Lob der Unwägbarkeit
Während die Illusion der Sicherheit bröckelt, ist es sinnvoll, geistig flexibel zu bleiben.
In einer Zeit, die das Altbekannte in globalen Maßstäben aus den Angeln hebt, scheint sich ein Tsunami des Chaos aufzutürmen, der droht, uns alle wegzuspülen. Alles, was uns einmal als sicher und richtig erschien, hat keine Gültigkeit mehr. Die „Wahrheit“ ist nur noch sehr schwer zu erkennen, und Vorhersagen für eine immer schwammiger werdende Zukunft sind kaum mehr möglich. Auf nichts ist mehr Verlass, nicht einmal darauf, dass die BILD die Medienlandschaft regiert. Diese radikale Unsicherheit kann aber auch zur Chance werden. Wo das Bekannte immer unerträglicher wird, erscheint das Unbekannte als Verlockung, finden viele auch den Mut zum großen Sprung. Nur die Freiheit, so merken wir jetzt, verhilft zu einem Leben, das diesen Namen auch verdient.
So schwierig es auch ist, so sollte man doch versuchen, das Positive an der derzeitigen Lage zu sehen. Das ist keinesfalls zynisch gemeint. Neben all dem Chaos, den Verwerfungen, dem Zwang, dem Faschismus, kann man den derzeitigen Umwälzungen auch etwas Positives abgewinnen. Denn die seit Jahrzehnten gepflegten und uns allen aufgezwungenen Weltbilder beanspruchen endlich keinerlei Gültigkeit mehr.
Die lähmende Vorhersehbarkeit, die Vorherbestimmung des kapitalistischen Systems, der träge gewordenen Gesellschaft, sie kann ihren Zweck, das Leben zu ordnen, nicht mehr erfüllen. Die öde Vorhersehbarkeit, die uns Menschen auf einen möglichst unterbrechungsfreien Lebenslauf reduziert, der über die Bildungseinrichtungen, über einen belanglosen Beruf direkt in die Rente befördert, bevor wir dann das Zeitliche segnen, sie ist vollkommen aufgehoben. Plötzlich lautet das Ziel nicht mehr: Geld, Haus, Auto, Hochzeit, Kinder, Wohlstand, Rente.
All diese Dinge können längst nicht mehr garantiert werden, und wenn keine Garantie, keine Sicherheit gegeben ist, dann ergibt es wenig Sinn, darauf zu hoffen. Aus der sedierenden Eintönigkeit eines Spätkapitalismus aufgeschreckt, müssen wir endlich selbst Herrscher unserer Leben werden. Es ist notwendig, aktiv auf die Unbill des Systemkollaps zu reagieren. Dabei ist ein hohes Maß an physischer und psychischer Flexibilität sehr hilfreich. Denn so schnell, wie sich die Welt im Äußeren ändert, muss der Einzelne in der Lage sein, sich auf diese Umbrüche einzustellen, immer in dem Wissen, dass sie nicht von Dauer sein müssen.
Waren zuvor Beständigkeit und Sicherheit die zentralen Kategorien, die das gesellschaftliche Leben bestimmten, so ist es nun die Unwägbarkeit. Morgen schon kann alles ganz anders sein als heute.
Der faschistische Totalitarismus kann jeden Tag übergriffiger werden, eine physische Flucht oder die Flucht in ein paralleles System notwendig machen. Die Illusion der Sicherheit, mit der sich der Kapitalismus lange umgeben und mit der er die Menschen sediert und zu willigen Sklaven und Konsumenten erzogen hat, sie löst sich nun endgültig auf. Damit einher geht eine Zunahme der Unsicherheit, der Unvorhersehbarkeit.
Doch das hat auch seine positiven Seiten. Denn auf diese Weise ist nichts mehr vorherbestimmt, kein Weltbild, keine Art der Lebensführung als ultimative Wahrheit gesetzt. Nie war es notwendiger als heute, auf dem Meer der Unwägbarkeiten in einem Boot der persönlichen Integrität zu rudern. Doch jenseits des Meeres liegt das Land der Möglichkeiten, nein, liegen viele Länder der Möglichkeiten. Hier gibt es die Chance, ganz neu anzufangen, eine neue, andere Gesellschaft gemeinsam mit anderen Reisenden zu errichten.
Als die ersten Siedler den amerikanischen Kontinent betraten, so taten sie das als in der Heimat Ausgestoßene und Verfolgte. Sie ließen alles zurück, das sie kannten, weil sie es nicht länger ertrugen, Opfer zu sein. Sie nahmen das Risiko der Unwägbarkeit in Kauf, um auf einem neuen Kontinent eine neue Welt zu erschaffen. Was letztlich aus dieser Welt wurde, ist an dieser Stelle nicht von Belang. Es geht um den Impuls, um den Wagemut und die Flucht nach vorn.
Es geht auch darum, sich der Unwägbarkeit, dem Unbekannten zu stellen. Denn das Bekannte wird mit jedem Tag unerträglicher.
Segeln wir also zu neuen Ufern. Wie das geschehen kann, in welche Richtung das Steuer zu drehen ist, bleibt dabei der eigenen, individuellen Fantasie überlassen. Es gibt kein richtig, es gibt kein falsch, und genau darin verbirgt sich die Chance der Unwägbarkeit. Sicherheit ist längst als Illusion demaskiert, als Lüge entlarvt.
Es gibt kein richtiges Leben im falschen, versuchen wir also nicht, ein allgemeingültiges „richtig“ zu finden, finden wir stattdessen unser eigenes, individuelles „richtig“. Denn die rechtlichen, moralischen und gesellschaftlichen Kategorien, die diese Unterscheidungen von richtig und falsch bisher für uns getroffen haben, sie lösen sich mit der alten Welt vollkommen auf und werden in ihre Gegenteile verkehrt. Rechtsstaat, Moral, Gesetzmäßigkeiten sind Geschichte. Was nun noch bleibt ist die individuelle Ethik. Seien wir Piraten auf dem Meer der Unwägbarkeiten: Radikal herrschaftskritisch, basisdemokratisch und freiheitsliebend. Denn das ist es, was Piraten tatsächlich ausgezeichnet hat.
Niemand von uns segelt indes allein. Es sind derer viele, die ausgestoßen sind von der alten Welt, die zu neuen Horizonten segeln. Schließen wir uns zusammen, um Schiffe zu bauen, Inseln zu finden und Leben zu schaffen, während der Tod versucht, uns in seinen knochigen Armen zu ersticken. Nie war es weniger sinnvoll, langfristige Pläne zu schmieden, nie war es gebotener, im Hier und Jetzt zu leben, den Moment zu genießen.
Seien wir uns bewusst, dass das Leben, egal was wir tun, mit dem Tod endet. Der Tod als Ratgeber kann eine unglaublich mächtige Wirkung haben. Doch das ist nur die eine Seite. Natürlich, wenn wir letztendlich ohnehin sterben, dann ist die Unterwerfung und Selbstverleugnung keine Option. Nehmen wir gleichzeitig das Leben als Ratgeber. Denn die Zeit bis zum Ableben möchte niemand mit bloßer Existenz, bloßem Dahinvegetieren fristen. Auch wenn es das ist, was uns der Kapitalismus gelehrt hat, was in den letzten 20 Monaten perfektioniert wurde. Doch das Leben ist mehr als das. Wir wollen nicht bloß überleben, wir wollen dabei wirklich leben.
Das Leben findet sich aber nicht in totalitären Regimen, in digitalen Diktaturen und kapitalistischem Faschismus. All dies sind Ausdrücke vollkommen erstarrter Geister, die den Tod fürchten und zugleich das Leblose verehren.
Das Leben findet man nur in der Freiheit. Freiheit bedeutet aber auch Unsicherheit, Unwägbarkeit, was bisher für die Meisten der Grund war, vor ihr in Angst zu erstarren und sie zu meiden. Diese Option ist aber für immer mehr Menschen keine mehr, wenn die Sicherheit und Verlässlichkeit des alten Systems wegfällt und die Tyrannei untragbare Ausmaße annimmt. Dann ist die Freiheit auf einmal verlockend, viel mehr noch der einzige Ausweg aus einer Misere, die als unerträgliches Dasein empfunden wird.
Lernen wir also, den Tsunami des Chaos zu segeln, und dabei möglichst nicht unterzugehen. Am Horizont winkt der Silberstreif der Hoffnung, die Verlockung des fernen Landes der Freiheit. Ob wir es erreichen werden, ist dabei vollkommen ungewiss. Doch wenn wir es nicht versuchen, dann haben wir das Leben schon aufgegeben.