Mediale Glaubenskrieger
Die Systemmedien bilden einen argumentativen Schutzwall um die herrschende Ordnung und Politik. Exklusivabdruck aus „Sabotierte Wirklichkeit“. Teil 3/3.
Die „Vierte Gewalt“ im Staat hat sich den drei anderen widerstandslos ergeben. Statt „Checks and Balances“ üben sich die Medien im Wegschauen, um ein bestehendes Ungleichgewicht zu zementieren. Dem Konsumenten wird immer nur ein vorselektierter Pool „erlaubter“ Meinungen präsentiert. Scharmützel zwischen verschiedenen Varianten ein- und derselben Grundüberzeugung hypnotisieren die Betrachter und hindern sie daran, grundsätzliche Fragen zu stellen. Journalismus ist heutzutage großenteils eine Kunst des Siebens. Weglassen, Verschleiern und Schönreden sind die Kardinaltugenden journalistischen Hofschranzentums. Grundsätzliche Medienkritik stößt indes bei den Kritisierten auf eine Mauer beleidigter Abwehr. Das Ganze hat mehr mit einer eingeschworenen Glaubensgemeinschaft zu tun als mit der aufrichtigen Suche nach Wahrheit. Marcus Klöckner bietet in seinem Buch eine glänzende Analyse der „herrschenden“ Verhältnisse in den Medien.
Wir sagen, wer reden darf: Journalisten und die Macht über das Rederecht
„Die gelungenste Form der Zensur besteht darin, überall wo gesprochen wird, Leute zu platzieren, die genau das sagen, was man von ihnen erwartet, oder noch besser, die gar nichts zu sagen haben. Die Titel, mit denen sie angeredet werden, tragen dazu bei, ihrer Rede Autorität zu verleihen“ (1) — Pierre Bourdieu.
Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, wer in unserer Gesellschaft über Rederecht verfügt? Anders gefragt: Wer hat in unserer Gesellschaft Zugang zu den großen Medien und darf dort sagen, was er denkt? Wen kontaktieren Medien, wenn sie zu einem bestimmten Thema eine Expertenansicht hören möchten? Wer ist in der Lage, Medien selbst zu kontaktieren, um im Rahmen einer Berichterstattung seine Sicht zu äußern? Der Mechaniker, der in der Werkstatt an der Ecke arbeitet? Die alleinerziehende Nachbarin mit den drei Kindern? Der Deutschlehrer auf dem Gymnasium Ihrer Kinder? Der Professor für Politikwissenschaften an einer großen Uni? Der Bürgermeister Ihrer Stadt? Der Ministerpräsident? Prinzipiell können alle hier angeführten Personen Zugang zu den Medien erhalten.
Prinzipiell ist denkbar, dass jeder Bürger in einem Medium zu Wort kommen darf. Der Mechaniker wird sich vielleicht in einem Medium wiederfinden, wenn er bei der Straßenumfrage der lokalen Zeitung eine Antwort auf die Frage gibt, was der neugewählte Bürgermeister dringend an Projekten, die für seine Stadt wichtig sind, umsetzen sollte. Der Gymnasiallehrer mag sich in einem bundesweit erscheinenden Magazin wiederfinden, dass sich gerade mit der Reformierung des Schulsystems auseinandersetzt, um zu schildern, was die Reform für seine Arbeit bedeutet. Der Professor für Politikwissenschaft, der sich unter anderem auf Rechtsextremismus spezialisiert hat, mag von einer großen Zeitung interviewt werden und Auskunft darüber geben, warum gerade wieder rechtes Gedankengut populärer wird.
Um es abzukürzen: Auch wenn es denkbar ist, dass prinzipiell jeder Bürger in einem Medium zu Wort kommen darf, zeigt die Realität: Wenn es um den Zugang zu Medien geht, sind nicht alle Bürger gleich. Der Zugang zu Medien hängt sehr stark vom Status und der Reputation einer Person ab. Die Faustformel lautet: Je höher der Status, je größer die Reputation, umso breiter ist der Zugang dieser Person zu den Medien. Das klingt sicherlich einleuchtend, allerdings gibt es bereits an dieser Stelle ein Problem. Status und Reputation sind Größen, die stark an Anerkennung gekoppelt sind.
Das „verkannte Genie“ oder der geniale, aber unbekannte Künstler führen uns plastisch vor Augen, dass Status und ¬Reputation sich vor allem auch dadurch ergeben, wenn den entsprechenden Akteuren Status und Reputation zuerkannt wird. Aber wer erkennt eigentlich in unserer Gesellschaft Status und Reputation zu? Was bringt es dem unbekannten Künstler, wenn die Büchereiangestellte oder sein Friseur seine Arbeit großartig finden?
Sie ahnen es: In unserer Gesellschaft verfügen die Medien über Benennungsmacht. Sie können den Status und die Reputation einer Person anerkennen oder nicht. Ja, sie können sogar den Status einer Person und die Reputation größer oder kleiner erscheinen lassen, als es eigentlich der Fall ist. Die Benennungsmacht der Medien geht Hand in Hand mit ihrer Fähigkeit, Menschen Rederecht zuzugestehen oder es abzulehnen. Und diese Fähigkeit der Medien erfüllt — zunächst einmal oberflächlich betrachtet — einen wichtigen Zweck.
Was wäre von Medien zu halten, die jeden Mann, jede Frau, unabhängig davon, wie groß sein beziehungsweise ihr Wissen ist, wie hoch sein beziehungsweise ihre Reputation ist, wie sinnig oder unsinnig, dass was er oder sie vorzutragen hat, ist, erlauben würden, zu Wort zu kommen? Natürlich ist es sinnvoll, dass Journalisten mit einem wachen Auge echte von vermeintlichen Experten unterscheiden, dass sie sorgfältig darauf achten, wer in einer großen Polit-Talkshow mit großer Reichweite oder in einer bundesweit erscheinenden Zeitung an prominenter Stelle seine Sicht der Dinge darlegen darf.
Aber: Wenn Journalisten Personen Rederecht zuerkennen, wenn Journalisten die Reputation und den Status einer Person anerkennen, dann verhält es sich so, wie wir es schon bei der Auseinandersetzung mit einer der Kernaufgaben von Journalisten, also der Auswahl und Gewichtung von Nachrichten, festgestellt haben. Die Alltagsbeobachtung der Medien zeigt, dass die Erteilung des Rederechts nicht nur nach den Maßstäben abläuft, die Journalisten bei dieser Aufgabe anzuwenden haben. Vielmehr können politisch, ideologisch motivierte Antriebe ausfindig gemacht werden, die dazu führen, dass weitestgehend nur jenen Akteuren in der Gesellschaft Rederecht in den Medien eingeräumt wird, die sich in dem engen Gesinnungskorridor bewegen, den das journalistische Feld durch seine soziale Zusammensetzung zulässt.
Über die Erteilung oder die Aberkennung des Rederechts können Journalisten den öffentlichen Diskurs regelrecht sabotieren. Diese Sabotage betreiben Journalisten immer wieder. Wenn wir beobachten, wie rigoros, ja, geradezu brutal Journalisten heute Rederecht erteilen und aberkennen, dann muss über einen schweren Missbrauch ihrer publizistischen Macht gesprochen werden. Ihre Aufgabe, als Gatekeeper im positiven Sinn die Bürger vor Pseudoexperten, Scharlatanen und Meinungsunsinn zu bewahren, missbrauchen sie, um all jene Akteure aus dem Mediendiskurs auszuschließen, die Ansichten vertreten, die den politischen Überzeugungen der diskursbestimmenden Journalisten entgegenstehen.
Wenn Journalisten über den „Hebel“ Rederecht den öffentlichen Meinungskorridor verengen, dann geht es wenig zimperlich zu. Eine der „sanfteren“ Formen — die allerdings bereits eine eigene Gewalt in sich trägt —, einer Person Rederecht nicht anzuerkennen, besteht darin, dass man sie ignoriert. Man gewährt Person XY einfach keinen Zutritt zur Medienöffentlichkeit. Diese Option hat heute in einer Zeit, in der durch das Internet auch Medienöffentlichkeit außerhalb der großen Medien hergestellt wird, viel an Kraft verloren.
Wenn Journalisten bestimmte Personen ignorieren, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass das, was sie sagen möchten, in einem „alternativen“ Format im Internet auftaucht oder aber, dass diese Personen sich gleich einen eigenen Kanal im Internet aufbauen und selbst zum Medium werden. Spätestens dann, wenn es diesen Akteuren gelingt, durch ihre Meinungen, Ansichten, Analysen und so weiter einen großen Bekanntheitsgrad außerhalb der Medien zu erreichen, wird es für die großen Medien mit dem Ignorieren zunehmend schwieriger. Unter Umständen müssen sie sich gegenüber ihren Lesern, Hörern und Zuschauern rechtfertigen, warum sie den entsprechenden Akteuren kein Rederecht einräumen.
Viel steht auf dem Spiel: Vertreter großer Medien wissen, dass Akteure, die einen beachtlichen Bekanntheitsgrad außerhalb der Mainstreammedien haben, zu einer Bedrohung für das Wirklichkeitsbild ihrer eigenen Berichterstattung werden können. Sie sehen, dass diejenigen, die sie nicht in ihren Medien zu Wort kommen lassen möchten, die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit oft anders einordnen als sie selbst. Sie erkennen, dass bei einem zunehmenden Bekanntheitsgrad und Popularität der „Alternativen“ die Gefahr einer „Wirklichkeitskollision“ entsteht.
Die Wirklichkeitsvorstellungen, die Wahrheiten der Mainstreammedien kollidieren mit den Wirklichkeitsvorstellungen und Wahrheiten „der anderen“ — und umgekehrt. Deutlich wird: Hier ist ein Kampf um die Bestimmung der Wirklichkeit und der Wahrheit zu beobachten. Und so lässt sich auch erklären, warum Medien alternativen Experten nicht einfach ignorieren können. Sie befinden sich in einer Auseinandersetzung um konkurrierende Wirklichkeitsvorstellungen. Deshalb geht es auch selten zimperlich zu, wenn Journalisten in ihrer Berichterstattung auf die „alternativen“ Experten eingehen.
Wenn die Methode die Ansichten der „anderen Seite“ zu ignorieren, nicht erfolgreich war, erfolgt der Griff zu den ganz harten Bandagen. Die nun veranschlagte Strategie setzt auf Delegitimierung. Medien gestehen den „Alternativen“ das Rederecht nicht nur nicht zu, sie entziehen es ihnen gezielt (2).
Das heißt: Anstatt die alternativen Experten zu ignorieren, attackieren Journalisten den Glaubwürdigkeitsstatus dieser Akteure. Genauer: Wenn Medien gegen „alternative Experten“ vorgehen, dann ist selten eine Berichterstattung zu beobachten, die nüchtern und sachlich auf vielleicht tatsächlich vorhandene Defizite und Mängel in der Argumentation der Experten der „anderen Seite“ eingeht.
Berichte, die sachliche Schwachstellen aufseiten der Alternativen hervorheben, mit gut durchdachten Argumenten arbeiten und vor allem Mediennutzer selbst die Wahl lassen, zu entscheiden, welchen Experten sie glauben und welchen nicht, haben Seltenheitswert. Stattdessen ist regelmäßig eine Berichterstattung zu beobachten, die von einem Ziel angetrieben wird: Den oder die ungeliebten Experten als das abzuqualifizieren, was sie aus Sicht der Kritisierenden sind, nämlich illegitime Sprecher. Dieses Ziel dient einem übergeordneten Zweck: Immer geht es darum, diejenigen, die den alternativen Experten zuhören, dazu zu bringen sich von ihnen abzuwenden. Eine Berichterstattung, die oft durch eine bemerkenswerte Aufgeregtheit in Ton und Wortwahl gekennzeichnet ist, bahnt sich so ihren Weg und lässt dabei kaum eine sprachliche Möglichkeit aus, um die „Illegitimen“ bis zum Nullpunkt abzuwerten.
Aus Platzgründen beschränken wir uns in diesem Kapitel auf ein Beispiel und zeigen, wie Medien mit einem „abtrünnigen“ Experten umgehen, dessen Legitimität sie eigentlich anerkennen. Es geht um den Publizisten Michael Lüders, der lange Jahre als Redakteur für Die Zeit gearbeitet hat und als Beststellerautor einem großen Publikum bekannt ist. Lüders sticht aus der Menge jener Experten, die sich in den großen Medien zum Nahen Osten äußern, auch dadurch hervor, dass er die Rolle des Westens beziehungsweise der USA kritisch hinterfragt. Für einige Medien hat sich Lüders offensichtlich zu kritisch geäußert, denn plötzlich attackierten sie den Experten. Er musste erfahren, wie es aussieht, wenn Medien den Versuch unternehmen, einer Person den Status des legitimen Sprechers abzuerkennen.
Der 9. April 2017. Michael Lüders ist zu Gast bei Anne Will. Unter dem Titel Trump bekämpft Assad — Droht jetzt ein globaler Konflikt? diskutieren mit Lüders unter anderem der Linken-Politiker Jan van Aken und Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Will stellt dem Nahost-Experten gleich zu Beginn ihrer Sendung eine Frage, die es in sich hat:
„Wir haben Sie heute bewusst nicht als einen neutralen Nahost-Experten vorgestellt, sondern als Autor und als Politik- und Wirtschaftsberater. Sie sind, muss man sagen (…) ein Geschäftsmann, der sein Wissen an Firmen verkauft, die im Nahen und Mittleren Osten ihre Geschäfte machen wollen. Spielen Ihre wirtschaftlichen Interessen da eine Rolle, wenn Sie sagen oder behaupten, dass es der Westen sei, der Syrien ins Chaos gestürzt hat?“ (3).
Lassen Sie, liebe Leserinnen und liebe Leser, diese Frage bitte auf sich wirken. Denken wir daran, dass diese Frage eine der prominentesten Journalistinnen Deutschlands in einer der größten politischen Talkshows vor einem Millionenpublikum stellt. Hier wird ziemlich offen der Verdacht in den Raum gestellt, dass die Analysen des Nahost-Experten korrumpiert sind. Lüders, so die Implikation, könnte einer sein, der bewusst falsche Einschätzungen zum Syrien-Konflikt in die Welt setzt, weil er damit Geld verdient. Was ist von dieser Frage zu halten?
Wenn wir sie oberflächlich betrachten, ließe sich leicht sagen: Bravo! Will handelt als kritische politische Journalistin und hinterfragt das Interesse ihres Gastes. Schließlich ist genau das die Aufgabe eines kritischen politischen Journalismus. Er hat die inhaltlichen Positionierungen und Aussagen derjenigen, die er zu Wort kommen lässt, zu durchleuchten und sollte mögliche im Hintergrund mitlaufende Interessen, die die Aussagen der eingeladenen Experten anleiten, freilegen.
Darf Anne Will also als Vorbild für eine kritische Journalistin gelten? Verzeihen Sie mir bitte, wenn wir jetzt einen Sprung zu einer anderen Will-Sendung machen. Aber das ist notwendig. Werfen wir zur Einordnung einen kurzen Blick auf das Verhalten der Moderatorin in der Sendung vom 17. Februar 2019: Die neue Welt-Unordnung — muss Deutschland mehr Verantwortung übernehmen? lautet das Thema. Zu Gast ist unter anderem Constanze Stelzenmüller. Während im Hintergrund die Musik zur Sendung läuft, stellt Will zu Beginn des Polit-Talks ihre Gäste vor. Will führt Stelzenmüller mit folgenden Worten an: Zu Gast ist auch „Constanze Stelzenmüller, die in Washington bei der angesehenen Brookings Institution arbeitet (4).
Nach einigen Minuten richtet Will zum ersten Mal in der Sendung das Wort an Stelzenmüller:
„Frau Stelzenmüller, Sie waren auch in München (bei der Sicherheitskonferenz) dabei. Sie leben und arbeiten aber ansonsten in Washington — das will ich noch mal sagen — und arbeiten da tatsächlich für die sehr angesehene Brookings Institution, das ist einer der wichtigsten amerikanischen sogenannten Thinktanks, also der Denkfabriken, was immer komisch klingt, aber, glaube ich, eine Menge Spaß und Arbeit macht“ (5).
Fällt Ihnen etwas auf? Kurz: Wenn sich irgendwo an Orten auf diesem Planeten Interessen konzentrieren, dann sicherlich auch innerhalb von Denkfabriken. Denkfabriken wachsen nicht einfach so, vom lieben Gott oder der Evolution gewollt, aus dem Boden. Akteure, die Thinktanks gründen — gerne als Philanthropen bezeichnet —, haben von Anfang an handfeste Interessen und nutzen ihren Einfluss, eine bestimmte Sicht auf die Welt zu verbreiten, eine bestimmte Wirklichkeit zu vermitteln — oder besser: Wirklichkeit zu schaffen. Die Personen, die für eine Denkfabrik arbeiten und von ihr auch bezahlt werden, bedienen in aller Regel die Interessen der Denkfabriken (6).
Anders gesagt: Stelzenmüller, die für eine Denkfabrik arbeitet, die auch transatlantisch ausgerichtet ist (7), agiert nicht in einem interessenfreien Raum. Ein Blick auf ihre Biografie zeigt: Sie war „ein Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund of the United States (GMF), wo sie das einflussreiche Trend Survey Program leitete“ (8), und ist derzeit (März 2019) auch Mitglied weiterer Denkfabriken, unter anderem des Council on Foreign Relations (CFR) (9).
Auf Wikipedia findet sich zur Brooking Institution unter anderem folgende Angabe: „Im September 2014 berichtete die New York Times über die Einflussnahme der Regierung von Katar auf die Brookings Institution. Laut New York Times sagte Katar der Brookings Institution 2013 eine Spende von 14,8 Millionen Dollar zu. Als Folge hätten Forschungsgruppen von Brookings auf Kritik an der Regierung Katars verzichtet, berichteten Wissenschaftler des Instituts“ (10). Der entsprechende New York Times Artikel trägt die Überschrift: „Fremde Mächte kaufen sich Einfluss in Denkfabriken“ (11).
Zurück zu Anne Will. Die Moderatorin stellt die Brookings Institution einmal als „angesehen“ und dann als „sehr angesehen“ vor. Im Grunde genommen ist diese „Information“, die Will ihren Zuschauern offensichtlich vermitteln will, vollkommen unnötig. Dass die Öffentlich-Rechtlichen allgemein, aber gerade auch die Macher einer großen Polit-Talkshow in der ARD, einen Experten von einem „angesehenen“ oder gar „sehr angesehenen“ Thinktank einladen, ist eine Selbstverständlichkeit. Oder haben Sie schon mal einen Experten eines „nichtangesehenen“ Thinktanks bei Anne Will gesehen — wobei auch die Frage zu stellen wäre, wer diesen Thinktank überhaupt für angesehen hält? Warum betont Will also, dass es sich hier um einen „angesehenen“ Thinktank handelt?
Anzunehmen ist: Will dürfte sehr wohl wissen, dass das Publikum zunehmend sensibilisiert wird gegenüber „Experten“, die aus Denkfabriken kommen und in den Medien ihre Sicht auf die Dinge zum Besten geben dürfen. Und sie dürfte auch wissen, dass spätestens seit Uwe Krügers Studie das Publikum zunehmend gereizt gegenüber „Transatlantikern“ und einer zu einseitig, interessengeleiteten „neutralen Analyse“ reagiert. Hier geht es, so darf man es sehen, nicht einfach nur um reine Information.
Will rechtfertigt implizit ihre Entscheidung, eine Vertreterin der Brooking Institution — wieder einmal! — eingeladen zu haben. Sie wertet die Denkfabrik sprachlich auf, um zumindest einem Teil der Zuschauer zu besänftigen. Aber es geht noch weiter. Durch die Aussage: „(…) also der Denkfabriken, was immer komisch klingt, aber, glaube ich, eine Menge Spaß und Arbeit macht“, verniedlicht Will die Kritik, die im Raum steht, wenn es um Thinktanks geht. Sie blendet durch diese Moderation die Erkenntnisse der Machstrukturforschung, was die weitreichende, wirklichkeitssetzende Rolle und den Einfluss von Denkfabriken angeht, vollkommen aus.
Nun zum Punkt: Vergleichen wir den Umgang Wills mit Lüders und dann den Umgang der Politmoderatorin mit Stelzenmüller. So sieht es aus, wenn führende Journalisten anderen Legitimität zu- oder aberkennen. Lüders wurde zwar als legitimer Sprecher eingeladen, aber der knallhart geäußerte Verdacht, der Autor könnte aufgrund finanzieller Interessen die Öffentlichkeit falsch informieren, gräbt einen Teil seiner Legitimität ab.
Ein solcher Angriff reicht sicherlich nicht aus, um aus einem legitimen Sprecher einen illegitimen zu machen. Erfolgen Angriffe dieser Art jedoch immer wieder, ist die Exkommunikation aus den Diskursräumen der großen Medien schnell vollzogen. Stelzenmüller — und die Denkfabrik, mit der sie verbunden ist —, wertet Will durch die gewählte Sprache enorm auf. Bevor Stelzenmüller überhaupt auch nur einen Ton sagt, darf sie sich der vollen symbolischen Unterstützung der Moderatorin gewiss sein.
Stelzenmüller, das ist für jeden Zuschauer sofort ersichtlich, ist in jeglicher Hinsicht eine legitime Sprecherin. Ihr Wort wird bereits im Vorfeld ihrer folgenden Einlassungen von „höchster Stelle“ — durch die Moderatorin — mit dem Siegel der Legitimität versehen. Eine angeblich so neutrale Moderatorin ergreift hier also durch mehr oder weniger unscheinbare oder offensichtliche Akte der Anerkennung oder der Abwertung ihrer Gäste Partei — und beeinflusst damit die öffentliche Wahrnehmung ihrer Gäste. Lüders sagte im Nachgang zur Sendung in einem Interview gegenüber den NachDenkSeiten:
„Die Art der Formulierung legt den Eindruck nahe: Der Lüders ist nicht seriös, im Zweifel stellt er seine wirtschaftlichen Interessen über seine inhaltliche Arbeit. Das ist eine bösartige Unterstellung.
NDS: Aber ist es nicht legitim, eine solche Frage zu stellen?
Lüders: Grundsätzlich ja, aber der Ton macht die Musik. Wäre es Frau Will um die Sache gegangen, nicht lediglich um Diffamierung, so hätte sie sicher auch erwähnen können, dass der Mitdiskutant John Kornblum, vorgestellt lediglich als ehemaliger US-Botschafter in Berlin, als Deutschland-Chef der amerikanischen Investmentbank Lazard gewirkt hat. Heute sitzt er, unter anderem, im Aufsichtsrat von Thyssen Krupp, von Motorola Europa und der Bayer AG, laut Wikipedia. Mitdiskutant Michael Wolffsohn ist Mitglied im Beirat Ost der Deutschen Bank. Das aber wurde mit keinem Wort erwähnt. Gemessen an diesen Schwergewichten muten meine eigenen »wirtschaftlichen Interessen« doch eher bescheiden an: Ich halte im Jahr fünf, sechs öffentliche Vorträge vor Unternehmen oder Fachverbänden, die sich vor allem für meine politische Einordnung der Verhältnisse in der arabisch-islamischen Welt interessieren.
NDS: Welchen Grund sollte die Moderatorin gehabt haben, Sie persönlich anzugehen?
Lüders: Gute Frage. Hat es möglicherweise damit zu tun, dass meine Einordnung des Konfliktes in Syrien dem vorherrschenden Narrativ in Politik und Medien widerspricht? Demzufolge ‚wir‘ im Westen auf der Seite der »Guten« stehen, weil wir ‚dem‘ syrischen Volk in seinem Freiheitskampf gegen das Assad-Regime beistehen? Eine differenzierende Haltung einzunehmen, gilt offenbar als nicht opportun. Das könnte erklären, warum Kornblum wiederholt das Wort ‚Verschwörungstheorie in meine Richtung raunte und die ebenfalls anwesende Bundesverteidigungsministerin mir ständig ins Wort gefallen ist“ (12).
Die Aussagen Lüders sind nachvollziehbar. Allein schon der Verdacht, geäußert an einem so prominenten Platz im Fernsehen, dass der Experte seine Arbeit von monetären Interessen bestimmen lässt, kann einen schweren Schaden anrichten.
Wie wollen wir nun das Verhalten von Will einordnen? Warum war sie gegenüber Lüders so „kritisch“? Lüders sagt: „Eine differenzierende Haltung einzunehmen, gilt offenbar als nicht opportun.“ Er fragt, ob das Verhalten von Will vielleicht damit zusammenhängt, dass seine Einordnung des Syrien-Konfliktes nicht zur vorherrschenden Wirklichkeit der Medien passt. Bei all den Hinweisen, die wir in diesem Buch zusammengetragen haben, wonach wir es immer wieder mit einem Journalismus zu tun haben, der eine Medienwirklichkeit entstehen lässt, die sich gerade bei den großen Themen auf eine auffällige Weise mit den dominierenden Ansichten im politischen Feld synchronisiert, liegt diese Einschätzung sehr nahe. Will greift nicht zu den harten Mitteln des politischen Journalismus bei Stelzenmüller, sondern sie greift denjenigen an, der als Vertreter jener Wahrheit in der Sendung sitzt, die — machen wir uns nichts vor — ein ziemlicher Störfaktor aufseiten gewisser politischer und medialer Elite ist.
Ursula von der Leyen, die, wie gesagt, mit in der „Will-Runde“ saß, durfte gar sagen, dass ein UN-Bericht zum Giftgaseinsatz in Ghouta im Jahr 2013 eindeutig die Schuldfrage geklärt habe. Eine Intervention vonseiten der Moderatorin fand nicht statt. Der ARD-Faktenfinder merkt in ein paar dürren Sätzen im Rahmen einer längeren Auseinandersetzung mit Lüders an:
„Doch auch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen konnte bei ‚Anne Will‘ nicht überzeugen: Ihre Aussage, in dem UN-Bericht werde eindeutig die Schuldfrage geklärt, ist nicht zutreffend. Vielmehr erhielten die Fachleute den Auftrag, den Einsatz des Giftgases im Jahr 2013 zu untersuchen — nicht aber die Täterschaft. Und so geht der Kampf der Interpretationen weiter“ (13).
Nach der Anne-Will-Sendung beziehungsweise bereits nach einem Auftritt Lüders bei Markus Lanz am 5. April 2017 attackierten Medien den Nahostexperten. Auf den Portalen Übermedien (14) und Meedia (15) findet der interessierte Leser weitere Informationen. Im Kern ging es darum, dass Lüders den Giftgaseinsatz in Ghouta als mögliche „Operation unter falscher Flagge“ bezeichnete. Er sagte unter anderem: „(…) mittlerweile wissen wir, mit einer sehr hohen Wahrscheinlichkeit, dass es nicht das Regime war, das für diesen Giftgaseinsatz verantwortlich war“ (16).
Lüders nahm später zu den Angriffen gegen ihn Stellung und sagte, er hätte nicht von einer „sehr hohen Wahrscheinlichkeit“, sondern von einer „gewissen Wahrscheinlichkeit sprechen sollen. Die Bild-Zeitung meinte jedenfalls, Lüders habe „von Russland verbreiteten Fake News eine Bühne“ geboten. Außerdem habe sich wegen Lüders „der große Manipulator Putin die Hände“ gerieben, wie der Nahostexperte in seiner Stellungnahme ausführt (17). In einem Artikel auf Spiegel Online wird Lüders in Überschrift und Unterzeile als „umstritten“ (18) bezeichnet. Selbst der Hinweis, dass eine „rechtsextreme Seite“ Lüders bescheinige, korrekt zu arbeiten, wollte Spiegel Online seinen Lesern nicht vorenthalten (19). Dass das Hamburger Medium dann auch noch seinen Lesern die Information mitteilt, Lüders sei „ergraut“, versteht sich von selbst. Nicht zu vergessen: welt.de bezeichnete den Autor als „munter drauflosplappernden Assad-Apologeten“.
Kurzum: Das „mediale Bild von dem ‚pro-russischen‘ Nahost-Experten Lüders, der Propaganda Putins in deutschen Talkshows verbreitet“ (20) zeichneten Medien mit ziemlich hoher Geschwindigkeit. Gegenüber Spiegel Online sagte Lüders:
„Als Publizist hat man es nicht leicht, wenn man einer im medialen Diskurs vorherrschenden Deutung widerspricht.“
Damit bringt Lüders das grundlegende Problem auf den Punkt. Wehe denjenigen, die sich bei wichtigen Themen gegen die dominierenden Wirklichkeitsvorstellungen in den Medien stellen. Wie in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder aufgezeigt, haben wir es mit einem journalistischen Feld zu tun, das aufgrund seiner sozialen Zusammensetzung im Wesentlichen aus der Orthodoxie agiert.
Der Glauben an jene Wirklichkeit, die aus ihr hervorgeht, ist so stark, dass Akteure wie Lüders von Medien nicht deshalb so hart angegangen werden, weil ihre Aussagen (möglicherweise) falsch sind, sondern weil ihre Einlassungen die im Mediensystem vorherrschenden Wirklichkeiten und Weltbilder stören. Ginge es nur darum, die Leser vor einer falschen Darstellung zu warnen, ginge es also nur um den wahrgenommenen journalistischen Auftrag, einen Beitrag zur Aufklärung zu leisten, dann müssten und würden Beiträge gegen „alternative Wirklichkeitsdeuter“ nicht so oft mit einem solchen publizistischen Furor erscheinen.
Entgegen den Annahmen, die in manchen Redaktionen vorzuherrschen scheinen, ist das Publikum in der Lage, rationale Argumente aufzunehmen und selbst sinnvoll abzuwägen, welchen Experten es glaubt und welchen nicht. Man muss nicht einen Autor als „umstritten“ bezeichnen. Darauf kann die Leserschaft auch von alleine kommen.
Die Reputation Lüders und seine gefestigte Position innerhalb des Mediensystems dürften dazu beigetragen haben, dass die Angriffe auf ihn nicht die Wirkung gezeigt haben, die sich manche Medienvertreter wohl gewünscht haben. Außerdem waren die Attacken gegen den Beststellerautor zwar hart, aber überschaubar, Lüders wurde nicht aus dem öffentlichen Diskurs der großen Medien exkommuniziert. Über diese Macht zur Exkommunikation verfügen die Medien fraglos.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Bourdieu 1993, Seite 134.
(2) Auch Akteure, die Medien mehr oder weniger mit dem Status der Legitimität aufgeladen haben, werden, wenn sie Ansichten vertreten, die nicht dem Mainstream entsprechen, angegangen.
(3) Anne Will: „Trump bekämpft Assad — Droht jetzt ein globaler Konflikt?”, ARD, 9. April 2017.
(4) Anne Will: „Die neue Welt-Unordnung — muss Deutschland mehr Verantwortung übernehmen?“, ARD, 17. Februar 2019. https://daserste.ndr.de/annewill/Die-neue-Welt-Unordnung-muss-Deutschland-mehr-Verantwortung-uebernehmen,annewill5902.html (Zugriff: 8. März 2019).
(5) Anne Will, 17. Februar 2019.
(6) Siehe etwa Walpen, Bernhard: Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft — Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004.
(7) Brookings Institution: Brookings-Robert Bosch Foundation Transatlantic Initiative. https://www.brookings.edu/about-the-brookings-robert-bosch-foundation-transatlanticinitiative/ (Zugriff: 8. März 2019).
(8) Brookings Institution: Constanze Stelzenmüller. https://www.brookings.edu/experts/constanze-stelzenmuller/ (Zugriff: 8. März 2019).
(9) Wer sich über die Hintergründe des CFR informieren möchte, dem kann das Buch „Kulissenschieber e. V. — Der Council on Foreign Relations und die Außenpolitik der USA“ von William Minter, Laurence H. Shoup empfohlen werden.
(10) Wikipedia: Brookings Institution. https://de.wikipedia.org/wiki/Brookings_Institution (Zugriff: 8. März 2019).
(11) Lipton, Eric; Williams, Brooke; Confessore, Nicholas: „Foreign Powers Buy Influence at Think Tanks” New York Times, 6. September 2014. https://www.nytimes.com/2014/09/07/us/politics/foreign-powers-buy-influence-at-think-tanks.html?src=me&_r=0 (Zugriff: 8.März 2019).
(12) Zur Auseinandersetzung mit Denkfabriken sei beispielsweise auf die Arbeiten von Hans-Jürgen Krysmanski verwiesen.
(13) Klöckner, Marcus: „Anne Will arbeitet mit einer bösartigen Unterstellung, so Michael Lüders im NDS-Interview“ NachDenkSeiten, 15. April 2017. https://www.nachdenkseiten.de/?p=37845 (Zugriff: 8 März 2019).
(14) Stöber, Silvia; Gensing, Patrick: „Krieg in Syrien Giftgas-Angriffe unter falscher Flagge?« Faktenfinder, 10. April 2017. http://faktenfinder.tagesschau.de/giftgas-false-flag-101.html (Zugriff: 8. März 2019).
(15) Niggemeier, Stefan: »Giftgas in Syrien. Ist Michael Lüders als Fake-News-Verbreiter überführt?«, Übermedien, 20. April 2017. https://uebermedien.de/14739/ist-michaellueders-als-fake-news-verbreiter-ueberfuehrt/ (Zugriff: 8. März 2019).
(16) Winterbauer, Stefan: „‚Pauschal diffamiert‘ — der umstrittene Nahost-Experte Michael Lüders wehrt sich gegen Medienvorwürfe“, Meedia, 24. April 2017. https://meedia.de/2017/04/24/pauschal-diffamiert-der-umstrittene-nahost-experte-michael-luederswehrt-sich-gegen-medienvorwuerfe/ (Zugriff: 8. März 2019).
(17) Stöber, Silvia;Gensing Patrik: 10. April 2017.
(18) Lüders, Michael: Pressemitteilung: Stellungnahme von Michael Lüders — Deutsch-Arabische Gesellschaft. https://www.d-a-g.de/index.php?id=41&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1016&cHash=0155c001b2923618e8f664b2d7a6078e (Zugriff: 8. März 2019).
(19) Thöne, Eva: „Umstrittener Nahost-Experte Michael Lüders. Der Weiß-Schwarz-Denker“, Spiegel Online, 24. April 2017. https://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/michaellueders-der-umstrittene-nahost-experte-im-portraet-a-1143824.html [Zugriff: 8. März
2019].
(20) Thöne, Eva 24. April 2017.