Lizenz zum Klimakillen
Von der geplanten Kohlendioxidsteuer zu behaupten, sie erziele nicht die gewünschten Wirkungen, ist eine massive Verharmlosung.
Aufs Ganze betrachtet, wird eine CO2-Steuer weder eine nennenswerte Reduktion der klimaschädlichen Emissionen bewirken noch gar eine „ökologische Transformation“ der Marktwirtschaft einleiten, sondern sie ist vielmehr ein Freibrief, den sich die Gesellschaft ausstellt, um genauso weitermachen zu können wie bisher.
Um das zu verstehen, braucht es nicht viel Fantasie. Ein wenig Erfahrungswissen genügt. Selbst wenn die Steuer hier und dort gewisse Einspareffekte beim CO2-Ausstoß bewirken mag, ist doch völlig absehbar, dass diese — durch einen gesteigerten Ressourcenverschleiß — an anderer Stelle konterkariert werden. Dieser Mechanismus ist längst bekannt und wurde in der Postwachstumsliteratur breit diskutiert. So werden etwa relative Einsparungen beim Energieverbrauch, zum Beispiel effizientere Motoren, durch eine Ausdehnung des absoluten Verbrauchs überkompensiert, zum Beispiel größere Autos und höhere Stückzahlen. Das ist der sogenannte materielle Rebound-Effekt.
Des Weiteren liefern politische Maßnahmen mit einem ökologischen Anstrich die Legitimation dafür, die bestehende Produktions- und Lebensweise aufrechtzuerhalten und das Wirtschaftswachstum weiter anzukurbeln; denn schließlich wurde ja vorgeblich bereits ein relevanter Beitrag zur Erhaltung von Natur und Umwelt geleistet.
Man spricht hier von dem politischen Rebound-Effekt. Typisches Beispiel dafür war die Einführung der Abgaskatalysatoren in den 1980er-Jahren, welche die PKWs „umweltfreundlich“ machen sollte, tatsächlich aber lediglich das Alibi dafür lieferte, den Autoverkehr weiter auszubauen — seitdem hat er sich in Deutschland verdoppelt. Und schließlich gibt es auch noch den psychologischen Rebound-Effekt, der darin besteht, den Konsumenten ein gutes Gewissen zu verschaffen, damit sie weiterhin ungehemmt den massenhaft produzierten Warenschrott kaufen.
Bedürfte es irgendwelcher Belege, dass die CO2-Steuer genau auf diese Weise wirken wird, die laufende Debatte liefert sie frei Haus. Alle politisch Verantwortlichen quer durch das gesamte Parteienspektrum überschlagen sich förmlich in der Anpreisung der erwarteten Einspareffekte, um dann sogleich hinterher zu schieben, die Steuer dürfe selbstverständlich die Gesellschaft nicht über Gebühr belasten. Am absurdesten sind die Vorschläge, die Einnahmen aus der neuen Steuer sogleich wieder an die Bevölkerung auszuschütten.
Denn auch wenn dabei tatsächlich diejenigen belohnt würden, die einen etwas niedrigeren CO2-Fußabdruck als der Durchschnitt aufweisen, werden sie sicherlich das zusätzliche Einkommen sogleich wieder im Konsum anlegen, so dass der Ressourcenverbrauch nur an anderer Stelle anfällt.
Den Vogel abgeschossen hat in dieser Hinsicht mal wieder die Ökopartei CSU in Gestalt ihres obersten Umweltaktivisten Markus Söder, der ohne jeden Sinn für unfreiwillige Komik vorgeschlagen hat, die Belastungen durch die CO2-Steuer sollten durch eine Erhöhung der Pendlerpauschale kompensiert werden. Wer also mit dem Auto zur Arbeit fährt, wird zunächst an der Tankstelle zur Kasse gebeten, um das Geld dann über die Steuererklärung wieder zurückzubekommen.
Sollte die CO2-Steuer tatsächlich ökologisch einen nennenswerten Effekt haben, müsste sie hoch genug sein, um den Konsum aller energieintensiven Waren und Dienstleistungen massiv einzuschränken. Das beträfe dann allerdings fast die gesamte Palette des Konsums: angefangen beim Autoverkehr und der Heizung über den Flugverkehr bis hin zu den meisten Industrie- und Agrarprodukten. Natürlich wird das nicht geschehen. Und zwar nicht einfach deshalb, weil die Interessenverbände der Industrie und der Wirtschaft das mit allen Mitteln zu verhindern suchen — das tun sie selbstverständlich —, sondern weil keine relevante politische Partei sich an der inneren Logik eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems versündigen wird, das seinem Wesen nach auf dem Imperativ des endlosen ökonomischen Wachstums beruht.
Dieser Wachstumszwang resultiert daraus, dass im marktwirtschaftlichen System die Produktion gesellschaftlichen Reichtums aufs Ganze gesehen nur einem einzigen Zweck unterliegt: dem Zweck, aus Geld mehr Geld zu machen. Das Geld ist aber Ausdruck einer historisch ganz spezifischen Form gesellschaftlichen Reichtums. Es repräsentiert abstrakten Reichtum, Reichtum, der sich gleichgültig verhält gegenüber den stofflich-konkreten Grundlagen und Bedingungen seiner Produktion. Was zählt, ist allein, dass der Mechanismus der Geldvermehrung — also die Akkumulation von Kapital — in Gang bleibt, denn an ihm hängt die gesamte Gesellschaft wie der Junkie an der Nadel.
Die Produktion abstrakten Reichtums hat jedoch immer auch eine konkret-stoffliche Seite. Es werden Güter produziert, Transporte getätigt, Maschinen in Gang gesetzt, Rohstoffe geschürft, Wälder gerodet, und dabei wird natürlich immer auch Arbeitskraft vernutzt. All dies ist aber immer nur Mittel für den eigentlichen Zweck der Produktion. Die stofflich-konkrete Welt ist also der Produktion des abstrakten Reichtums untergeordnet. Und hiermit sind wir auch schon beim Kern des Problems. Denn anders als in der stofflich-konkreten Welt gibt es in der Welt des abstrakten Reichtums keine Grenzen. In ihr regiert das Gesetz der endlosen Vermehrung. Hat eine Summe Kapital einen Gewinn abgeworfen, fungiert dieser in der nächsten Periode selbst als Kapital und muss seinerseits Gewinn erzeugen, der dann auch wieder investiert werden muss, und so weiter und so fort.
Es liegt auf der Hand, dass diese Zwangsdynamik nicht kompatibel ist mit der natürlichen Begrenztheit der stofflich-konkreten Welt. Vielmehr läuft die Produktion abstrakten Reichtums zwangsläufig darauf hinaus, die natürlichen Lebensgrundlagen zu zerstören.
Je weiter sich die kapitalistische Produktionsweise auf dem gesamten Globus durchsetzt hat und je weiter sie expandiert, desto schneller schreitet auch diese Zerstörung voran. Denn der Hunger der abstrakten Reichtumsproduktion nach stofflichen Ressourcen wächst in exponentiellem Maßstab an. Das ist keine neue Einsicht. Schon im 19. Jahrhundert wiesen einige Autoren darauf hin — darunter auch ein gewisser Karl Marx. Und spätestens seit im Jahr 1972 der erste Bericht des Club of Rome erschien, ist die Erkenntnis, dass es „Grenzen des Wachstums“ gibt, auch ins allgemeine Bewusstsein durchgedrungen.
Dass trotzdem immer so weiter gemacht wird, als sei das alles eine Fußnote der Geschichte, liegt nicht an der Unfähigkeit der Politik oder an ihrem Unwillen, die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst zu nehmen, wie viele in der Fridays-for-Future-Bewegung meinen. Der Grund ist vielmehr das ungeheure Beharrungsvermögen einer gesellschaftlichen Produktions- und Lebensweise, die sich mittlerweile auf der gesamten Welt durchgesetzt hat und daher als alternativlos erscheint. Denn auch wenn die allermeisten Menschen über kein Kapital verfügen, sind sie doch genauso darauf angewiesen, dass der Akkumulationsprozess in Gang bleibt.
Um unter den herrschenden Bedingungen zu überleben, müssen sie entweder ihre Arbeitskraft verkaufen oder hängen auf andere Weise von Geldflüssen ab, etwa in der Gestalt von Sozialleistungen, die aber auch aus dem Kreislauf des Kapitals gespeist werden müssen. Deshalb drehen sich auch die meisten Interessenkämpfe um die Verteilung von Geld und setzen den dahinterstehenden Mechanismus als selbstverständlich voraus. Das ist der tiefere Grund, weshalb das Wirtschaftswachstum den Status einer Religion genießt und nur von gesellschaftlichen Minderheiten ernsthaft infrage gestellt wird. Und das liegt nicht daran, dass die Menschen mehrheitlich dumm oder borniert wären. Sie wissen einfach nur sehr genau, dass unter den herrschenden Bedingungen eine Schrumpfung der Wirtschaft nichts Gutes für sie bedeuten würde.
Ein konsequenter und zeitnaher Umbruch der energetischen Basis wäre ein so gravierender Einschnitt, dass er sich insbesondere in den kapitalistischen Zentren gar nicht ohne schwerste ökonomische, soziale und politische Verwerfungen durchsetzen ließe. Denn die massive Entwertung bestehender Industrieanlagen und Infrastrukturen würde einen wirtschaftlichen Schock auslösen und eine schwere Krise nach sich ziehen, deren Kosten zudem sehr ungleich verteilt wären. Sie träfe vor allem jene Regionen und Bevölkerungsteile, die in besonderem Masse von den fossilen Industrien und Strukturen abhängig sind.
Hinzu kämen noch die gewaltigen Kosten auf der Konsumseite. Millionen von konventionellen PKWs würden faktisch entwertet, Wohnhäuser müssten massenhaft neue Heizungen erhalten und wärmegedämmt werden, während gleichzeitig die Preise für praktisch alle Lebensmittel und Konsumgüter in die Höhe schössen. Auch hiervon wären wieder vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen betroffen, die über keine finanziellen Spielräume verfügen.
Wenn also die Gegner der CO2-Steuer diese als „unsozial“ brandmarken, dann haben sie durchaus starke Argumente auf ihrer Seite. Natürlich sind das ganz überwiegend Leute, denen die „soziale Frage“ sonst vollkommen egal ist und die sie hier nur aus durchsichtigen politischen und ideologischen Motiven instrumentalisieren. Dennoch verweisen sie auf ein durchaus ernst zu nehmendes Problem. Die ohnehin bestehenden sozialen und regionalen Disparitäten würden sich zweifellos deutlich vergrößern, und damit verschärften sich auch die gesellschaftlichen Verteilungskonflikte, wie jetzt schon an den Protesten der Gelbwesten deutlich wurde.
Hinzu kommt noch, dass der Streit um die Klimapolitik längst schon ideologisch und identitätspolitisch aufgeladen ist und die Gesellschaft polarisiert. Die Leugnung oder totale Relativierung des Klimawandels gehört nicht zufällig zum Kernbestand der rechtspopulistischen Ideologie. Denn diese stellt wesentlich eine regressive Reaktionsform auf die Erfahrung dar, dass die westlich-weiße Vorherrschaft auf der Welt an ihre Grenzen stößt. Deshalb hasst die rechtspopulistische Gefolgschaft mit besonderer Inbrunst alle jene, die sie an den Verlust ihrer vermeintlich selbstverständlichen Privilegien erinnern. Neben den Flüchtlingen sind das nicht zuletzt die KlimaschützerInnen, die sich dagegen wenden, die Kosten des Lebensstils in den kapitalistischen Zentren auf die übrige Welt und die kommenden Generationen abzuwälzen.
Aus dieser angespannten politischen und gesellschaftlichen Situation erklärt sich, weshalb der politische Diskurs unter dem Druck der Fridays-for-Future-Bewegung die Forderung nach einer CO2-Steuer zwar aufgegriffen hat, aber nur, um sie sogleich wieder auf ein homöopathisches Maß herunter zu dimensionieren.
Auch die Grünen machen da keine Ausnahme. Sie treten jetzt schon auf die Bremse und werden das erst recht tun, wenn sie wieder an die Regierung gelangen sollten. Gemessen an dem engen Spielraum politischen Handelns unter kapitalistischen Bedingungen ist das durchaus rational; denn eine Regierung, die anders handelte, würde eine unkontrollierbare gesellschaftliche Konfliktdynamik auslösen und binnen kürzester Zeit gestürzt. Das wissen im Grunde auch diejenigen, die sich für eine konsequent hohe CO2-Steuer einsetzen. Sie verdrängen es jedoch mit der Behauptung, diese sei durchaus mit Wachstum und der Schaffung neuer Arbeitsplätze kompatibel; es handle sich lediglich um ein Steuerungsinstrument, um die marktwirtschaftlichen Aktivitäten in eine neue Richtung zu lenken und auf „nachhaltige“ Energieformen umzustellen. Angeblich soll es sogar möglich sein, mit solchen und ähnlichen Maßnahmen eine „ökologische Marktwirtschaft“ durchzusetzen.
Im Prinzip teilen fast alle Ökonomen die Ansicht, dass sich Marktwirtschaft und Ökologie versöhnen ließen, wenn man es nur politisch geschickt anstelle. Gestritten wird lediglich darüber, welche Maßnahmen besser zum Ziel führten. Besonders angepriesen wird der Handel mit Emissionszertifikaten als Alternative oder Ergänzung zur CO2-Steuer. Doch zum einen gibt es diesen ja schon seit fast 15 Jahren auf EU-Ebene, wo er sich als ein ziemlicher Flop erwiesen hat, was ihre Anhänger natürlich immer nur auf die fehlerhafte Anwendung zurückführen. Zum anderen bewegt sich auch diese Maßnahme, selbst wenn sie einmal einigermaßen funktionieren sollte, in dem gleichen Dilemma wie die CO2-Steuer. Wäre der Preis für die Zertifikate hoch genug, um eine ernsthafte Wirkung auf den CO2-Ausstoß zu haben, würde er das „Wachstum“, also die Dynamik der Kapitalakkumulation, abwürgen. Und das darf natürlich nicht sein, weshalb es auch nicht verwundert, dass der Preis pro Tonne CO2 derzeit bei nur 25 Euro liegt.
Und schließlich stellt sich ohnehin die Frage: Wenn die Regierungen in der Lage sind, den CO2-Ausstoß der Unternehmen zu kontrollieren, warum schreiben sie dann nicht gleich entsprechende Grenzwerte vor, statt diese über den absurden Umweg eines höchst undurchsichtigen Marktes herstellen zu wollen?
Wenn überhaupt, sind es innerhalb der kapitalistischen Logik immer nur solche direkten staatlichen Vorgaben, die eine gewisse Wirkung erzielen können. Dagegen bedeutet der Versuch, beim Preismechanismus anzusetzen, immer nur einen Umweg zu nehmen, der bestenfalls minimale Wirkungen und immer negative Nebenwirkungen erzeugt.
Das gilt für die CO2-Steuer und die Emissionszertifikate genauso wie für die Vorstellung, die Produktionsweise ließe sich durch eine mit moralischem Druck bewirkte Veränderung des individuellen Konsumverhaltens verändern.
Populär sind solche Ideen nur deshalb, weil sie sich in die hegemoniale Ideologie einfügen, wonach der Markt durch die Summe der Entscheidungen von angeblich souveränen Individuen und Unternehmen gesteuert werde. Tatsächlich liegt jedoch der Antriebsmechanismus der kapitalistischen Dynamik in der Akkumulation von Kapital und damit in der Sphäre der Produktion, während Kaufentscheidungen immer nachgelagert und von dieser Dynamik abhängig sind.
Grundsätzlich ist die Vorstellung einer „ökologischen Marktwirtschaft“ nichts anderes als eine Seifenblase. Zwar kann der Kapitalismus prinzipiell in vielfältiger Weise reguliert und „eingehegt“ werden, auch wenn das im Zeitalter der Globalisierung immer schwieriger wird. — Ein „freier Markt“ ohne Regulierung existiert nur in den Horrorphantasien der Hardcore-Liberalen; es hat ihn nie gegeben und es kann ihn nie geben. — Aber die Grundlogik des Wachstumszwangs, die auf dem Selbstzweck der Kapitalakkumulation beruht, lässt sich nun einmal nicht wegregulieren, weil sie den Wesenskern des marktwirtschaftlichen Systems ausmacht.
Selbst wenn es also tatsächlich gelänge, die energetische Basis kurzfristig umzustellen, würde das die Wucht der ökologischen Zerstörung bestenfalls ein wenig abbremsen und auf andere Gebiete verschieben. Schon jetzt werden quer durch die Bank so ziemlich alle Ressourcen knapp, das Trinkwasser und sogar der Sand als Grundstoff für die Bauindustrie. Und wenn tatsächlich der Individualverkehr auch nur größtenteils auf Elektromobilität umgestellt würde, würde das zu extremen Engpässen bei der „nachhaltigen Stromproduktion“ führen und außerdem den ohnehin erbitterten Kampf um die knappen, aber notwendigen Rohstoffe wie Lithium und die „seltenen Erden“ weiter anfachen. Alle diese Beispiele verweisen letztlich nur auf den unauflöslichen Grundwiderspruch, dass ein Produktions- und Wirtschaftssystem, das auf dem Imperativ der endlosen Kapitalakkumulation beruht, einfach nicht kompatibel ist mit der natürlichen Begrenztheit der Welt.
Befinden wir uns also in einer Sackgasse? Ist die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen unvermeidlich? Ja, aber nur, wenn wir die Logik des kapitalistischen Systems als unumstößlich akzeptieren.
Wenn wir es jedoch wagen, sie grundsätzlich infrage zu stellen und praktisch zu durchbrechen, eröffnen sich neue Perspektiven.
Die Alternative zur Marktwirtschaft kann dabei selbstverständlich nicht eine staatliche Planwirtschaft sein, wie wir sie aus den Zeiten des glücklicherweise verblichenen „Realsozialismus“ kennen. Denn der war nichts anderes als ein autoritär strukturierter, staatlich organisierter Kapitalismus. Auch hier stand die Produktion des abstrakten Reichtums im Mittelpunkt, nur bildeten sich Preise, Löhne und Gewinne nicht auf dem Markt, sondern wurden von der staatlichen Planungsbehörde vorgegeben. Und auch hier war das Wirtschaftswachstum der Maßstab des Erfolgs, nur dass die staatlichen Strukturen einfach zu starr und behäbig waren, um mit dem Westen mithalten zu können, den sie eigentlich bloß im Ausmaß der Umweltzerstörung übertrafen.
Die Frage, die sich heute stellt, ist nicht die nach mehr oder weniger Staat oder Markt. Sie geht weit über diese falsche Alternative hinaus. Die notwendige gesellschaftliche Transformation hat einen viel grundsätzlicheren Charakter. Sie betrifft nicht nur „die Wirtschaft“ und ihr Verhältnis zur „Ökologie“, sondern zielt auf einen weiten, qualitativ bestimmten Begriff von gesellschaftlichem Reichtum. Dieser schließt zwar einerseits die Orientierung auf den stofflichen Reichtum ein, bedeutet also notwendig eine Aufhebung der abstrakten Reichtumsproduktion. Andererseits darf gesellschaftlicher Reichtum nicht auf die materielle Güterproduktion im engeren Sinne reduziert werden. Gesellschaftlicher Reichtum bedeutet auch und vor allem: Reichtum an sozialen Beziehungen, bedeutet die Möglichkeit, sich frei entscheiden zu können, in welcher Weise man gesellschaftlich tätig sein will. Es sind Städte, Ortschaften und Landschaften, in denen die Menschen sich wohlfühlen; es ist der Erhalt der natürlichen Umwelt und vieles anderes mehr.
Die Transformation der gesellschaftlichen Reichtumsform schließt aber auch eine grundlegende Transformation der gesellschaftlichen Beziehungsform mit ein. Es geht um ein völlig anderes Verhältnis der Menschen untereinander, zu ihrem gesellschaftlichen Zusammenhang und zur natürlichen Umwelt. In der kapitalistischen Gesellschaft treten sich die Menschen als vereinzelte Einzelne gegenüber, die allesamt ihre partikularen Interessen gegeneinander verfolgen. Ihr Verhältnis ist das der allgemeinen Konkurrenz und der wechselseitigen Fremdheit; zugleich erscheint ihnen auch ihr gesellschaftlicher Zusammenhang als äußerlicher, fremder Gegenstand, zu dem sie sich instrumentell verhalten, so wie sie selbst ja nur Mittel im Dienste der abstrakten Reichtumsproduktion sind.
Ausdruck davon ist die Verwandlung fast aller Beziehungen in Warenbeziehungen, was jeden und jede Einzelne dazu zwingt, sich ständig auf Marktfähigkeit und Verkäuflichkeit zu trimmen.
Die Gleichgültigkeit der Menschen gegeneinander sowie gegenüber der Gesellschaft und den natürlichen Lebensgrundlagen ist also ein Strukturprinzip des Kapitalismus. Die Alternative dazu kann nur eine Gesellschaft sein, die auf den Prinzipien der freien Kooperation und der Selbstorganisation beruht und in der Individualität nicht auf Abgrenzung und Selbstbehauptung beruht, sondern die individuelle Entfaltung jedes und jeder Einzelnen die Voraussetzung für die individuelle Entfaltung aller anderen ist.
Das mag utopisch klingen, doch im Grunde ist der Boden dafür längst schon bereitet. Denn die kapitalistische Gesellschaft hat nicht nur gewaltige Gefahren und Bedrohungen hervorgebracht, sondern auch Potenziale, die in die oben gezeigte Richtung weisen. Allerdings können diese Potenziale nur in bewusster Frontstellung gegen die marktwirtschaftliche Logik verwirklicht werden. Denn andernfalls werden sie nicht nur neutralisiert, sondern verwandeln sich sogar in Triebkräfte für die weitere Beschleunigung der kapitalistischen Dynamik und der Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen.
In besonderem Masse gilt das für die zunehmende Bedeutung der Produktivkraft Wissen für die Gesellschaft und die Reichtumsproduktion. Sinnvoll angewendet, würde sie es nicht nur ermöglichen, die für die Güterproduktion aufgewandte Zeit allgemein radikal zu reduzieren und trotzdem alle Menschen auf der Welt — und zwar wirklich alle — mehr als ausreichend mit stofflichem Reichtum zu versorgen. Sie birgt auch das Potenzial für eine ressourcenschonende und ökologisch verträgliche Produktion. Ein Beispiel:
Durch eine umfassende Dezentralisierung der Produktionskreisläufe bei gleichzeitiger globaler Kooperation — freier Fluss des Wissens, Austausch der nicht regional verfügbaren Ressourcen et cetera — würden nicht nur die Transportwege auf das nötige Mindestmaß verkürzt, sondern die Produktionszusammenhänge und Ressourcenflüsse wären auch viel überschaubarer und einer bewussten Steuerung leichter zugänglich.
Unter dem Diktat der kapitalistischen Rentabilitätslogik geschieht jedoch das genaue Gegenteil. So wurde, zum Ersten, zwar die Arbeitszeit in den industriellen Kernsektoren extrem reduziert, aber nur um massenhaft Arbeitskräfte „überflüssig“ zu machen und in prekäre Arbeitsverhältnisse abzudrängen, während die verbliebenen einem umso intensiveren Leistungsdruck ausgesetzt sind. Zweitens ist die Produktion nur in einem negativen Sinne „dezentralisiert“ worden, insofern nämlich die verschiedenen Produktionsabschnitte nach Kostenkriterien über den gesamten Globus verteilt wurden, was nicht nur mit einer extremen Ausbeutung der Arbeitskräfte in der Peripherie einhergeht, sondern auch allein wegen des gewaltigen Transportaufwands unter ökologischen Gesichtspunkten katastrophal ist. Und drittens schließlich sind viele umweltfreundliche und dezentral anwendbare Technologien entweder verworfen worden, weil sie nicht „rentabel“ waren, oder wurden gleich von interessierten Unternehmen entsorgt, um sich so vor der Konkurrenz zu schützen.
In ähnlicher Weise werden beispielsweise die Fähigkeiten zur Kooperation und zum selbstständigen Arbeiten, die in den modernen Unternehmen immer wichtiger geworden sind, ständig durch die allgegenwärtige Konkurrenz und den Leistungsdruck sowie den permanenten Zwang zur „Marktfähigkeit“ konterkariert — was sich nicht zuletzt in einer starken Zunahme psychischer Leiden niederschlägt. Oder es ist die an sich vernünftige Idee, nicht alle möglichen Güter zu besitzen, sondern sie zu teilen und gemeinsam zu nutzen, innerhalb kürzester Zeit in ein neues Geschäftsfeld verwandelt worden, das den Grundgedanken der Sharing Economy in ihr glattes Gegenteil verwandelt hat.
So hat beispielsweise Uber die ohnehin schon prekären Arbeitsbedingungen im Transportgewerbe noch einmal verschlechtert und im Übrigen nicht etwa zur Reduzierung, sondern zur Zunahme des Autoverkehrs in den Städten beigetragen, weil viele Leute sich lieber von einem Dienstleistungssklaven chauffieren lassen, als die U-Bahn oder den Bus zu nutzen. Und schließlich ist auch das Internet längst schon in ein riesiges Geschäftsfeld für die Unterhaltungsindustrie, die Werbebranche und die unterschiedlichsten kriminellen Machenschaften sowie in ein gigantisches Überwachungsinstrument verwandelt worden, während die darin enthaltenen — und anfangs euphorisch gefeierten — Potenziale für eine global vernetzte Kooperation und den freien Fluss des Wissens nur noch in Nischen genutzt werden.
Die Aufzählung ließe sich fast endlos fortsetzen. Sie verweist auf die ungeheure Flexibilität und Attraktionskraft der kapitalistischen Logik, der es immer wieder gelungen ist, widerstrebende Tendenzen und Impulse zu integrieren und für die Fortsetzung der eigenen Akkumulationsdynamik nutzbar zu machen. Allerdings gibt es immer auch Einzelne, Gruppen und Initiativen, die sich dieser Logik widersetzen, auch wenn diese in der Regel randständig bleiben und erst im Rahmen von starken sozialen Bewegungen an Bedeutung gewinnen können. Hinzu kommt noch ein Weiteres.
Zwar verfügt das kapitalistische System über eine ungeheure Fähigkeit, die Grenzen seiner Existenz immer wieder hinauszuschieben, aber der Preis dafür ist eine Verschärfung des Krisenpotenzials und der damit einhergehenden Zerstörungswucht.
Das betrifft nicht nur den unauflöslichen Widerspruch zwischen dem Drang zur endlosen Kapitalakkumulation und der natürlichen Begrenztheit der Welt, der durch symbolische Maßnahmen wie eine CO2-Steuer oder andere Ersatzhandlungen wie die Moralisierung des Konsums so lange verdrängt wird, bis er ein Ausmaß erreicht, das tatsächlich die menschlichen Lebensbedingungen auf der Erde infrage stellt.
Auch auf der Ebene der ökonomischen Dynamik stößt der Kapitalismus mittlerweile an seine historischen Grenzen. Denn die umfassende und systematische Automatisierung und Digitalisierung der Produktion seit den 1980er-Jahren zog nicht nur eine enorme Erhöhung des Arbeits- und Leistungsdrucks nach sich, sondern hatte auch gewaltige Auswirkungen auf die Selbstzweckbewegung der Kapitalverwertung.
Da diese wesentlich auf der Anwendung von Arbeitskraft in der Warenproduktion beruht, löste deren massenhafte Verdrängung zwangsläufig einen fundamentalen Krisenprozess aus, der bis heute anhält. Zwar hat auch hier wieder das kapitalistische System seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, die eigenen Widersprüche zu verdrängen; der Schwerpunkt der Kapitalakkumulation wurde auf die Ebene der Finanzmärkte verlagert, wo das fiktive Kapital, also der Vorgriff auf „zukünftigen Wert“ in der Gestalt von Anleihen, Aktien und anderen Finanzmarktpapieren seit bald vierzig Jahren den Takt der Weltwirtschaft vorgibt. Doch auch wenn es so gelang, die historischen Grenzen der Kapitalakkumulation noch einmal zu verschieben, ist der Preis dafür doch eine Vervielfachung des Krisenpotenzials, das sich in wiederkehrenden Finanzmarktkrisen entlädt.
Da jeder dieser Krisenschübe aber mit schöner Regelmäßigkeit durch die „Produktion“ von noch mehr fiktivem Kapital gelöst wird, also durch die Anhäufung von noch mehr Sprengstoff, fällt zwangsläufig jede nachfolgende Explosion umso heftiger aus. Schon jetzt zeichnet sich der nächste Crash an den Finanzmärkten ab, der die ökonomischen, sozialen und politischen Auswirkungen der Krise von 2008 bei Weitem in den Schatten stellen wird.
Für sich genommen ist also die Tatsache, dass die kapitalistische Dynamik in mehrfacher Hinsicht an ihre historischen Grenzen stößt, keine gute Nachricht. Denn das kapitalistische System bricht nicht einfach zusammen und verschwindet im Nichts, vielmehr entfaltet es in dem Versuch, seine eigene Existenz zu verlängern, noch einmal eine ungeheure Zerstörungsgewalt und hinterlässt, wenn es nicht daran gehindert wird, die Erde als verwüstetes Feld. Verhindern kann das nur eine globale Bewegung, die sich entschlossen gegen die kapitalistische Logik stellt und zugleich das Terrain für eine selbstorganisierte, kooperative Gesellschaft jenseits der abstrakten Reichtumsproduktion erkämpft.
Der Weg in eine solche Gesellschaft führt nicht über die Parlamente, aber auch nicht über die klassische Revolution der bürgerlichen Epoche nach dem Muster von 1789 oder 1917. Denn diese zielte immer schon darauf, den Gewaltapparat des Staates zu okkupieren, um ihn als Agentur für eine gesellschaftliche Transformation von oben zu nutzen, und reproduzierte damit nur das bestehende Herrschaftsverhältnis, statt es aufzuheben. Eine kooperative, selbstorganisierte Gesellschaft beruht jedoch auf dem Prinzip der freiwilligen Assoziation der gesellschaftlichen Individuen und kann daher nicht von oben verordnet, sondern nur von einer globalen Emanzipationsbewegung in einer konfliktreichen Auseinandersetzung mit der bestehenden Gesellschaft entwickelt werden. Die Spielräume dafür müssen aber erkämpft werden: durch die Aneignung der nötigen Ressourcen — Grund und Boden, Gebäude, Produktions- und Kommunikationsmittel et cetera — für den Ausbau der eigenen Strukturen und durch das aktive Zurückdrängen der abstrakten Reichtumsproduktion und ihrer ebenso imperialen wie destruktiven Dynamik.
Entscheidend wird dabei natürlich auch der Kampf um die Deutungshoheit in der Gesellschaft sein. Die beiden Gegner sind klar definiert. Das ist einerseits die liberale Simulations- und Postpolitik, die unter der Berufung auf „Sachzwänge“ das marktwirtschaftlich-kapitalistische System für alternativlos erklärt und allenfalls zu ein paar kosmetischen Korrekturen bereit ist. Und es ist andererseits die Neue Rechte, die sich als Gegenmodell zum Liberalismus profiliert, obwohl sie nur dessen regressives Spiegelbild darstellt und für eine autoritäre, rassistische und offen gewalttätige Zuspitzung der Krisendynamik steht. Dazwischen jedoch liegt ein breites und heterogenes Feld von Diskursen, Bewegungen und Initiativen, aus dem sich eine gesellschaftliche Gegenmacht bilden könnte, wenn eine neue Perspektive gesellschaftlicher Emanzipation sichtbar und praktisch greifbar wird und eine synthetisierende Kraft entfaltet.
Die Fridays-for-Future-Bewegung birgt durchaus die Potenziale, zur Initialzündung einer solchen Gegenmacht zu werden. Sie hat ein Bewusstsein für die existenzielle und weltweite Dimension der Krise, sie ist global vernetzt und nicht-hierarchisch organisiert, sie will die Gesellschaft praktisch verändern — und sie hat die wichtige Erfahrung gemacht, dass sie mit entschlossenem Druck von unten gesellschaftlich und politisch etwas bewegen kann.
Ihre Schwäche besteht allerdings darin, dass sie mit ihrer Kritik und ihren Forderungen bisher noch ganz im Rahmen der herrschenden gesellschaftlichen Funktionsweise verbleibt und politisch vor allem die besonders konsequente Anwendung der CO2-Steuer und von ähnlichen politischen Instrumenten fordert sowie den Konsumverzicht propagiert. Damit bewegen sich die Protestierenden aber in einem Diskursfeld, in dem sie nur verlieren können, denn es ist ein Leichtes nachzuweisen, dass diese Forderungen mit der marktwirtschaftlichen Systemlogik nicht kompatibel sind. Will die Fridays-for-Future-Bewegung in der Offensive bleiben, muss sie daher dazu übergehen, diese Logik radikal infrage zu stellen. Tut sie es nicht, wird sie dabei zusehen müssen, wie ihr Protest gegen den Klimawandel in eine Lizenz zum Klimakillen verwandelt wird.
Redaktioneller Hinweis: Der Beitrag von Norbert Trenkle erschien bei Streifzüge — Magazinierte Transformationslust (Österreich) und im untergrundblättle (Schweiz). Er wurde von Neue Debatte übernommen. Einzelne Absätze wurden zur besseren Lesbarkeit im Netz hervorgehoben.
Norbert Trenkle, Jahrgang 1959, ist in Lateinamerika aufgewachsen und lebt in Nürnberg. Durch das Studium der Betriebswirtschaft geschädigt, wurde er in die Ökonomiekritik getrieben. Er ist freier Publizist, Redakteur der Zeitschrift krisis, Mitherausgeber von „Dead Men Working — Gebrauchsanweisungen zur Arbeits- und Sozialkritik in Zeiten kapitalistischen Amoklaufs“ (Münster 2004; 2. Auflage 2005) sowie Mitautor von „Die große Entwertung. Warum Spekulation und Staatsverschuldung nicht die Ursache der Krise sind" (Ernst Lohoff, Norbert Trenkle, Unrast-Verlag 2012).