliches Wachstum und verspricht Arbeit und Wohlstand für all jene, die das „Projekt des Todes“ überleben.
Der im Dezember 2023 in Triest verstorbene Anarchist Alfredo Maria Bonanno (1) nutzte diese Formel, um den Kapitalismus zu beschreiben, der mit seiner wirtschaftlichen, sozialen und politischen Gewalt auf die Arbeiterklasse einwirkt. Die Arbeiter müssen ihre Arbeitskraft verkaufen, sind dadurch also wirtschaftlich abhängig von Lohnarbeit. Durch ihre Trennung von den Produktionsmitteln, die sich im Besitz der Kapitalisten befinden, können sie nicht mehr als freie und selbstbestimmte Individuen agieren. Daraus leiten sich die realen politischen Verhältnisse ab. Die Herrschaft wird von der Bourgeoisie ausgeübt, die ihre Interessen in Gestalt der Staatsmacht verteidigt.
Der friedliche Charakter
Aus dieser Konstellation ergeben sich Konsequenzen. Darunter die massenhafte Verarmung der Arbeiter bei voranschreitender Technisierung, die sie aus der Produktion verdrängt. In der industriellen Revolution wurde dieser Mechanismus sichtbar. In der digitalen Epoche findet er seine Wiederholung.
Die Bourgeoisie hat sich zu einem Finanzolymp verdichtet, der einen gigantischen Reichtum auf sich vereint. Ende 2022 besaß 1,1 Prozent der Weltbevölkerung rund 45,8 Prozent des weltweiten Vermögens. Die Arbeiterklasse ist schon weitestgehend verarmt. Über 52 Prozent der Weltbevölkerung, also mehr als vier Milliarden Menschen, teilen sich lediglich 1,2 Prozent des weltweiten Vermögens. Sie besitzen also praktisch nichts. Als Konsumenten fallen sie mehr oder weniger aus. Werden sie von der Automatisierung erreicht und als Produktivkräfte überflüssig, müssen sie darauf hoffen, dass die Herren der Welt ihrer nicht überdrüssig werden. Aber auch die Herrschaft muss die Gewalt fürchten, die aus der Armut geboren wird, sollten die natürlichen Kontrollmechanismen versagen.
Die Selbstregulation von Gefühlen und Stimmungen und die Fähigkeit, seine eigenen Handlungen willentlich zu kontrollieren, zeichnen den Menschen aus. Er ist ausdauernd, willensstark und kann sich sogar für Aufgaben motivieren, die beschwerlich sind oder sinnlos erscheinen. Durch Selbstkontrolle bringt er sein Verhalten in eine Balance mit seinen persönlichen Zielen, den Herausforderungen, denen er in seiner Lebensumwelt begegnet, und den akzeptierten Normen und Werten, die die Gesellschaft von ihm einfordert. Er passt sich an, beeinflusst sein soziales Umfeld und sucht in gewisser Weise nach Harmonie. Und dennoch hat selbst der friedlichste Charakter eine animalische Seite.
Aggression und Selbstkontrolle
Zahlreiche Theorien wurden aufgestellt, um das Phänomen der Aggression zu erklären. Alle Modelle sind ungenügend, auch deshalb, weil Gewalt zum einen keine Aggressivität benötigt, und zum anderen, weil Aggressivität in bestimmten Formen, die einem Regelwerk unterliegen, eine zwingende Voraussetzung ist. Ein Boxer wird ohne Aggression wohl kaum fähig sein, einen Kampf erfolgreich zu bestreiten. Ein Bombenleger mag sich vielleicht am Ergebnis seiner Tat berauschen, aber bei der Vorbereitung wäre Aggression sehr wahrscheinlich hinderlich.
An dieser Stelle wird Aggression deshalb neutral als Energie verstanden, die sich unter bestimmten Umständen als Gewalt manifestiert. Diese richtet sich gegen Dinge, die belebte Natur, andere Menschen oder den eigenen Organismus. Der Kapitalismus hat auch daraus eine Ware gemacht. Wer sein eigenes Antlitz nicht mehr erträgt, der kann es durch Schönheitsoperationen veredeln.
Ein einheitliches Muster, wann, wo, warum und wie Gewalt sich zeigt, ist nicht erkennbar. Alles kann, nichts muss. Dadurch erscheint der Mensch auf den ersten Blick wie ein Unsicherheitsfaktor. Dieses Manko wird entschärft durch seine Fähigkeit, die eigenen Handlungen, Gefühle und Stimmungen zu kontrollieren. In gewisser Weise zügelt er seine animalische Seite, die hin und wieder versucht, aus dem Kerker auszubrechen, der Zivilisation genannt wird.
Die Produktion von Gewalt
Physische Gewalt, zu der jeder Mensch fähig ist, findet die meiste Beachtung. Der Anblick des Schrecklichen strahlt Faszination aus und zieht die Zuschauer in ihren Bann. Die Medien machen daraus ein Geschäft und die Politik instrumentalisiert ausgewählte Taten, um entgegen der eigenen Befunde mehr Kontrolle und Überwachung der Bevölkerung zu fordern. Die Ursachen von Gewalt lindert das kaum.
In der Zusammenfassung „Polizeiliche Kriminalstatistik 2023“, im April 2024 auf der Webseite des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI) veröffentlicht, ist zu lesen, dass über 5,94 Millionen Straftaten durch die Polizei erfasst wurden (1). Im Vergleich zum Vorjahr sei das ein Anstieg um 5,5 Prozent. Die Gewaltkriminalität, die an dieser Stelle interessiert, stieg um 8,6 Prozent auf rund 214.000 Fälle an.
Weiter heißt es, dass die Zahl der Tatverdächtigen um 7,3 Prozent auf etwa 2.247.000 angestiegen sei und insbesondere auch „die Zahl der nichtdeutschen Tatverdächtigen“. Eine Zunahme von 13,5 Prozent (ohne ausländerrechtliche Verstöße) wird genannt. Auch die Kinder- und Jugendkriminalität wird gewürdigt.
„Im Vergleich zu allen Tatverdächtigen fällt auch bei Kindern und Jugendlichen der Anstieg mit 12,0 Prozent mehr tatverdächtigen Kindern und 9,5 Prozent mehr tatverdächtigen Jugendlichen deutlicher aus als in anderen Altersgruppen.“
Erst am Ende der Zusammenfassung werden die Risikofaktoren genannt, die für den Anstieg der Kriminalität wesentlich sind. Mit Blick auf Schutzsuchende heißt es:
„Dazu gehören insbesondere eigene Gewalterfahrungen durch Krieg, Terrorismus und Flucht, Traumata und psychische Belastungen sowie auch die Lebenssituation in Erstaufnahmeeinrichtungen.“
Angeführt wird außerdem die erhöhte Mobilität seit dem Frühjahr 2023. Durch sie würden sich mehr Tatgelegenheiten ergeben.
„Dies gilt auch für (ältere) Kinder und Jugendliche, die entwicklungsbedingt eine größere Neigung aufweisen, gegen Normen zu verstoßen und Straftaten zu begehen.“
Und dann kommt auf den Tisch, was zum einen mit den Kenntnissen korrespondiert, die in Psychologie und Soziologie seit einer gefühlten Ewigkeit im Zusammenhang mit Gewalt und Jugendkriminalität genannt wird, und zum anderen als Folge der „Corona-Maßnahmen“ zu erwarten war:
„Erstmals seit Jahren werden aktuelle wirtschaftliche und soziale Belastungen wie insbesondere die Inflation in der Bevölkerung als wesentliches Problem wahrgenommen. Dies korreliert mit der Zahl der Gewaltdelikte. (…) Insbesondere Kinder und Jugendliche haben mit erhöhten psychischen Belastungen als Folge der Corona-Maßnahmen zu kämpfen. Dies kann sich auch auf ihre Anfälligkeit, Straftaten zu begehen, auswirken. Kinder und Jugendliche waren von den pandemiebedingten Einschränkungen in besonderem Maße betroffen, etwa durch einen Mangel an sozialen Kontakten, Belastungen innerhalb der Familie und beengte räumliche Verhältnisse. Aktuelle Studien zeigen, dass die psychischen Belastungen zum Teil weiter fortwirken.“
Im Pool der Ursachen und Motive
Man kann also festhalten, dass Gewalt kein typisches Verhalten ist. Sie stellt eine Ausnahme dar, sonst müsste jeder jeden fürchten. Ohne ein Mindestmaß an Urvertrauen wäre weder das dauerhafte Zusammenleben in Familien, Gruppen oder Clans möglich, noch irgendeine andere Form von Gesellschaft, die ein Minimum an sozialer Nähe und Interaktion verlangt. Die konkrete Situation, eigene Erfahrungen und die sozialen Beziehungen, die einen Menschen prägen, sind für die Entwicklung von Aggressionen und der Verübung von Gewalttaten relevante Größen.
Frustration, Isolation, Lernprozesse, ökonomische und weitere soziale Einflüsse wie beispielsweise Armut und Ausgrenzung zählen zu den Ursachen. Furcht, Angst, Stress, Schmerz, Wut und Dominanz sind bekannte Gewaltauslöser. Alkohol und bestimmte Drogen senken die Hemmschwelle und verstärken die Aggressivität.
Außerdem wirken biologische und psychische Faktoren. Als bekannte Motive sind Hass, Gier, Neid, Eifersucht, Rache, Visionen, die Lust am Bösen sowie religiöse, ideologische und politische Aspekte anzuführen.
Aus diesem Pool, den das Herrschaftssystem auch konsequent selbst befüllt, schöpfen Vergewaltiger, Schläger, Messerstecher, Mörder und Terroristen. Die Herrschaft ihrerseits kann dadurch die Ausweitung seiner Gewaltstrukturen aus Armee, Polizei und so weiter begründen. Es gibt eine Besonderheit: Das Gewaltmonopol kann sich in ein Monstrum verwandeln und die Zivilisation bedrohen. Das hat unter anderem das Dritte Reich mit schrecklicher Eindeutigkeit gezeigt.