Marktgerecht krank
Die zunehmende Kommerzialisierung des Medizinbetriebs führt zur Entfremdung zwischen Ärzten und Patienten und gefährdet die Gesundheit vieler.
Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen. Das mag für viele Ereignisse des Lebens zutreffen. Aber wenn Geschehnisse auftreten, die Selbstverständlichkeiten vom Kopf auf die Füße stellen und schwerwiegende existenzielle Bedrohungen mit sich bringen, darf man sie nicht schweigend und duldend zur Kenntnis nehmen. Es ist der Zeitpunkt gekommen, sich ihnen zu stellen. Die Autorin spricht von den Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen.
von Vittoria Braun
Schon 2022 stellte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, fest:
„Unser Gesundheitswesen gerät immer mehr in eine Schieflage. Ein wesentlicher Grund dafür ist die Kommerzialisierung der Medizin, die von der Politik seit Jahrzehnten vorangetrieben wird.“
Was passierte in den letzten 25 Jahren?
Die Tür zum stärkeren Wertschätzen finanzieller Erlöse in der ambulanten Medizin wurde von der damaligen Gesundheitsministerin Andrea Fischer durch die Einführung der „Individuellen Gesundheitsleistungen“ (IGEL) geöffnet. 1998 erfolgte hierzu die erste Veröffentlichung und 1999 wurde von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) eine erweiterte Liste von IGEL-Leistungen bereitgestellt, deren Finanzierung von den gesetzlichen Krankenkassen wegen nicht ausreichender wissenschaftlicher Beweise ausgeschlossen ist. Sie sind von den Patienten selbst zu bezahlen. Damit wurden privatärztliche Leistungen offensiv forciert.
Im stationären Bereich war es bereits Anfang der 2000er-Jahre Professor Karl Lauterbach, der die Implementierung marktwirtschaftlicher Steuerungsmechanismen förderte und sich für die Einführung des Fallpauschalgesetzes (sogenanntes DRG-Gesetz: Diagnose Related Groups) einsetzte, nach dem anhand von Diagnose-Gruppen Behandlungen zum Festpreis vergütet werden. Als Einflüsterer der Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ( 2001 bis 2009) stellte er in Aussicht, dass mehr Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern entstehen und Kosten gesenkt würden. Tatsächlich wurde mit der Etablierung dieser Gesetzesregelung unser Gesundheitswesen deutlich verschlechtert: Es führte und führt zu Fehl-, Über- und Unterversorgung und zum Pflegenotstand im stationären Bereich; seit einiger Zeit wird dies als „organisierte Körperverletzung im großen Stil“ bezeichnet.
Giovanni Maio, Professor für Medizinethik an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, schreibt in seinem Buch „Geschäftsmodell Gesundheit“: „Der leidende Mensch wurde zu einem Konsumenten oder zu einem Kunden im wirtschaftlichen Sinne umdefiniert.“
Eskalierende Profitorientierung
Die seit mehr als 20 Jahren bestehende Entwicklung im deutschen Gesundheitswesen eskaliert in den letzten fünf Jahren zunehmend. Konzerne kaufen nicht nur Krankenhäuser, sondern auch Arztpraxen in großem Umfang.
Berufsfremde Finanzinvestoren haben nach einem Beitrag der ZDF-Sendung Frontal im Juli 2024 bereits in Deutschland für einen hohen Betrag Praxen von Augenärzten an einkommensstarken Orten aufgekauft und verlangen in 600 Zentren von dort tätigen Augenärzten, deutlich mehr IGEL-Leistungen durchzuführen, dazu unnötige Operationen anzubieten. Auf diese Weise gelingt es ihnen, 26 Prozent mehr als Einzelpraxen zu erwirtschaften, obwohl nicht davon auszugehen ist, dass Patienten, die in diesen Praxen versorgt werden, kränker sind. Es ist ein Warnsignal, wenn Fachärzte für Augenheilkunde ihre gutgehenden Praxen zur nochmaligen Gewinnoptimierung verkaufen und sich dann als Angestellte dem Diktat von medizinunkundigen Finanzinvestoren beugen und ihren Patienten fragwürdige IGEL-Leistungen anpreisen. Ihr Handeln verstößt gegen die Grundsätze der ärztlichen Berufsordnung. In der Sendung von Frontal wird beispielhaft auf den Patientenfall eines Kindes mit Sehstörungen hingewiesen, dessen Eltern in Berlin erst nach einem Jahr (!) einen Augenarzttermin bekamen, da die augenärztliche Betreuung von Kindern nicht kostendeckend sei.
Auch der ehemalige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (DEGAM), Professor Ferdinand Gerlach, macht auf das Problem aufmerksam. Über das Ausmaß der Gefahren referierte er auf der 49. Jahrestagung der Gesellschaft für Hochschullehre in der Allgemeinmedizin (GHA) im Juli 2024.
Er schilderte, dass der Amazon-Konzern ins Billionengeschäft mit unserer Gesundheit einsteigen will. In internen Audioaufnahmen, die Business-Insider vorliegen, bezeichnete der Amazon-Chef Andy Jassy Amazon-Care als eine der aufregendsten Investitionen des Unternehmens, indem diagnostische und pharmazeutische Angebote miteinander verbunden werden sollen. Zynisch erklärte er, dass Arztbesuche, wie sie heute durchgeführt werden, in zehn Jahren als „verrückt“ erklärt würden.
Unter anderem wird ein sogenanntes 3-Säulen-Modell geplant: Als Rundum-Paket wird als Erstes beispielsweise bei der Erkrankung eines Kindes eine virtuelle Sprechstunde durchgeführt (Amazon Care), dann erfolgen mit einem Testkit Untersuchungen (Amazon Diagnostics), deren Ergebnisse sofort übermittelt werden, worauf drittens die Behandlung realisiert wird (Amazon Pharmacy), indem mit einer Drohne Medikamente zu dem kleinen Patienten geflogen werden.
Dieses Prozedere ist in hohem Maße unärztlich und widerspricht berufsethischen Verpflichtungen. Es ist fahrlässig und entbehrt jeglicher Sorgfalt, Medikamente an ein Kind oder auch an Erwachsene zu schicken, die nicht vorher persönlich von Ärzten gesehen und gründlich untersucht wurden.
Bei Amazon besteht eine andere Sicht. Professor Gerlach zitierte in seinem Vortrag hochrangige Mitarbeiter des Konzerns. Neil Linday, Senior Vice President von Amazon Health, meinte: „Wir glauben, dass die Gesundheitsversorgung, die ganz oben auf der Liste der Dienstleistungen steht, neu erfunden werden muss.“
Und Adrian Aoun, Chief Executive Officer und Mitgründer, äußerte: „Wir glauben nicht einmal, dass es eine Arztpraxis geben sollte. Wir glauben, dass sie der Vergangenheit angehört.“ Man frage sich, mit welch eigener Überschätzung, mit welchem Zynismus und welcher Unverschämtheit er eine solche Feststellung macht.
Er berücksichtigt nicht, was medizinische Versorgung – insbesondere die hausärztliche Betreuung – bedeutet, leugnet den Wert partnerschaftlicher Beziehungen über Jahrzehnte, die gesundheitsfördernd sind und Arzt- und Patientenzufriedenheit bedingen, weiß nicht, wie wichtig soziale Kenntnisse sind, wenn es um die Klärung der Entstehung von Erkrankungen geht, hat kein Gespür dafür, wie wichtig Präsenz ist, um Menschen zu trösten und ihnen zu helfen, Trauer zu überstehen.
Das ist nicht altmodisch. Ich schätze sehr wohl den Nutzen von Telemedizin, etwa bei der Übertragung von ungeklärten Hautbefunden an einen Dermatologen oder eines komplizierten EKGs an einen Kardiologen.
Einmischung von Finanzinverstoren
Finanzinvestoren sind im Grunde bestrebt, langsam alle von Ärzten, Krankenschwestern/-pflegern und medizinischen Fachangestellten vorgenommenen Tätigkeiten auf Hardware und Software umzustellen. Sie vertreten die Auffassung, dass die Arztpraxis von heute der Vergangenheit angehört. Entpersonalisierung ist das Gebot der Stunde.
Noch erscheint ein weiteres Angebot als Science-Fiction-Unternehmen, ist aber in seiner Planung schon weit fortgeschritten: In seinem Vortrag referierte Professor Gerlach ebenfalls das Projekt „Bungalow C4U2BE“. Es handelt sich um eine unabhängige Praxis mit künstlicher Intelligenz, in der ein Bluttest und Abstriche durchgeführt, Blutdruck gemessen, der Augenhintergrund und das Trommelfeld untersucht und Röntgen- und Ultraschall-Untersuchungen vorgenommen werden können – alles ohne die Anwesenheit eines Arztes.
Die Weichen sind gestellt, dass in einem solchen Raum, der sich beispielsweise in Apotheken oder in Einkaufszentren (!) befinden kann, Patienten mit chronischen Erkrankungen wie Hochdruck oder Diabetes überwacht und behandelt werden. Das hat jedoch in der Ausführung nichts mehr mit ärztlichen Wertevorstellungen zu tun. Man stelle sich bitte eine multimorbide 86-jährige Dame in diesem Bungalow vor!
Gerade die Langzeitbetreuung ist für die Hausärzte eine prophylaktisch orientierte, lebensbegleitende Versorgung von Patienten in Kenntnis ihrer besonderen familienmedizinischen Belastung und sozialen Situation, sie ist nahezu exemplarisch für allgemeinmedizinische Langzeitbetreuung überhaupt.
Hausärzte kennen ihre Hypertoniker und Diabetiker in der Regel über Jahrzehnte, wissen um deren familiäre und berufliche Risiken, können die Verfügbarkeit gesundheitserhaltender Ressourcen einschätzen, sind in der Lage, ein vertrauensvolles und stabiles Arzt-Patient-Verhältnis aufzubauen und aufrechtzuerhalten, das wiederum die Voraussetzung für die aktive Mitwirkung von Patienten ist.
Das Betreiben der beschriebenen Bungalows widerspricht ärztlichen Grundvorstellungen und ärztlichem Ethos, konterkariert die typische allgemeinmedizinische Versorgung, zerstört unser Berufsbild und erfüllt nicht das Bedürfnis der Bürger unseres Landes nach einer über Jahrzehnte bestehenden Familienbetreuung.
Nicht nur Amazon gehört zu den sogenannten Heuschrecken, auch ein Konzern wie Otto, den man als Familienunternehmen kennt und bei dem man in der Regel Kleidung kaufte, stieg in die Telemedizin ein, erwarb den Anbieter digitaler Gesundheitsservices Medgate mit bereits über 10 Millionen durchgeführter telemedizinischer Konsultationen.
Was bedeutet das für die Ärzte?
Professor Maio mahnt in seinem Buch: „Die meisten Ärzte empfinden die Ökonomisierung als Sinnentleerung ihres Tuns, weil sie spüren, dass sie systematisch dazu angehalten werden, ihr Können und ihre Arbeitskraft für etwas einsetzen, für das sie nicht angetreten waren. (…) Ärzte werden durch das System belastet, das sie jeden Tag in die Situation einer moralischen Dissoziation hineinmanövriert.“
Und in den Thesen des Ethikrates der Bundesärztekammer zur Ökonomisierung der ärztlichen Berufstätigkeit (2022) heißt es:
„Insbesondere die zunehmende Ausrichtung des Gesundheitswesens auf die betriebswirtschaftlichen Ergebnisse hat Ärztinnen und Ärzte vor besondere Herausforderungen gestellt, denn die Orientierung der ärztlichen Tätigkeit an ökonomischen Parametern kann in ein Spannungsfeld mit ihrer Verpflichtung auf das Wohl des Patienten geraten.“
Hippokrates (460 bis 370 vor Christus) gilt als Begründer der wissenschaftlichen Medizin und wird der Vater der europäischen Heilkunde genannt. In der Entwicklung der Medizin ging es seitdem darum, Ursachen von Erkrankungen zu erforschen, ihrer Heilung auf der Spur zu sein und Gesundheit zu fördern; immer standen Ärzte und Patienten im Mittelpunkt, es ging niemals darum, diese beiden Akteure voneinander zu trennen. Welchen Weg die Medizin gehen möge, wurde in vielen Jahrhunderten von klugen, verantwortungsvollen Ärzten erforscht, beschrieben und diskutiert.
Es kann nicht sein, dass Adrian Aoun von Amazon über die Abschaffung der Arztpraxis diskutiert. Er ist kein Arzt, er weiß nichts von unserer Profession, er hat nicht die Kompetenz, über Gesundheitsversorgung zu spekulieren. Ebenso wenig darf dem milliardenschweren Versandhändler Otto, der mit Kleidung und Möbeln handelt, gestattet werden, Einfluss auf ärztliche Handlungen zu nehmen.
Grundlegende Veränderungen im Gesundheitswesen sind erforderlich
Ein maßgeblicher und nachhaltiger Einfluss auf eine optimierte Entwicklung des deutschen Gesundheitswesens kann durch die schnelle Zulassung von mehr Medizinstudenten ohne Zulassungsbeschränkung durch den Numerus clausus erreicht werden. Die berufliche Entwicklung von 1,0-Kandidaten führt oft nicht direkt in die Krankenversorgung. Nur eine fachliche und ethische Ausbildung von hoher Qualität an allen Universitäten unseres Landes wird die Grundlage bilden, dass die a priori medizinbegeisterten Abiturienten ihre positive Einstellung von der Patientenbetreuung bewahren und festigen.
Patienten und das Aktionsbündnis für Patientensicherheit sind in den Prozess der Entwicklung des Gesundheitswesens einzubeziehen. Mit ihnen ist unter anderem die sinnvolle altersadaptierte Nutzung neuer medizinischer Technik zu diskutieren.
Der zunehmende Trend, Klinikaufenthalte zu reduzieren und die Patientenbetreuung vorrangig ambulant in sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen (Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz, GVWG, das im Juni 2021 in Kraft trat) zu erbringen, bedarf der ständigen Qualitätskontrolle durch Einbeziehung von Ärzten in deren Planung und Koordination.
Grundlegende Bedeutung für eine radikale Veränderung der beschriebenen Verhältnisse besteht im Handlungswillen politischer Verantwortungsträger. Hierbei ist die derzeitige Schieflage der Überversorgung im technisch-diagnostischen Bereich und der Unterversorgung im nichtinvasiven Bereich der sprechenden Medizin geradezurücken.
Man fragt sich, wie im Verlauf von 25 Jahren von politischer Seite in solchem Umfang Fehlentscheidungen fallen konnten und Gesundheit als universelles Grundrecht der Bürger so wenig Beachtung fand.
Verändern Politiker diese gefährliche Lage in unserem Gesundheitswesen nicht kurzfristig, werden sie weiter schuldig an der Zukunft der Medizin.
Jeder einzelne Verantwortungsträger, der die marktwirtschaftliche Entwicklung des Gesundheitswesens mit Profitoptimierung zulässt oder befördert, trägt Schuld, lässt eine Entmenschlichung der Medizin zu.
Richard von Weizsäcker stellte fest, dass Schuld niemals kollektiv ist, sondern immer persönlich.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Eine Hausärztin in Sorge: Wie Amazon & Co die ärztliche Versorgung verdrängen wollen“ im Gewerkschaftsforum.
Die Autorin:
Vittoria Braun ist langjährige Hausärztin und baute den Lehrstuhl für Allgemeinmedizin an der Charité als ersten Lehrstuhl in den neuen Bundesländern auf.