Mehr Utopie wagen!
Wenn wir den Kapitalismus hinter uns lassen wollen, dann brauchen wir zuerst eine Vorstellung davon, was danach kommen soll.
Die befreite Gesellschaft beginnt damit, dass wir sie uns vorstellen — nicht als das unbestimmte Andere, sondern als eine bessere Welt im Rahmen menschlicher Möglichkeiten. Simon Sutterlütti und Stefan Meretz zeigen in ihrem Buch „Kapitalismus aufheben“, was möglich ist. Sie schaffen damit einen Rahmen für die notwendige Diskussion über Utopie und Transformation.
Etwas fehlt. Das Gefühl ist diffus und nicht so richtig zu greifen. Man hat Verpflichtungen. Das Leben kostet Geld. Das will verdient werden und ist irgendwie auch nie genug. Teurer wird es ohnehin immer und ohne Arbeit geht es nicht. Wie denn auch? Aber diese Arbeit ist nicht so ganz das Wahre. Macht mir diese Arbeit Spaß? Mache ich sie freiwillig? Würde ich sie machen, wenn ich gar kein Geld verdienen müsste? Was würde ich machen, wenn ich das nicht müsste? Die Überlegung ist müßig und führt zu nichts. Besser ist es, den Gedanken gar nicht weiter zu verfolgen und den Zwang und das, was ist, wieder zu verdrängen. Zurück ins Unterbewusstsein damit. Es ist die Freiheit, die fehlt.
Freiheit ist relativ. Wer in sklavenähnlichen Verhältnissen zur Arbeit gezwungen ist, der ist nicht frei. Wer um das tägliche Überleben kämpfen muss und wer in Armut leben muss, keine Perspektive und keine Hoffnung auf Besserung hat, der ist auch nicht frei. Und wer — wie wir alle — dem Zwang zur Arbeit unterliegt, wenn es mehr als nichts sein soll, der kann auch nicht frei genannt werden. Unter kapitalistischen Vorzeichen ist die Freiheit ein unterdrückter Wunsch.
Es fehlt die Freiheit und das, was man — emanzipatorisch und nicht bürgerlich begriffen — zurecht als eine freie Gesellschaft bezeichnen kann. Mehr noch fehlt eine Vorstellung davon, wie es anders sein könnte. Die Utopie, sie fehlt.
„Kapitalismus aufheben“
Simon Sutterlütti und Stefan Meretz haben eine Utopie geschrieben. Ihr Buch „Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken.“ ist der letzte Band einer fünfteiligen Reihe, die das Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit dem VSA Verlag Hamburg zwischen 2015 und 2018 als sogenannte Beiträge zur kritischen Transformationsforschung veröffentlichte (1). Das klingt nicht nur akademisch, das ist es auch. Simon und Stefan haben sich dem Thema Utopie und Transformation — verstanden als Weg zu einer utopischen Gesellschaft — systematisch und wissenschaftlich zugewandt.
Ihr Buch enthält dabei vielmehr als nur den utopischen Entwurf einer freien Gesellschaft. Die Autoren beleuchten die utopische Leerstelle, also die fehlende Beschäftigung mit Utopie und Transformation, betrachten die bisherigen Transformationsansätze von Reform und Revolution und klären den Begriff des Kapitalismus als ein System, das sich verselbstständigt hat und welches nicht wir beherrschen, sondern das umgekehrt uns beherrscht. Als Grundlage ihrer Überlegungen zu Utopie und Transformation entwickeln sie eine allgemeine Theorie vom Menschen und von der Gesellschaft, bevor sie sich sukzessive ihrem Hauptgegenstand widmen.
Stefan und Simon begreifen sich als Teil einer emanzipatorischen Bewegung, die in Richtung einer freien Gesellschaft strebt. Ihr Buch wollen sie nicht als der Weisheit letzten Schluss verstanden wissen, sondern im Gegenteil als eine Einladung zur Diskussion und zum Mitdenken.
Ihre Überlegungen, die selbst aus den Gedanken und Vorarbeiten von vielen entstanden sind und die sie, wie sie sagen, oft nur in eigenen Worten wiedergeben, sind noch unvollständig und können nur durch die Beiträge von vielen weiterentwickelt werden. Der Beitrag, den sie selbst mit der Zusammenfassung des bisher von anderen Erdachtem und von ihnen Weiterentwickeltem leisten, kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Ihn in adäquater Weise an dieser Stelle wiederzugeben, scheitert allein schon an der gebotenen Kürze des vorliegenden Textes. Dem Buch sind viele Leserinnen und Leser zu wünschen!
So lesenswert das Buch auch ist, ein Bestseller wird es sicher nicht. Der Stoff ist nicht ganz einfach. Man merkt, dass Simon Soziologe ist. Es mangelt nicht an Begrifflichkeiten. Diese aber sind klar ausgeführt. Die Schwierigkeit liegt eher im Umfang der Materie, der Vielzahl der Begriffe und darin, dass es sich um die Entwicklung von Theorien über einen Gegenstand — die Gesellschaft — handelt, der selbst nicht ganz einfach zu fassen ist. Die notwendige Abstraktion, wenn es um Utopie und Transformation geht, wenn man sich also in Gedanken „weit nach vorne wagt“, trägt ihren Teil dazu bei.
Zur Entwarnung: Das Buch ist verständlich und kann gut gelesen werden — wer möchte, vielleicht sogar mit einem Glas Wein am Abend auf der Couch. Es lässt sich aber auch „bewaffnet mit Zettel und Stift“ erschließen. Dann liest man es, unterstreicht, kommentiert, freut sich, wenn man es geschafft hat und dann… liest man es noch einmal. Wer möchte, könnte noch tiefer einsteigen. Es bietet genug Stoff, um sich ein ganzes Semester lang im selbstgeschaffenen Studiengang der Utopietheorie damit zu beschäftigen. Ohnehin — die Gelegenheit ist günstig — liest man lieber gute Bücher mehrmals, als den Versuch zu unternehmen, möglichst viel zu lesen, zu schauen und zu hören. Man kann nicht alles lesen, anschauen und aufnehmen, was angeboten wird. Das ist unmöglich. Man muss eine Auswahl treffen.
Orientierungslos ohne Utopie
Nicht nur die Vorstellung von der befreiten Gesellschaft und von einem möglichen Weg dorthin fehlt. Zudem findet schon die Diskussion über Utopie und Transformation nicht statt.
Zwar eint viele emanzipatorische Gruppen der Wunsch nach einer Überwindung des Kapitalismus, doch ein verbindendes Element, eine gemeinsame Perspektive und eine Vorstellung davon, wie diese Überwindung gelingen könnte, ist nicht vorhanden.
Die emanzipatorischen Bewegungen bleiben damit in ihrem eigenen Dunstkreis gefangen. Zwar lösen sie sich von alten Mustern und der Hoffnung, von Partei und Staat als tragenden Säulen des Wandels, aber wie eine Transformation jenseits davon gelingen könnte, bleibt ungeklärt.
Einige emanzipatorische Gruppen orientieren sich in ihren Bemühungen, den Kapitalismus hinter sich zu lassen, am Motto der zapatistischen Befreiungsbewegung aus dem mexikanischen Chiapas: „Fragend schreiten wir voran“. Simon und Stefan äußern Verständnis für diese Methode und erkennen an, dass man das Zukünftige kaum vorhersagen kann, sondern die Welt, die man anstrebt, selbst erschaffen muss. Gleichzeitig äußern sie ihre Befürchtung, dass Bewegungen, die ihr Ziel unbestimmt lassen, in ihrem Bemühen den Kapitalismus zu überwinden, voraussichtlich scheitern werden. Es drohe, bei einem hoffnungsvollen Tappen im Nebel der Möglichkeiten zu bleiben.
Mit dem Untergang des Realsozialismus schwanden die ohnehin nur vagen Vorstellungen von einer anderen Welt. Das Etappenmodell, das dem Sozialismus als Vorstufe des Kommunismus noch unreif und fehlerhaft zu sein erlaubte, befreite zudem von der Notwendigkeit, das, was danach kommt, genauer fassen und durchdenken zu müssen. Der Kommunismus blieb immer ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt und der Übergang vom Sozialismus zum Kommunismus war genauso wenig durchdacht, wie ein sich auflösender Staat auf dem Weg in die befreite Gesellschaft.
Das, was es heute noch an alternativen Entwürfen gibt, wie etwa der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, sei im Grunde nur die Wiederholung sozialistischer Denkfiguren, so die beiden Autoren. Daneben gibt es noch Vorstellungen von der utopischen Welt, die im Grunde gar keine sind und die in wenigen Worten diese Welt nur als eine ganz andere beschreiben. Diese nebulöse Nichtbeschreibung kann keine Richtschnur sein. Wenig überzeugend sind nach Ansicht von Simon und Stefan auch jene Utopien, die zwar inhaltlich gefüllt, aber unbegründet sind und damit wahllos erscheinen. Sie gründen sich eher auf moralische Vorstellungen davon, wie es sein müsste und sollte, bleiben aber ohne eine herleitende Begründung haltlos und können daher auch nie die Frage beantworten, wie eine solche Welt denn zu erreichen sei.
Der Weg beginnt mit dem Ziel
Beide Autoren stellen die Utopie an den Beginn ihrer Überlegungen. Wer sich auf den Weg in eine befreite Gesellschaft machen wolle, der müsse sich zuerst darüber klar werden, wie diese andere Welt in ihren Grundzügen beschaffen sein könnte. Erst dann könne man sich Gedanken über den Weg dorthin machen. Die Utopie und die Transformation gehörten zusammen und müssten auch zusammen gedacht werden. Wenn die Utopie unbestimmt bliebe, dann könne auch der Weg nicht bestimmt werden, und wenn der Weg nicht zum Ziel passe, dann werde man das Gewünschte nicht erreichen.
Dabei gehe es nicht um eine Aufhebung des Bilderverbots, nach dem man eine Utopie nicht zeichnen solle. Die Utopie, die Simon und Stefan als Vorschlag unterbreiten, ist keine Ausgepinselte, die ins Detail geht. Es geht vielmehr um die Grundzüge einer befreiten Gesellschaft, die im Rahmen der menschlichen Möglichkeiten liegt und die durch eine allgemeine Individualtheorie vom Menschen und von der Gesellschaft begründet ist oder um es in den Worten von Simon und Stefan zu sagen, um eine Möglichkeitsutopie. Das Bilderverbot ist ein Denkverbot und trägt seinen Teil dazu bei, dass eine gesellschaftliche Diskussion über Alternativen, über Utopien und Transformation nicht stattfindet.
Die Buchautoren bedauern, dass viele emanzipatorische Bewegungen die Utopiefrage nicht mehr stellen und wünschen sich das genaue Gegenteil.
Die fehlende Theorie zu Utopien führt auch dazu, dass die politisch-staatlichen Transformationstheorien den theoretischen Raum besetzt halten. Hierbei geht es auch immer um die Frage, wie die politische Macht im Staat errungen werden kann, um danach die befreite Gesellschaft auf den Weg zu bringen.
Es sind die Konzepte von Reform und Revolution, die hierbei im Vordergrund stehen. In Anerkennung und Würdigung dieser beiden Konzepte stehen Simon und Stefan beiden Ansätzen als mögliche Wege zu einer befreiten Gesellschaft dennoch skeptisch gegenüber. Sie glauben nicht, dass der Weg über Reformen oder eine Revolution führen wird.
Theorie zur Utopie
Es ist Zeit, einen tieferen Blick ins Buch zu werfen, um den theoretischen Entwurf von Simon und Stefan kurz zu skizzieren. Die beiden erklären zu Beginn, welchen Wert Theorien haben, warum diese wichtig sind und wie sie — vielleicht am einfachsten im Sinne von Ideen gedacht — uns helfen können, unsere jetzige Welt zu begreifen und eine neue denkbar zu machen. Sie sprechen sich dabei auch für ein wissenschaftliches Vorgehen aus, das Theorien überprüfbar und kritisierbar macht. Eine Utopie einer menschlichen Gesellschaft etwa beinhalte immer Grundannahmen über den Menschen und wie er eine Gesellschaft bilde. Sind diese Grundannahmen offengelegt, lassen sie sich diskutieren.
Das Buch besteht aus sieben Kapiteln. Einer ausführlichen Einleitung, in der auch der Kapitalismus als Gesellschaftsform erklärt wird, folgt das zweite Kapitel, das die Transformationstheorien von Reform und Revolution behandelt. Diese gehören zu den politisch-staatlichen Transformationstheorien, die auf die Frage der Erlangung von Macht — Simon und Stefan präzisieren dies als Macht über Menschen und damit als Herrschaft — orientieren. Daneben gibt es sogenannte interpersonale Transformationstheorien, welche den Wandel aus der Veränderung unseres individuellen Verhaltens herleiten. Eine Transformationstheorie, deren Ziel die Überwindung des Kapitalismus ist, bezeichnen die beiden als Aufhebungstheorie. Der Begriff der Aufhebung ist zugleich namensgebend für ihr Buch.
In den Kapiteln drei bis fünf wird eine theoretische Grundlage für die Diskussion über Utopien und — wir bleiben nun beim Begriff — Aufhebungstheorien geschaffen. Die Autoren entwickeln eine sogenannte kategoriale Utopietheorie und eine Aufhebungstheorie. Darin, so die beiden, bestehe auch ihr wesentlicher Beitrag, den sie mit ihrem Buch leisten möchten. Sie möchten einen wissenschaftlich begründeten Rahmen für die Diskussion um Utopie und Aufhebung bieten. Im Buch wird eine anschauliche Beschreibung gegeben, wie dieser Rahmen zu verstehen ist. Es handelt sich um einen theoretischen Rahmen, der die Grundzüge von Utopien und Aufhebungstheorien bestimmt. Stellt man sich diesen theoretischen Rahmen als einen Raum vor, so ist innerhalb dieses Raumes Platz für verschiedene Möbelstücke, die unterschiedlich gestaltet sein können, aber alle Platz in diesem Raum finden. Der Raum ist groß genug für verschiedene Utopien und verschiedene Aufhebungstheorien.
Das fünfte Kapitel legt eine allgemeine Individualtheorie und eine allgemeine Gesellschaftstheorie dar. Es handelt sich um eine Theorie vom Menschen und eine Theorie von Gesellschaft, die gerade nicht spezifisch-historische Konstellationen verallgemeinert, sondern die versucht, das Allgemeingültige über das Wesen Mensch und seine Gesellschaftsbildung herauszuarbeiten. Aufbauend auf dieser Theorie von Mensch und Gesellschaft und dem zuvor geschaffenen Raum der kategorialen Utopie- und Aufhebungstheorie, entwickeln Simon und Stefan eine eigene Utopie und eine eigene Aufhebungstheorie in den Kapiteln sechs und sieben: den Commonismus und die Keimformtheorie.
Exklusionslogik im Kapitalismus
Bevor es an das Neue geht, muss das Alte in den Blick genommen werden. Die Kritik am Bestehenden wird zu einer der Voraussetzungen der späteren Utopietheorie. Der Kapitalismus ist weit mehr als reine Ökonomie. Er ist ein Gesellschaftssystem, das sich weltumspannend und vorherrschend in den vergangenen Jahrhunderten herausgebildet hat. Die Kritik, so sie nicht nur die mannigfachen Verwerfungen dieses Systems betrachtet, sondern bis zum Kern vordringt, zeigt, dass es sich um ein System handelt, welches sich unserer Kontrolle schon längst entzogen hat. Nicht wir kontrollieren den Kapitalismus, sondern er uns. Seiner herrschenden Logik kann sich weder das Individuum noch der Staat entziehen. Es gilt das Primat des Ökonomischen.
Das Eigentum und die Produktion von Waren für den Tausch bestimmen den Kapitalismus. Nicht die Bedürfnisse stehen im Vordergrund, sondern die Produktion für den Profit.
Der Kapitalismus beruht auf einer Exklusionslogik und ist von Exklusionslinien durchzogen. Es ist vorteilhaft und damit naheliegend, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Ein vorteilhafter Preis für den Verkäufer ist schlecht für den Käufer.
Jeder große Auftrag, den ein Unternehmen erhält, geht zulasten der Konkurrenz. Jeder Mensch, der einen Arbeitsplatz bekommt, macht das zum Nachteil derjenigen, die diesen Platz nicht erhalten. Diese nahegelegte Exklusionslogik ist so tief in das System eingeschrieben, dass sie oft nicht wahrgenommen und unbewusst vollzogen wird. Gleichsam wird egoistisches Verhalten zur Natur des Menschen verklärt und damit ein Menschenbild geformt. Die Exklusionslogik, so die Autoren, ist aber nicht Ausdruck eines Willens-, sondern eines Strukturverhältnisses.
Als Menschen im Kapitalismus sind wir dabei fast tagtäglich gezwungen, gegen unsere Bedürfnisse zu handeln. Diese, wie Simon und Stefan es nennen, Selbstunterdrückung, Selbstzurichtung und Selbstbeherrschung hilft uns, in der heutigen Gesellschaft klarzukommen. Die Feindschaft gegen uns selbst verdrängen wir ins Unbewusste. Als unbestimmte Unruhe, Unzufriedenheit, Traurigkeit und ein Gefühl der Sinnlosigkeit taucht sie aber immer wieder an der Oberfläche auf. Unbewusst sind nicht nur die zugrunde liegende Exklusionslogik und die Selbstzurichtung. Sondern die Vorherrschaft des Systems selbst, die uns als natürliche Verhältnisse erscheinen, dringt nicht ins Bewusstsein. Die Kritik am Kapitalismus leitet über zur Aufhebungs- und Utopietheorie.
Aufhebungs- und Utopietheorie
Zusammen mit der Individual- und Gesellschaftstheorie bilden die Aufhebungs- und die Utopietheorie das Herzstück der Überlegungen von Simon und Stefan, wobei es einen bei der Lektüre unwillkürlich und von Neugierde getrieben weiter in Richtung der „konkreten“ Utopie und der zugehörigen Transformationstheorie im Buch zieht. Die theoretischen Vorüberlegungen bilden nicht nur das Fundament für das, was mit dem Commonismus und der Keimformtheorie vorgeschlagen wird, sondern sie sind auch inhaltlich nah dran an dem, was später folgt.
Ziel und Weg einer Aufhebungstheorie, so die Autoren, ist die Emanzipation. Diese wird dabei umfassend als Befreiung, als Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung verstanden. Sie muss auf der individuellen Ebene, auf der gesellschaftlichen Ebene und auf kollektiver Ebene erfolgen. Jede und jeder kann sich nur selbst innerhalb der bestehenden Gesellschaft und innerhalb des eigenen konkreten Lebensumfeldes befreien. Die eigene Befreiung etwa beruht auf der Erkundung der eigenen Bedürfnisse und ist damit eine Aufgabe, die nur jeder selbst erfüllen können.
Zentraler Gegenstand der Betrachtung ist die Gesellschaft. Sie ist ein Zusammenschluss, in dem Menschen kooperierend ihre Lebensbedingungen herstellen. Simon und Stefan fassen den Begriff der Herstellung umfassend auf. Er beinhaltet die Produktion von materiellen Dingen, den gesamten Fürsorge- oder auch Care-Bereich, unsere sozialen Beziehungen und Infrastrukturen, aber auch Sprache, Kultur und Wissen oder kurzum wirklich alles, was zum Leben dazugehört. Den umfassend verstandenen Bereich der Schaffung von Lebensbedingungen bezeichnen sie auch als Re/Produktion. Neben der Re/Produktion ist ein zweiter Aspekt bestimmend für die Funktionsweise einer Gesellschaft. Es ist die grundlegende Art, wie wir als Menschen in der Re/Produktion miteinander in Verbindung treten. Hierfür dient der Begriff der Vermittlung. Im Kapitalismus ist die Re/Produktion durch das Eigentum und die Exklusionslogik bestimmt. Die Vermittlungsform ist der Tausch, also die Produktion von Waren für Märkte und der Austausch gegen Geld.
Wenn das Ziel einer Aufhebungstheorie die Emanzipation in einer befreiten Gesellschaft ist und die Schaffung der Lebensbedingungen zusammen mit der Vermittlungsform eine Gesellschaft bestimmen, dann muss eine Aufhebungstheorie die Verfügung über die Bedingungen der Re/Produktion in den Blick nehmen. Soll die Re/Produktion dabei herrschaftsfrei und nicht wie im Kapitalismus exklusiv sein, sondern die Bedürfnisse aller Menschen einbeziehend inklusiv, dann müssen wir über die Bedingungen der Re/Produktion verfügen. Mit der Exklusivität und dem Ausschlusscharakter von Eigentum ist das unvereinbar.
Eine neue Form der Re/Produktion und der Vermittlung können nicht von heute auf morgen entstehen. Beides muss erlernt, erprobt, versucht, verworfen, neu gestartet, geändert und gemacht werden. Eine Revolution etwa, die die Macht im Staat erringt, um dann etwas ganz Neues auszurufen, kann gar nicht anders, als wieder bei alten Mustern der Re/Produktion und bei Herrschaft zu landen. Es bedarf also eines Konstitutionsprozesses. Und dieser kann nicht nach, sondern muss schon vor dem Bruch beginnen und dabei auf die Änderung der Gesellschaftsform zielen. Die neue Form der Re/Produktion und Vermittlung beinhalten eine neue Qualität, eine neue Logik und stehen im Widerspruch zur bisherigen gesellschaftlichen Struktur.
Gesellschaftsumformende Potenz der Vorform
Das ist es mal auf den Punkt gebracht. Gleichzeitig fragt man sich vielleicht, worum es überhaupt geht? Was soll hier gesagt werden? Ich verstehe kein Wort — weder von diesem hier noch vom zuvor Gesagten. Begriffe sind, erklären Simon und Stefan, die Verdichtung von Gedanken. Die gesellschaftsumformende Potenz und mehr noch die Vorform sind solche Begriffe. Sie sollen also nicht verwirren und verunsichern, sondern sind in diesem Zusammenhang eine Hilfestellung. In dieser Hinsicht ist das Buch herausfordernd. Es beinhaltet nicht wenige Gedanken und Begrifflichkeiten.
Die Theorien der Autoren sind ein sehr wertvoller Beitrag und sollten diskutiert, mitgedacht und weitergeführt werden. In der vorliegenden Form sind sie aber nicht allgemein verständlich. Wenn man so will, ist das Buch nicht barrierefrei.
Es fehlt noch eine popularisierte Variante davon. Das commonistische Manifest — es ist noch ungeschrieben.
Zurück zum Thema. Die Vorform ist ein Sammelbegriff für verschiedene Ausprägungen der neuen Re/Produktionsweise und Vermittlungsform innerhalb der alten Gesellschaft. Dazu kann wirklich vieles gehören. Im Kapitalismus könnten das Kollektivbetriebe sein, die nicht gewinnorientiert arbeiten, rassismuskritische Initiativen, die herrschaftsfrei arbeiten oder ein Ökodorf. Die Vorformen müssen noch unausgereift bleiben. Oft und in weiten Teilen wird es nicht möglich sein, sich der kapitalistischen Exklusionslogik zu entziehen. Es muss weiterhin Geld verdient werden, und wer einen Betrieb kollektiv organisiert, der kann das Eigentum zwar inhaltlich, aber nicht de jure, auflösen. Die Exklusionslogik wirkt nicht nur materiell. Sie ist auch sozial in uns eingebrannt und kann sich nur sukzessive auflösen. Wichtig ist, dass die Vorformen bewusst auf die Änderung der Gesellschaftsform zielen.
Eine gesellschaftsumformende Potenz besitzt die Vorform dann, wenn sie das Potenzial hat, sich auszudehnen, und zu einem Bruch führt, der die alte gesellschaftliche Ordnung ablöst und in eine neue Gesellschaftsform transformiert. Simon und Stefan leiten her, dass es die Vermittlungsform ist, die entscheidend ist. Auf welcher Logik basiert unsere Kooperation? Wie treten wir gesellschaftlich miteinander in Verbindung? Damit formuliert sich die Grundfrage einer Aufhebungstheorie: Welche Vorform führt zur befreiten Gesellschaft und wie kann sie sich verallgemeinern und durchsetzen? Darauf muss eine Aufhebungstheorie eine Antwort geben.
Geht nicht? Gibts nicht!
Der Weg, so die Autoren, muss dabei vom Ende her gedacht werden: ohne eine Utopie, ohne ein Ziel, keine Aufhebungstheorie. Die Vorstellung von einer befreiten Gesellschaft, ihrer Re/Produktionsweise und ihrer Vermittlungsform, muss zuerst vorhanden sein. Wie schaut sie aus, die befreite Gesellschaft? Es geht nicht um eine fantasievoll ausgepinselte Variante, sondern um kategoriale Grundzüge der neuen Gesellschaftsform, um eine begründete Möglichkeitsutopie. Der Weg muss zum Ziel passen und wenn das Ziel unbekannt und „das ganz Andere“ ist, dann bleibt auch die Re/Produktionsweise, die Vermittlung und die Vorform im Dunkeln und die Befürchtung ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir dann auch genau da landen werden: im Nichts.
Simon und Stefan teilen die Überzeugung, dass eine andere Welt möglich ist, und sie begründen ihre Überzeugung. Sie entwickeln eine Individualtheorie vom Menschen und eine zugehörige Gesellschaftstheorie, die den Rahmen dessen aufzeigen, was allgemein menschenmöglich ist. Denn, so schreiben sie, die emanzipatorische Antwort auf die Frage nach dem allgemein Menschlichen kann kein Schweigen sein, denn sonst könne man nicht über die Zukunft reden. Aus diesen Möglichkeiten heraus bilden sie ihre kategoriale Utopietheorie, um später dann ihre Utopie, den Commonismus, zu entwickeln.
Commonismus als Utopie
Der Commonismus ist gewöhnungsbedürftig und eine utopische Vorstellung, die nicht vom Himmel fällt. Hier passt nun eine persönliche Notiz. Das Thema der Utopie beschäftigt mich schon länger und resultierte zuletzt im Entwurf einer eigenen Utopie. Die Herleitung geschah — ganz klar — aus einer Kritik des Bestehenden und benutzte — ebenfalls wenig verwunderlich — bestehende Überlegungen und Konzepte. Kurz gesagt, habe ich auf dem aufgebaut, was ich wusste. Im Unterschied zu Simon und Stefan habe ich mich dem Thema gerade nicht wissenschaftlich, sondern mehr „aus dem Bauch heraus“ genähert und dann auch gleich ein wenig mehr „ausgepinselt“. Eine Individualtheorie des Menschen und eine zugehörige Gesellschaftstheorie habe ich ebenso wenig entwickelt wie eine Aufhebungstheorie. Beides schwirrt irgendwo, irgendwie umher und ist ebenfalls nur intuitiv entstanden. Über eine mögliche Aufhebung habe ich nur kurz nachgedacht (2). Mindestens eine Sache, die zwingend ist, hat die Utopie von Simon und Stefan der meinigen zusätzlich voraus: Sie hat einen Namen! Und den braucht sie auch, wenn man darüber reden will.
Wie der Commonismus und die Keimformtheorie als zugehöriger Aufhebungstheorie gedacht sind, soll hier nur angerissen werden. Ein zentrales Element sind die Commons. Sie bezeichnen Ressourcen im weitesten Sinne, also Nahrung, Energiequellen, Wasser, Land, aber auch Dinge wie Wissen oder Zeit, über die selbstorganisiert, gemeinschaftlich und bedürfnisorientiert verfügt wird. Diese Form der Verfügung — die Produktion, die Verwaltung, die Pflege und die Nutzung — ist begrifflicher Teil der Commons.
Commonism — all inclusive
Die Bedürfnisorientierung wird mit Blick auf den Kapitalismus vom Kopf auf die Füße gestellt und die Vermittlung als Beziehung zwischen Menschen gedacht, die die Bedürfnisse der jeweils anderen inkludieren. Die Inklusionslogik geht so weit, dass es vorteilhaft oder in den Worten von Simon und Stefan naheliegend ist, die Bedürfnisse anderer zu berücksichtigen. Die Inklusionslogik wird im Commonismus zu einem Strukturverhältnis. Sie gründet sich auf Freiwilligkeit und kollektiver Verfügung. Beides ist unbeschränkt. Niemand kann zu etwas gezwungen werden und niemand kann von etwas ausgeschlossen werden. Unter diesen Voraussetzungen, so die These der Autoren, können Inklusionsbedingungen entstehen.
Die Commons, die dezentral verteilt und selbstorganisiert sind, sind durch konkrete Kooperation und Zusammenarbeit von Menschen gekennzeichnet. Die Gesellschaft als Gesamtheit erwächst daraus als ein sich ergebendes System. Die Bedürfnisermittlung und die Bedürfnisbefriedigung geschehen durch eine umfassende und ausgiebige Kommunikation. Die gesellschaftliche Kommunikation beschreiben Simon und Stefan als eine Fülle von Hinweisen, die Bedürfnisse mitteilen, und die sich zu größeren Bedürfnisspuren verdichten.
Der menschliche Tätigkeitstrieb oszilliert zwischen Lust und Notwendigkeit. Unsere Motivation ist eine Abwägung zwischen erwarteter positiver Veränderung einerseits und der damit verbundenen Anstrengung und dem Risiko anderseits. Auch unter den Vorzeichen von Freiwilligkeit und vollständiger Verfügung können wir zu unliebsamen und anstrengenden Tätigkeiten motiviert sein. Notwendige Arbeit lässt sich aufteilen, attraktiver gestalten oder vielleicht automatisieren. Wenn es niemand machen will, dann müssen wir darüber reden. Konflikte, die ohne Herrschaft und damit ohne Zwang gelöst werden, werden sich an den Bedürfnissen orientieren.
Zwei Dinge werden dabei hilfreich sein. Zum einen die Bewusstheit für die Funktionsweise der Gesellschaftsform und zum anderen das vom Gesetz der großen Zahl abgeleitete und im Buch ausgeführte stigmergische Gesetz: Wenn es genug Menschen und genug Commons gibt, dann wird irgendwer den Job schon machen. Das wissen wir auch schon jetzt: Es gibt Leute, die interessieren sich für Sachen, da kann man nur mit dem Kopf schütteln.
„Alles schön und gut, aber das ist doch utopisch!“
Dieser nur sehr kurze Ausschnitt genügt nicht, um den Commonismus begreiflich zu machen und Zustimmung zu erzeugen. Wären wir aber bis zu dieser Stelle gelangt, so folgte diese Frage: Wie gelangt man dorthin? Eine Aufhebungstheorie muss diese Frage beantworten. Für den Commonismus unternehmen Simon und Stefan einen solchen Versuch mit der Keimformtheorie. In Teilen, so sagen sie, sind sie sich bei ihren Antworten noch unsicher. Die Suche und der Diskussionsprozess sind noch nicht abgeschlossen. Trotzdem enthält die Keimformtheorie viele Gedanken und Ansätze, die den Weg mehr oder weniger deutlich skizzieren.
Im Mittelpunkt steht die neue Vorform, Keimform genannt, also die neue Form der Re/Produktion und Vermittlung. Freiwilligkeit, Verfügung über die Bedingungen zur Herstellung der Lebensbedingungen und die Inklusionslogik bilden den Kern der vielen verschiedenen Keimformen, die allesamt noch unreif, von der kapitalistischen Logik nicht unabhängig zu dieser im Widerspruch stehen. An dieser Stelle wird dann noch einmal der Zusammenhang zur Utopie deutlich, denn erst durch die Vorstellung von der befreiten Gesellschaft lässt sich die Vorform entwickeln.
Die Keimformen müssen sich in der alten Gesellschaft herausbilden und dort einen Konstitutionsprozess durchlaufen, der zu einem Entwicklungswiderspruch mit der alten Logik führt. Wenn das alte System die Bedürfnisbefriedigung für viele Menschen nicht mehr gut gewährleisten kann oder es zu krisenhaften Momenten kommt und gleichzeitig eine Alternative sichtbar ist, wenn es „greifbare Möglichkeiten“ gibt, dann werden Menschen für eine andere gesellschaftliche Ordnung aktiv. Die Keimformen müssen sich so weit entwickeln, bis es zu einem Kipppunkt und einem Dominanzwechsel der vermittelnden Form kommt — für den Commonismus also weg vom Warentausch und hin zu den Commons.
Im Buch wird überlegt, wie ein solcher Kipppunkt zu erreichen wäre und Szenarien für einen Dominanzwechsel betrachtet. Es geht um die Ausdehnung von Keimformen in engeren Verbünden oder loseren Netzwerken, um systemische Krisen des Kapitalismus und die ökologische Krise. Ein Gedanke, der in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen kann, sind aktuelle Bestrebungen, Eigentum zu vergesellschaften (3), wie etwa die Enteignung großer Wohnungsgesellschaften. Eigentum zu vergesellschaften, bedeutet Handlungsspielräume auszuweiten. Man hat dann mehr, worüber man im Sinne der Herstellung der Lebensbedingungen verfügen kann. Ein guter und auch wichtiger Punkt ist in jedem Fall, dass die Transformation den Genuss und die Lebensqualität schon im Prozess steigern sollte — und damit auch die leidvolle Aufopferung bis hin zur Revolution, auf die das schöne Leben folgt, aufgibt.
Die freie Gesellschaft
Wir kommen zum Schluss. Eine andere Welt ist möglich und jetzt auch endlich bewiesen, quod erat demonstrandum. Das ist vielleicht ein wenig viel des Guten, aber eine Herleitung und Begründung wurde von Simon und Stefan dargelegt. Mit ihren Überlegungen bieten sie einen Rahmen zum Nachdenken über Utopien und Transformation und liefern mit Commonismus sowie Keimformtheorie gleich einen eigenen Vorschlag. Ihr Buch ist auch eine Aufforderung an die PraktikerInnen und die emanzipatorischen Bewegungen, die Fragen von Ziel und Weg wieder in das Zentrum ihrer Theorie und Praxis zu stellen.
Überhaupt die Praxis: Ob es der Commonismus oder eine andere ähnliche Version der befreiten Gesellschaft sein wird, in Grundzügen ist das Bild vorhanden, auch wenn es noch unscharf ist. Diese Unschärfe lässt sich auf die Vorformen übertragen oder anders gesagt, es spricht nichts dagegen, mit der Transformation schon zu beginnen. Das Bild wird sich im Laufe der Zeit schärfen. Ziel und Weg müssen zueinander passen und beide werden sich wechselseitig befruchten.
Der Hoffnung, dass sich der Kapitalismus aufgrund seiner selbstzerstörerischen Kräfte bald in Luft auflöst, sollte man sich nicht hingeben. Es ist ein Gesellschaftssystem.
Totalitäre Varianten, faschistische Systeme oder Staatskapitalismus, sind mögliche Veränderungen und große Verwüstungen denkbar. Die Exklusionslogik und das grundlegende System wird uns in allen diesen Fällen erhalten bleiben. Ein Ausstieg geht nur gezielt.
Das Angebot zur Diskussion und zum Mitdenken sollte angenommen werden. Beides muss und darf dabei nicht nur in dieser streng akademischen Form erfolgen. Jede und jeder kann, darf und soll mitreden, wenn es um Utopie und Wege in eine befreite Gesellschaft geht. Schließlich bedeutet Befreiung auch individuelle Befreiung, bedeutet Selbstermächtigung und Selbsterkenntnis sowie die Frage danach, was die eigenen Bedürfnisse sind und wie diese zusammen mit den Bedürfnissen aller anderen erfüllt werden können. An der Stelle ist man mittendrin in der Diskussion darum, wie sie ausschaut: die freie Gesellschaft!
Das Buch „Kapitalismus aufheben. Eine Einladung, über Utopie und Transformation neu nachzudenken“ von Simon Sutterlütti und Stefan Meretz kann auf der Homepage der Autoren [Commonismus](https://commonism.us/)* kostenlos im PDF-Format heruntergeladen werden.
Quellen und Anmerkungen:
(1) https://ifg.rosalux.de/kritische-transformationsforschung/
(2) https://www.rubikon.news/artikel/anleitung-zum-systemwechsel-3
(3) https://vergesellschaftungskonferenz.de/