Man hat die Liebe abgeschafft
Wir dürfen nicht preisgeben, was uns am Herzen liegt — schon gar nicht für die falschen Versprechungen der Mächtigen.
Dichter zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen Sachverhalt „dichter“ darstellen — also auf das Wesentliche konzentriert und vieldeutig. Der Philosoph Agamben war schon immer ein Meister des höchst aussagekräftigen Kurzartikels mit politischem Inhalt. Jetzt ist er zur Gedichtform übergangen und widmet sich einem in Coronazeiten brennend aktuellen Thema. „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren“, sagte Benjamin Franklin.
von Giorgio Agamben
Man hat die Liebe abgeschafft
im Namen der Gesundheit
dann wird man die Gesundheit abschaffen.
Man hat die Freiheit abgeschafft
im Namen der Medizin
dann wird man die Medizin abschaffen.
Man hat Gott abgeschafft
im Namen der Vernunft
dann wird man die Vernunft abschaffen.
Man hat den Menschen abgeschafft
im Namen des Lebens
dann wird man das Leben abschaffen.
Man hat die Wahrheit abgeschafft
im Namen der Information
doch die Information wird man nicht abschaffen.
Man hat die Verfassung abgeschafft
im Namen des Notstandes
doch den Notstand wird man nicht abschaffen.
Giorgio Agamben, Jahrgang 1942, lehrt heute als Professor für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti der Universität Iuav in Venedig, an der European Graduate School in Saas-Fee sowie am Collège International de Philosophie in Paris. Sein Werk wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien unter dem Titel „Si è abolito l‘amore“ auf sabinopaciolla.com. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzerteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratteam lektoriert.