Mensch Stalin!
Ein Roman lässt die Schrecken und Absurditäten der stalinistischen Säuberungen wiederauferstehen.
Stalinismus? Diese Geschichte ist doch weit weg und lang vorbei!? So denken jedenfalls die meisten. Eugen Ruge schrieb indes einen beklemmenden Roman darüber, wie seine Großmutter die stalinistischen Säuberungen durch- und überlebte. Wer dabei gewesen ist, ist heute längst tot — so oder so. Freilich: Untote leben länger. Das gilt vielleicht auch für den Stalinismus. Metropol ist jedenfalls eine Leseempfehlung.
Im Grunde gut, so heißt Eine neue Geschichte der Menschheit, die jetzt viel gelobt wird (1). Und dann liest man Eugen Ruges Metropol, den 2021 erschienenen Roman. Es ist die Geschichte seiner Großmutter, die als Kommunistin aus Nazi-Deutschland geflohen war, als überzeugte Kämpferin für die gute, kommunistische Sache für die Komintern aktiv war und mit ihrem Mann in die stalinistischen Säuberungen hineingerät. Es ist eine „neue Geschichte“, bei der man den Glauben an die Menschheit verlieren könnte.
Es ist ein Roman über die Sowjetunion in den 1930er Jahren. Wir erleben das harte, von Armut und Hunger geprägte Leben der stalinistischen Industrialisierung. Für Lebensmittel musste man sich auf gut Glück in schier endlosen Menschenschlangen anstellen, ohne zu wissen, an wen das letzte verfügbare Brot, die letzte Konserve oder was sonst gerade zur Verfügung stand, ausgegeben werden konnte. Man reihte sich ein, ohne recht zu wissen wofür. Sonst hatte man nichts mehr zu tun.
Denn die revolutionären Kräfte der Komintern wurden mehr und mehr „freigestellt“ und zum Teil im bourgeoisen Luxushotel Metropol untergebracht, von dem der Roman seinen Titel hat. Man wusste nicht, warum man aus dem Dienst entfernt wurde und erst recht nicht, worauf man zu warten hatte.
Erzählt wird aus drei Perspektiven. Charlotte, Großmutter von Eugen Ruge und Hauptfigur des Geschehens, erlebt unter dem Decknamen Charlotte Germaine mit ihrem Lebensgefährten die stalinistischen Säuberungen, für die unter anderen Wassili Wassiljewitsch Ulrich verantwortlich ist, der als „Vorsitzender des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR“ die höchste Position im Gerichtswesen bekleidet. Er ist leitender Richter von Schauprozessen und verantwortlich für 30.000 Todesurteile, die er meint, Stalin schuldig zu sein. Eine erbärmliche Person, die irgendwie in dieses Amt kommt, ohne je Richter gewesen zu sein, weil man ihm wohl zutraut, in skrupellos unterwürfiger Ängstlichkeit das von ihm Erwartete willfährig zu tun. Er ist eine Figur, die man vielleicht als Beispiel für Hannah Arendts Rede von der „Banalität des Bösen“ anführen könnte.
Und dann ist da noch Hilde, Hilde Tal, die Ex-Frau von Charlottes Lebensgefährten, überzeugte Bolschewikin, die im Sekretariat des Nachrichtendienstes der Komintern arbeitet und inzwischen mit Julius, einem ebenfalls überzeugten Bolschewiken, verheiratet ist. Hilde ist Charlotte in vielem Stütze und Vorbild. Sie hilft ihr, im fremden Moskau zurecht zu kommen. Sie lebt nicht im Metropol, sondern ist in einem anderen, vergleichbaren Nobelhotel, dem Lux, untergebracht. Und auch sie wartet, ohne es zu wissen, auf ihren Prozess. Als rechte Hand des mächtigen Chefs des Nachrichtendiensts scheint sie sicher. Aber als auch er Opfer der Säuberungen wird, fügt sie sich ebenfalls bereitwillig in ihr Schicksal.
Aus Freund wird Volksfeind
Eugen Ruge lässt nach einem kurzen Prolog die eigentliche Geschichte mit einer für seine Großmutter verstörenden Nachricht beginnen.
„In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1936 entdeckt Charlotte Germaine, wie sie sich neuerdings nennt, in der Deutschen Zentralzeitung unter den sechzehn Angeklagten in der Strafsache des trotzkistisch-sinowjewistischen terroristischen Zentrums den Namen E. Lurie.“
E. Lurie, heißt eigentlich Moissej Lurie, „aber die meisten kennen ihn nur unter seinem Parteinamen Alexander Emel“. Den kennt auch Eugen Ruges Großmutter und damit beginnt das Problem. Sie kann eigentlich nicht glauben, was sie liest. Für sie war Emel ein Freund, ein Mitkämpfer für die gute Sache, dem sie völlig vertraute. Aber nun, nun kommen ihr Zweifel. Wie konnte sie sich so täuschen.
Nicht zuletzt ihr Mann, ein überzeugter Bolschewik und Anhänger Stalins, rät eindringlich, dass sie sich umgehend von dem „Volksfeind“ distanzieren müssen. Und so wendet sie sich mit einem vierseitigen Schreiben an die Kominternleitung, das Eugen Ruge im Original wiedergibt:
„Auf meiner Urlaubsreise erfuhr ich durch die Zeitung, an welchen furchtbaren Verbrechen Emel beteiligt war. Ich habe diesen Mann gekannt und zu ihm persönliche Beziehungen gehabt. Woher ich ihn kannte, welcher Art diese Beziehungen waren, darueber gebe ich hiermit der Partei Rechenschaft.“
Das erläutert sie dann ausführlich und schließt:
„Ich habe lange und ernsthaft darueber nachgedacht, wie es möglich war, dass ich mit dem Mörder Emel bekannt sein konnte, verleitet durch meine freundschaftlichen Beziehungen zu seiner Frau, von der mir bis zu diesem Augenblick nicht bekannt ist, welche Rolle sie gespielt hat. Wie es möglich war, dass ich kein Misstrauen gegen ihn hatte.
Ich muss sagen, dass es mir ganz unmöglich war, hinter seine glatte Doppelzuengigkeit zu kommen. Aber ich will die Lehre daraus ziehen, dass erstens ein Parteiarbeiter in der Auswahl seiner persönlichen Bekannten grösseres Misstrauen walten lassen muss, und zweitens, dass ich viel ernsthafter und gruendlicher die Geschichte der Bolschewistischen Partei studieren muss, um dadurch meine Klassenwachsamkeit auf ein höheres Niveau zu führen.“
Aber das scheint alles nichts zu nutzen. Nach sechs Monaten wendet sich der zunehmend trübsinnige Lebensgefährte nochmal mit einem unterwürfigen Bittschreiben an die Komintern:
„Es ist jetzt 6 Monate her, dass ich von meiner Arbeit entfernt wurde. Dass ich hier in Moskau auf Ihre weiteren Massnahmen warte. Sie werden verstehen, dass es nicht so leicht ist, bei dem Bewusstsein, nichts gegen die Ehre eines Kommunisten, gegen die Linie der Partei getan zu haben, von allem gesellschaftlichen Leben im Zentrum des Sozialismus ausgeschlossen zu sein.“
Er „verstehe sehr gut, dass besonders heute Kontrolle und Misstrauen notwendig ist“. Und es sei ihm unerträglich, dass er bei all seinen Verdiensten nun „scheinbar [...] Ihr Vertrauen, das Vertrauen der Partei verloren habe“.
Widerstand unbekannt
Inzwischen waren viele aus dem Umfeld der Komintern und dem Metropol abgeholt und verurteilt worden.
Ein Schauprozess war dem andern gefolgt. Gefeierte Helden der Revolution wurden als Volksfeinde und Konterrevolutionäre angeklagt und zum Tode verurteilt. Sie fügen sich, spielen sogar mit — im Namen der Revolution, der sie schon so viel geopfert haben.
Gelegentlich kommen auch Wassili Wassiljewitsch Ulrich Bedenken. Nicht wegen der Opfer. Er will keinen Fehler machen und darf den Willen Stalins nicht missdeuten. Schon bei einem der ersten Schauprozesse, bei dem 16 verdiente Helden der Revolution angeklagt werden, waren Unstimmigkeiten aufgetaucht. Wie sollte er darauf reagieren, denn die Verlaufsprotokolle wurden täglich veröffentlicht. Jeder Fehler könnte auf ihn zurückschlagen. „Wenn diese Angeklagten jetzt aufstünden“, sagte er sich, „und die Wahrheit [!] sagten. Alle sechzehn … Sie brächten Stalin zu Fall.“ Aber das tun sie nicht. Sie fügen sich, weil sie überzeugt sind.
Tatsächlich gibt es kaum Gegenwehr. Im Gegenteil.
„Draußen minus zwanzig Grad, schneidender Wind weht vom Roten Platz her. Trotzdem sind wieder Tausende gekommen, um für die Erschießung der Volksfeinde zu demonstrieren.“
Die Sprüche auf den Plakaten sind eindeutig: „Dank dir, Genosse Stalin!“ Viele sind handgemalt und schnell gefertigt, „auf denen die Menschen die Vernichtung der Mörderbande oder die Ausrottung der Schlangenbrut fordern“. Die Menge möchte ihr Bekenntnis zur guten Sache demonstrieren und fordert von Stalin [!] härteres Durchgreifen.
Die unterwürfige Eitelkeit der schreibenden Zunft
Aber es ist nicht nur die „Menge“, die kopflose Masse, die sich leicht beeinflussen lässt. Im Zimmer neben Eugen Ruges Oma wohnt eine Zeit lang der Schriftsteller Lion Feuchtwanger. Er ist Jude und musste 1933 vor den Nazis nach Frankreich fliehen. 1936 wird er in die Sowjetunion eingeladen, bleibt dort vom 1. Dezember 1936 bis zum Februar 1937. Er nimmt als Zuschauer an Schauprozessen teil und bekommt sogar eine große Audienz, über die er dann in der Prawda und in der Baseler Rundschau berichtet:
„Der erste unmittelbarste Eindruck [von Stalin] ist der einer ungewöhnlichen Einfachheit. Im Laufe eines mehrstündigen Gespräches habe ich an Stalin auch nicht eine Geste wahrnehmen können, die man als Pose ausdeuten könnte. Stalin ist in seinen Worten klar bis zur Schroffheit. Er ist streitbar, ein guter Debattierer, der, was er sagt, zäh verteidigt. Er ist nicht übermäßig höflich, aber er ist auch nicht empfindlich, wenn ihn der Gesprächspartner angreift.
Er spricht mit einem Freimut, der Eindruck macht, dabei ist er nicht ohne eine gewisse, fast gutmütige Verschlagenheit. Er hat Humor und ist empfänglich für Humor. Man begreift schnell, warum die Massen ihn nicht nur verehren, sondern lieben. Er ist ein Teil von ihnen, herausgewachsen aus ihnen, der wirkliche Repräsentant der 160 Millionen dieser Sowjetunion, wie ihn sich der Dichter nicht würdiger ausdenken könnte. Er hat dabei offensichtlich innere Widersprüche, und Menschliches ist ihm nicht fremd. Stalin, wie er einem im Gespräch entgegentritt, ist nicht nur ein großer Staatsmann, Sozialist, Organisator: Er ist in erster Linie ein Mensch.“
Puh. Das ist schwere, nicht leicht verdauliche Kost. Feuchtwanger schreibt das immerhin im Zentrum des Säuberungsorkans! Gut, vielleicht geht es hier mit Feuchtwanger einfach durch, weil er, geschmeichelt, dass Stalin ihn überhaupt empfing, allem eine persönliche Färbung gibt. Der Dichter, der aus der Heimat fliehen musste, sieht sich vom großen Stalin hofiert und will dann der Welt natürlich auch mitteilen, wie sehr man ihn andernorts schätzt. Doch es geht tiefer, reicht weiter. Nach seiner Rückkehr schreibt er über seine Reise ein Buch, Moskau 1937, in dem er die Säuberungen verharmlost und auch sonst die Dinge ziemlich verzerrt sieht:
„Ich habe Weltgeschichte nie anders ansehen können denn als einen großen, fortdauernden Kampf, den eine vernünftige Minorität gegen die Majorität der Dummen führt. Ich habe mich in diesem Kampf auf die Seite der Vernunft gestellt, und aus diesem Grund sympathisierte ich von vornherein mit dem gigantischen Versuch, den man von Moskau aus unternommen hat.“ Eugen Ruge nennt Moskau 1937 ein „euphemistisches Pamphlet, das die Schande seiner [Feuchtwangers] Verführbarkeit verewigt“.
Täter und Mitläufer sind das eine, sie haben Grund, sich die Dinge zurechtzulegen, die Untaten zu leugnen oder zu relativieren. Die charakterlose Feigheit des hohlen Wassili Wassiljewitsch Ulrichs ist das eine, aber was motiviert einen Schriftsteller wie Feuchtwanger zu seinem apologetischen Reisebericht für [seine] Freunde. Vermutlich ist es eine Melange aus Eitelkeit und Geltungssucht. Das kann ihm — das kann man in den Zwischentönen hören — der Kollege Eugen Ruge nicht verzeihen. Der Schriftsteller hat zu schreiben, wie es ist, und nicht zu verteidigen, dass etwas nicht so ist, wie es sein soll.
Die Wahrheit der Fiktion
Eugen Ruge benutzt Originaldokumente, die er sich aus den Archiven beschafft. „Die in diesem Buch angeführten Dokumente“ sind echt (2). „Tatsächlich hat meine Großmutter unter dem Namen Lotte Germaine firmiert.“ Anderes wurde „fiktiv“ ergänzt. Aber, so meint Eugen Ruge, eine Fiktion ist nicht grundsätzlich weniger wahrhaftig oder authentisch.
Eugen Ruges Absicht freilich ist nicht, „historische Fakten oder Entdeckungen zu präsentieren. Ich habe“, so schreibt er im Epilog, „der Stalinismus-Forschung wenig hinzuzufügen. Die Fakten über den Stalinismus sind im Wesentlichen bekannt … obwohl man feststellen muss, dass es bis heute nicht wenige Menschen gibt, die diese Verbrechen bestreiten, abmildern, relativieren oder entschuldigen.“
Aber Eugen Ruge will nicht nur erzählen, wie schlimm es damals zuging, damals in der fernen Sowjetunion. Wer heute etwas von damals erzählt, will, dass wir heute etwas erkennen, um für morgen daraus zu lernen. Im Epilog nennt Eugen Ruge die Geschichte, die Metropol erzählt, „eine Geschichte darüber […], was Menschen zu glauben bereit, zu glauben imstande sind“. Und zu welchen Handlungen sie fähig sind, weil sie bereit und imstande sind, etwas zu glauben.
Damals wurden viele auf allen Ebenen zu Tätern und Mitläufern. Weisungen wurden gegeben, man musste verurteilen und die Verurteilten erschießen. Und man musste die Verurteilungen rechtfertigen. Das gilt nicht nur für die Sowjetunion in den 1930er Jahren des letzten Jahrhunderts. Das gilt für alle totalitären Systeme.
Und immer wieder erschrecken wir darüber, dass das immer wieder möglich ist. Die verbrecherisch handelnden Täter halten sich für die Guten und glauben, gegen „Volksfeinde“ aller Art um der guten Sache willen, vorgehen zu müssen. Die charakterlos opportunistischen Helfershelfer und Mitläufer faseln etwas von objektiver Notwendigkeit, gesellschaftlichen Zwängen, Alternativlosigkeit oder von kleineren Übeln, die noch Schlimmeres verhindert hätten.
Das besonders Erschreckende an den stalinistischen Säuberungen freilich ist, dass die Opfer ihre Opferrolle weitgehend widerstandslos übernahmen und sich in ihre eigene Säuberung fügten. Sie waren Begeisterte für die große Sache und deshalb opferwillig. Sie waren aufgrund ihrer Ideale bereit, gegen ihre Ideale zu verstoßen. Das Opfer waren sie bereit zu bringen.
Große Sachen verlangen große Opfer
Ist das wirklich so fern? Haben wir nicht vernommen, dass wir Grundrechte nur schützen können, indem wir sie aussetzen? Dass wir Freiheit und Demokratie am besten schützen, wenn wir Meinungsfreiheit begrenzen, Brandmauern hochziehen und Kontaktschuld bestrafen? Meinungsfreiheit ist das Recht, falsch zu liegen. Aber alles Falsche — wer immer das feststellt — gilt nun als Desinformation. Erlaubt ist nur, was die Partei, die Regierung oder eines der von ihr finanzierten Organe für wahr und richtig hält. Genauso konnte und kann man es in geschwärzten Informationsquellen lesen. Und die Verschärfung wird selbstgewiss und mit stolz geschwellter Brust gefordert.
„Deine Haltung spielt objektiv dem Klassenfeind in die Hände.“
Ja, so hieß das einmal — vor gar nicht so langer Zeit an gar nicht so fernen Orten. Aber setzen wir für „Klassenfeind“ einfach mal ein anderes Wort ein. Es fällt Ihnen schon eines ein, oder? Wer so etwas entdeckt, der muss es melden.
Eugen Ruge lässt seinen Roman mit einem Faksimile beginnen, einer „Mitteilung“, auf die er im Archiv gestoßen war und die wie ein Motto dem Ganzen voraussteht:
„Mitteilung. Mir ist es bekannt aus einigen Gesprächen aus dem Jahre 1933, dass der Genosse Jean Germain und die Genossin Lotte Germain bei dem trotzkistischen Banditen EMEL verkehrten. Die Bekanntschaft stammt aus der gemeinsamen Arbeit der Gen. Lotte Germain und der Frau des EMEL in der Berliner Handelsvertretung. Ob diese Bekanntschaft auch gegenwaertig bestanden hat, ist mir nicht bekannt. Den 23. August 1936, Hilde Tal.“
Hilde Tal ist die Vertraute von Charlotte, überzeugte Kommunistin, aus Nazi-Deutschland geflohen, um den Kampf für das Gute zu führen. „Dass diese Hilde Tal, die fast zur Familie gehörte, im August 1936 eine Mitteilung an die Leitung der OMS [Otdjel Meshdunarodnych Swjasej, Abteilung für Internationale Verbindungen und Nachrichtendienst der Komintern] schreibt, die man ohne weiteres als Denunziation bezeichnen kann, schockierte mich“, schreibt Eugen Ruge im Epilog. Es ist schockierend, weil es kein individueller Fehler ist, sondern eine Perversion menschlicher Handlungsmaßstäbe.
In den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde von Stanley Milgram das sogenannte Milgram Experiment entwickelt. In ihm wurde gezeigt, wie die fraglose Autorität eines wissenschaftlichen Versuchsleiters bei den Probanden die Bereitschaft schuf, für die vermeintlich gute und wichtige Sache anderen tödliche Stromstöße zu verpassen. Die stalinistischen Säuberungen zeigen dagegen, dass die Probanden bereit sind, sich selbst die tödlichen Dosen zu geben, wenn sie bereit und imstande sind, an etwas zu glauben.
Die Opfer nehmen ihr Opfer klaglos auf sich. Das gilt auch für Eugen Ruges Großmutter. Sie blieb „der Partei ihr Leben lang fest verbunden. Dass sie Stalin verherrlicht [hätte], kann ich [Eugen Ruge, HL] nicht behaupten. Über ihre Erlebnisse in der Sowjetunion [schwieg] sie jedoch und [wollte] auch nicht daran erinnert werden. Als mein Vater seiner Mutter bei ihrem Wiedersehen 1956 über seine Erfahrungen im stalinistischen Gulag zu berichten begann, hielt Charlotte sich die Ohren zu.“
Man sollte denken, dass nur die Täter vor einer Aufarbeitung zurückschrecken. Aber hier sind Täter und Opfer gar nicht mehr recht zu trennen. Und die Opfer sind in doppelter Weise beschämt: Sie schämen sich dafür, dass man sie denunziert und verfolgt hat, aber auch dafür, zu Denunziation und Verfolgung Anlass gegeben zu haben.
Stalinismus — aus und vorbei oder untot?
War der Stalinismus nur eine schreckliche Phase in der langen russischen und noch längeren Weltgeschichte, die wir zum Glück überwunden haben — also nur ein „Vogelschiss der Geschichte“, inzwischen wieder weggeschrubbt, der unsere glänzenden Aussichten nicht beeinträchtigt? Vielleicht ist das so — und es gibt keinen „untoten Stalinismus“.
Und doch ist es nicht lange her, dass Menschen wie ich im Öffentlichen Rundfunk als „Blinddarm“ bezeichnet wurden, der „ja nicht im strengeren Sinne essentiell für das Überleben des Gesamtkomplexes“ ist und auf den man — rechts unten — doch auch verzichten könnte. Und es wurde in einem sogenannten Qualitätsblatt — völlig ohne Ironie — gefordert: Mehr Diktatur wagen. Es kann also nicht schaden, wenn wir daran erinnert werden, wie leicht wir zu stalinistischen Zombies werden, frei nach Goethe — als Teil von jener Kraft, die stets das Beste will und stets das Böse schafft.
„Im Grunde gut“, das sagt sich mit Blick auf das, was Eugen Ruge über die Zeit der stalinistischen Säuberungen erzählt, wahrlich nicht leicht. Sehen wir einmal davon ab, dass reichlich unklar ist, was es überhaupt heißen soll, der Mensch sei „im Grunde gut“. Die Formulierung legt jedenfalls nahe, dass wir vieles beiseite lassen, von vielem absehen und nicht weniges neu einordnen müssen, um am Ende, ganz am Ende, sagen zu können, dass er „trotz alledem und alledem“ doch gut sei.
Die „alten“ Griechen meinten, der Mensch müsse vor allem die Hybris aufgeben, das Beste durch eigenes heroisches Tun erzwingen zu wollen. Er dürfe sich, bei Strafe des Untergangs, nicht für allzu „gut“ und viel zu wichtig nehmen. Seien wir also gewarnt, wenn jemand selbstlose Opfer für die gute Sache fordert und dafür selbst alles zu tun bereit ist.