Menschen mit Mut

Wer aufrecht für die Wiederherstellung unserer demokratischen Rechte und Freiheiten eintritt, zeigt, dass es eine Alternative zum Mitläufertum gibt. Teil 4.

Der gelernte Groß- und Außenhandelskaufmann und selbstständige Unternehmer Andreas Mertens kam 1963 in Berlin zur Welt, wo er heute noch lebt. Mit Sport, Heavy Metal und Festivals beschäftigte er sich in seiner Freizeit früher sehr viel intensiver als heute. Jetzt sind es neben seiner Lebensgefährtin, seiner Tochter und seinem Hund vor allem die Friedensfreunde, mit denen er seine Zeit verbringt. Nicht nur die Organisation von Demos ist für ihn eine Herzensangelegenheit, auch in sozialen Projekten engagiert sich der Friedensaktivist seit einigen Jahren.

Andrea Drescher: Da wir uns aus der Friedensbewegung schon lange kennen, bleiben wir für das Interview beim Du?

Andreas Mertens: Ja — selbstverständlich.

Am 10. Oktober 2020 hast Du das erste Mal Interviews geben. Warum erst dann?

Stimmt nicht ganz, das erste habe ich der Springerpresse gegeben. 1994 — das war aber etwas Geschäftliches. Aber bis jetzt wurde ich auch nie gefragt, habe mich allerdings auch bewusst im Hintergrund gehalten. Ich stehe nicht gerne im Rampenlicht, wirke lieber im Hintergrund und überlasse anderen die Bühne. Ich bereite vor, organisiere, netzwerke, bringe Menschen zusammen — da habe ich meine Stärken. Am 10. Oktober war es dann aber nicht anders möglich. Da bin ich eben mit nach vorne.

Was war so besonders, dass Du nach vorne gegangen bist?

Alle aus der Orga waren woanders und ich war einfach dazu gezwungen, über meinen Schatten zu springen. Es waren zwei polnische Sender auf Denglisch, Epochtimes und der unabhängige Journalist Matthias Tretschog. Zu meiner eigenen Überraschung ging es flüssig und recht locker vonstatten. Ich brauche normalerweise eine vertrauensvolle Umgebung, um zu arbeiten. Da ich die Interviewpartner ja meist nicht kenne, ist das nicht so mein Ding.

Der Schweigemarsch war aber auch mit „mein Baby“, da fühlte ich mich von Anfang mit dafür verantwortlich. Also habe ich dann doch mein Gesicht gezeigt. Im Orgateam ist ein liebevoller Umgang, sehr vertrauensvoll, uns tragen oft die selben Gedanken — da ist es mir leicht gefallen, auch für die Gruppe zu sprechen.

Als es ums Schweigen ging, hast Du mit dem Reden angefangen.

Ja, schweigen ist nicht wirklich meine Sache. Aber als ich merkte, dass das Konzept des Schweigemarsches bei den Menschen so viel Anklang fand, dass die Menschen unsere Idee eines friedlichen Protestes angenommen haben — es waren viele tausend Teilnehmer da — war ich überwältigt. Die Menschen haben dem Orgateam applaudiert, die Polizei war mehrheitlich friedlich — zumindest die Kollegen aus Sachsen-Anhalt. Es gab extrem viel Zuspruch. Wir werden an dem Konzept dranbleiben, da Menschen erreicht wurden, die wir sonst nicht erreicht hätten, da sie sonst nicht auf eine Kundgebung gehen.

Das war aber nicht Deine erste politische Aktion? Seit wann bist du aktiv?

In meiner Jugend war ich als Westberliner in Bonn und habe gegen den NATO-Doppelbeschluss demonstriert. Im Hofgarten war es eine friedliche, liebevolle, versponnene und verkiffte (lacht) Stimmung — fast wie am 1. August 2020 in Berlin.

Und Dein weiterer politischer Werdegang?

Ich war immer ein Pendler zwischen den Welten.

Was heißt das, welchen Welten?

Ost- und Westberlin — ich bin mehrere Jahre gependelt.

Der Liebe wegen?

Ja, ganz genau! Ich war Anfang der 80-iger zu Besuch in Ostberlin. Ich war in Erichs Lampenladen — dem Palast der Republik, den sie ja leider jetzt abgerissen haben — und habe dort meine spätere Ehefrau kennengelernt. Ich war jung, neugierig auf Ostberlin und habe es mir einfach mal angeschaut. Am Bahnhof Zoo habe ich dann ein Dauervisum beantragt, mit dem man täglich ein- und ausreisen konnte, wobei man jedes Mal 25 Mark berappen musste.

Anfangs waren es vier Mal im Monat, meistens zum Wochenende, ab 1988 bin ich dann fast täglich gependelt. Geheiratet haben wir aber erst nach der Maueröffnung, die wir gemeinsam erlebt haben. Ihr Ausreiseantrag war schon gestellt. 14 Tage nach dem 9. November durfte sie offiziell ausreisen — mit allen Formalitäten. Zum gleichen Zeitpunkt habe ich mich selbstständig gemacht und bin seitdem in der Lebensmittelzulieferbranche tätig.

Seit 1991 lebe ich im Osten Berlins — mir liegen die Ostdeutschen inzwischen viel mehr als die Westdeutschen. Sie sind einfach humaner im Umgang. Ich habe das ganze Elend mitgekommen, dass die Ostdeutschen dann erleben mussten. Nach 1989 ging mein politisches Interesse aber aufgrund der Selbstständigkeit und der Familie zurück. Letztlich dachten wir alle, dass mit der Wende alles gut wird.

Einschneidend verändert hat sich mein Leben aber 2008 nach meiner Scheidung. Damals hatte ich 2000 Mitarbeiter bundesweit und es war richtig viel Stress. Innerhalb der Firma gab es aber Differenzen, sodass ich beruflich kürzer getreten bin und die Firma auf Berlin Brandenburg reduziert habe. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich politisch nicht viel hinterfragt. Erst mit dem arabischen Frühling, der im Dezember 2010 losging, wurde ich politisch richtig hellhörig. Letztlich hatte ich durch meine berufliche Veränderung endlich Zeit, diesen Dingen nachgehen zu können, sodass mir viele Ungereimtheiten auffielen.

Was fiel Dir denn auf?

Mir sind die ganzen Revolutionen im arabischen Raum viel zu bunt gelaufen. Nein, im Ernst.

Die Berichterstattung war fast durchgängig einheitlich. Guter Westen, böse Diktaturen, die wir retten müssen.

Es gab damals noch keine alternativen Medien beziehungsweise ich wurde nicht richtig fündig. Daher hat mein Interesse — leider — relativ schnell wieder nachgelassen. Und als ich das erste Mal vom dritten Gebäude in New York gehört habe, dachte ich noch, die spinnen. Das schau ich mir nicht näher an. Das habe ich damals nicht hinterfragt. Ich hatte doch die beiden Flugzeuge gesehen.

Ab November 2013 hat mich die Ukraine-Krise gedanklich dann aber in eine neue Richtung geschoben. Als ich die Bilder sah, mich mit der Situation in der Ukraine beschäftigte und merkte, wie unausgewogen die geopolitischen Interessen dargestellt wurden, habe ich mich dann in die alternativen Medien reingearbeitet. Da zerbrach mein Weltbild.

Was heißt zerbrechen?

Ich stellte fest, dass ich vorher Nachrichten viel zu unkritisch aufgenommen hatte. Ab diesem Zeitpunkt habe ich Medien gegenüber gestellt und gesehen, dass wir zu großen Teilen belogen werden. Ich habe einige Monate vor mich hin gepöbelt, mich privat zu Hause aufgeregt. Ich stieß auf Quellen wie KenFM, Nuoviso, Oliver Janich, Nachdenkseiten und einige andere.

Dort wurden geschichtliche Themen völlig anders dargestellt, als ich es in der Schule und den Medien gehört habe. Ich zweifelte jetzt an allem und wollte Kontakt zu Menschen aufbauen, die ähnliche Zweifel haben, wollte mich austauschen. Der Wendepunkt waren die Mahnwachen in Berlin. Die zweite Mahnwache am Brandenburger Tor war zwar komplett verregnet, aber ich musste hin, um mir die Menschen anzuschauen. Wer ist das eigentlich? Ich wusste nicht, was mich da erwartet.

Was hast Du dann gefunden?

Lars Mährholz stand mit seiner Boom-Box mit Mikrofon im strömenden Regen mit rund 100 Zuhörern. Ken Jebsen sprang aus dem Taxi, gesellte sich zu Lars, der eine bewegende Rede über das Finanzsystem, die NWO und den globalen Frieden sowie die Ukraine hielt, die die Menschen aufrüttelte. Ich konnte alles, was er sagte, unterschreiben, es gab riesigen Applaus. Dann folgte ein rastloser Ken Jebsen mit einer fulminanten Stakkato-Rede, die ebenfalls richtig gut war. Im Anschluss gab es eine Schweigeminute. Wildfremde standen im Kreis hielten sich an den Händen und schwiegen. Das hatte Wirkung auf mich. Keiner ging anschließend gleich weg, wir haben noch lange diskutiert und uns kennengelernt. Einige von den Menschen treffe ich heute wieder auf den Demos.

Inzwischen sind die Mahnwachen zwar leider Geschichte, aber es hat sich vieles daraus entwickelt. Gleichzeitig hat sich vieles, was wir damals befürchtet haben, im Laufe der Jahre bewahrheitet. Es sind sehr viele Verschwörungstheorien inzwischen in der Realität umgesetzt.

Was hat sich daraus entwickelt?

Ein Beispiel ist Pax Terra Musica, eine großartige Idee meines Schwagers Malte Klingauf, der das dann zum Glück — trotz aller wirtschaftlichen und persönlichen Risiken — auch gemacht hat. Dieses Friedensfestival habe ich von Anfang an mit unterstützt und freue mich, dass es 2021 hoffentlich wieder an den Start geht. Auch wenn nicht immer alles optimal lief, die Friedensbewegung ist in meinen Augen wichtig, für eine Neuorientierung in der Gesellschaft.

Du bist aber auch außerhalb der Friedensbewegung aktiv?

Ja, ein Herzensprojekt von meiner Lebensgefährtin und mir wurde 2015 umgesetzt. Wir haben die Winterhilfe am Alex mit ein paar Freunden ins Leben gerufen, da wir das Elend, die Not und die Verzweiflung nicht mehr ertragen konnten. In Berlin gibt es immer mehr Obdachlose und Bedürftige — letztere machen inzwischen fast den Löwenanteil aus. Also haben wir jede Woche den Alex mit warmen Mahlzeiten, belegten Broten und Kuchen sowie winterfester Bekleidung „besetzt“ und versuchen, den Leuten ein bisschen Hoffnung, Wärme und Anerkennung zu gegeben. Die Winterhilfe besteht bis heute.

Was lief denn in deinen Augen nicht gut in der Friedensbewegung?

Was mir immer wieder aufgestoßen ist, waren die ständigen Rechts-Links-Diskussionen. Das führte dazu, dass die Gräben immer tiefer wurden und das zwischen friedensbewegten Menschen. Das Ganze ideologisierte sich zunehmend, was zur Spaltung geführt hat. Die Mahnwachen wurden kleiner, die Visionen sind ausgegangen, sodass ich mich 2019 wieder aus dem aktiven Tun zurückgezogen habe. So ging es aber nicht nur mir sondern auch anderen. Aufgrund der Ausgrenzung von Andersdenkenden war ich nicht bereit, Stopp Ramstein weiter zu unterstützen, obwohl ich voll hinter dem Thema stehe. Das Gute ist, man hat sehr viele Menschen kennen- und schätzen gelernt, daraus hat sich das spätere Team, der „verschworene Haufen“ von Kündigt Ramstein Air Base gebildet.

Wofür steht denn Kündigt Ramstein Air Base

Mit der Kampagne Kündigt Ramstein Air Base haben wir den Protest gegen diesen US-Standort erstmals nach Berlin gebracht. Demonstrationen im Wald rund um die Air Base sind zu wenig. Wir waren beziehungsweise sind der Überzeugung, dass dort protestiert werden muss, wo letztendlich über eine Standortschließung entschieden werden kann. Also in Berlin. Aufgrund von Corona haben wir nicht die Menge an Menschen erreicht, die wir ursprünglich angepeilt hatten, sind aber trotzdem zufrieden mit dem Ergebnis.

Mitten in der Corona-Krise ist es uns mit Unterstützung von Ralf Ludwig gelungen, am 30. Mai die erste Demo in Berlin durchzusetzen. Das Programm bestand aus politisch renommierten Sprechern und engagierten Musikern. Zwei Tage vor der Veranstaltung vor dem Brandenburger Tor wurde die Teilnehmerbeschränkung aufgrund der Klageeinreichung vom Berliner Senat aufgehoben. Die Klage wurde im Nachhinein auch zu unseren Gunsten entschieden, die Kosten durfte der Berliner Senat tragen.

Seit dem 30. Mai bist Du wieder regelmäßig auf Demos?

Nein. Das war schon deutlich früher. Ab dem Tag, als sie uns das Grundgesetz gestohlen haben, war ich gegen die Maßnahmen auf der Straße. Ich war nicht in Orgas aktiv, weil ich als Anmelder von Kündigt Ramstein Air Base unsere Veranstaltung nicht gefährden wollte, war aber fast jedes Wochenende am Rosa-Luxemburg-Platz mit dabei.

Was stört Dich an den Maßnahmen denn besonders?

Auf jeden Fall die Willkür, der Entzug unserer Freiheiten und natürlich die Reisebeschränkung. Ich bin immer sehr gerne durch die Welt gezogen und habe mich mit anderen Menschen und Kulturen auseinandergesetzt. Ich bin extrem freiheitsliebend — und „die“ haben mir meine Freiheitsrechte genommen.

Ich tue, was ich tue, für Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit und lege jede Form von Faschismus ab. Das, was jetzt passiert, ist absolut menschenverachtend.

Dann kam der 1. August auf uns zu und es gab eine Anfrage, ob Kündigt Ramstein Air Base am Umzug teilnehmen möchte. Wir haben natürlich sofort zugesagt. Gemeinsam mit Netzwerk Impfentscheid und dem Walk of Freedom haben wir einen LKW mit Sprechern und Musikern im Demozug gestellt. Nachdem wir nur mit ein paar tausend Menschen gerechnet hatten, war es überwältigend zu sehen, wie viele Menschen sich zu einer Sache — trotz aller Differenzen — vereinigen konnten. Viele sind an diesem Tag über ihren eigenen Schatten gesprungen. Das wollten wir am 29. August in Berlin wiederholen, wurden aber durch die Berliner Exekutive illegal trotz OVG-Urteil ausgebremst.

Im Anschluss haben sich die Organisatoren des Truck 4 mit ein paar anderen Aktivisten zusammengetan — zum Beispiel mit Nils Wehner, der beide Demo-Züge im August organisiert hatte — und überlegt, wie man Protest in Zukunft gestalten kann, damit sich Menschen weiterhin friedlich verhalten. Die Initiatoren der Friedensfahrzeuge hatten dann die Idee, gemeinsam einen Schweigemarsch ins Leben zu rufen. Am 10. Oktober war es dann soweit. Der Erfolg und die positive Resonanz hat unsere Entscheidung für diese Form des Protests bestätigt.

Das war also nicht die letzte Demo, die Du organisieren wirst?

Definitiv nicht. Am bundesweiten Schweigemarsch am 22. November war ich selbstverständlich dabei und freue mich jetzt auf die Schweigemärsche am 19. und 20. Dezember. Schließlich muss ich mein Gesicht im Spiegel anschauen können und den Andreas, den ich da sehe, dauerhaft ertragen. Mit dem Typen, der mir da entgegengrinst, kann ich gut leben. Also bleibe ich dran.

Prima — Weitermachen!


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