Literarische Sisyphosarbeit

Albert Camus engagierte sich in einer als absurd erlebten Welt beharrlich gegen den Krieg und für die Freiheit aller.

In einer Welt, die jeden spirituellen Halt verloren zu haben scheint und in der alle herkömmlichen Sinnangebote als Täuschung entlarvt sind — wozu da noch Engagement? Wer wie Albert Camus nicht mehr an die traditionellen Erklärungsansätze wie Gott oder diverse Ideologien glaubt, findet sich zurückgeworfen auf die menschliche Existenz selbst, die als vergänglich und radikal unsicher erlebt wird. Wem transzendenter Trost fehlt, könnte in Lethargie, in Amoralität oder auch in Hedonismus verfallen. Nichts davon kennzeichnet jedoch den großen Existenzialisten und Schriftsteller („Die Pest“) Albert Camus. Er engagierte sich sein Leben lang in politischen Belangen, begehrte auf gegen den Krieg, gegen Unrecht und Freiheitsberaubung. Es ist, als wolle er den Menschen zurufen: „Es ist sinnlos, also lass es uns genießen!“ Die Freiheit des weltanschaulich nicht mehr in Fesseln liegenden Menschen soll sich ausweiten zur auch politischen Freiheit aller. In dieser gedanklichen Wendung kann Camus auch uns Heutigen, die sich in einer historisch nicht weniger absurden Situation wiederfinden, ein Vorbild sein.

Auf der Suche nach einer aufbauenden Lektüre, die in diesen finsteren Zeiten Orientierung bieten kann, stieß ich wieder, wie bereits in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, auf die Werke und Gedanken von Albert Camus.

Camus‘ Wirkungsgeschichte geht weit über die Literatur hinaus. Als Repräsentant des französischen Existenzialismus atheistischer Prägung beeinflusste er nicht nur im vergangenen Jahrhundert das Denken über die Grundfragen der menschlichen Existenz, die Rolle der Intellektuellen und das Engagement des Individuums für Freiheit und Gerechtigkeit (1), seine Werke bieten auch heute noch eine grundlegende Orientierung. Die Forschungsergebnisse der naturwissenschaftlichen Tiefenpsychologie hat Camus bereits mitberücksichtigt.

Zwar erlangte das umfangreiche literarische Gesamtwerk des Literatur-Nobelpreisträgers (1957) weltweite Anerkennung — sein journalistisches Schaffen, seine Artikel in libertär-sozialistischen Zeitschriften sowie sein Buch „Der Mensch in der Revolte“ (1961) sind jedoch weniger bekannt. Sie inspirierten anarchistische Bewegungen weltweit, führten zu einer Neuorientierung in der Nachkriegszeit und waren 1952 Anlass für die Auseinandersetzung und den Bruch mit Jean-Paul Sartre (2).

Einen guten Überblick über das Denken und Wirken Camus‘ und sein umfassendes Verständnis des Menschen in der Revolte ermöglicht das Buch „Albert Camus. Libertäre Schriften (1948 bis 1960)“, das der französische Journalist und Übersetzer Lou Marin 2013 herausgegeben hat (3).

Am besten lässt sich die tapfere Diesseitsbejahung im Werk Camus‘ mit dem Satz Pindars beschreiben, der der Abhandlung von Camus‘ „Der Mythos von Sisyphos“ vorangestellt ist:

„Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus“ (4).

„Geben, wenn man kann. Und nicht hassen, wenn das möglich ist.“

Camus‘ letzte Nachricht, die die nachkommende Generation inspirieren sollte (5), wurde in der libertären Zeitschrift Reconstruir (Wiederaufbau) auf der Titelseite ihrer Ausgabe vom Januar/Februar 1960 veröffentlicht. Es war Camus‘ Antwort auf einen Fragebogen über das Problem der internationalen Beziehungen. So fragte die Zeitschrift:

„Geben Ihnen die Gipfeltreffen zwischen den Vertretern der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion irgendeine Hoffnung, was die Möglichkeiten der Überwindung des Kalten Krieges und der Teilung der Welt in zwei antagonistisch sich gegenüberstehende Blöcke betrifft?“

Camus‘ Antwort:

„Nein. Die Macht macht denjenigen verrückt, der sie innehat“ (6).

Die letzte Frage von Reconstruir lautete:

„Wie sehen Sie die Zukunft der Menschheit? Was müsste man tun, um zu einer Welt zu kommen, die weniger von der Notwendigkeit unterdrückt und freier wäre?“

Darauf antwortete Camus mit seiner bekannten Botschaft an die nachfolgende Generation:

„Geben, wenn man kann. Und nicht hassen, wenn das möglich ist“ (7).

Auf den Frieden hoffen und für ihn kämpfen

Für Camus war nichts unentschuldbarer als Krieg und der Aufruf zum Völkerhass. Seiner Meinung nach hätte der Westen Besseres zu tun, als sich in Kriegen und Streitereien selbst zu zerfleischen Aber wenn der Krieg einmal ausgebrochen ist, so meinte er, sei es zwecklos und feige, sich unter dem Vorwand, man sei nicht für ihn verantwortlich, abseits zu stellen (8).

In der französischen Zeitschrift Défense de l’homme vom 10. Juni 1949 ergänzte er auf deren Feststellung hin, dass die Zukunft düster aussehe:

„Warum? Es gibt nichts mehr zu fürchten, denn wir haben das Allerschlimmste kennengelernt. Es gibt daher von nun an nur noch Gründe dafür, zu hoffen und zu kämpfen.“

Auf die Frage: „Mit welchem Ziel?“ antwortete er: „Für den Frieden.“

„Ich setze auf den Frieden. Darin liegt mein ganz eigener Optimismus. Aber man muss für ihn etwas tun, und das wird schwer. Darin liegt mein Pessimismus. Jedenfalls bekenne ich mich heute einzig und allein zu den Friedensbewegungen, die versuchen, sich auf internationaler Ebene zu verbreiten. Auf ihrer Seite finden sich die wahren Realisten. Und ich bin mit ihnen“ (9).

In seinen Tagebucheintragungen von 1939 meinte Camus, dass nichts festgelegt sei und man alles ändern könne; auch Kriege könne man verhindern:

„Es gibt ein einziges Verhängnis, nämlich den Tod, und darüber hinaus gibt es keines mehr. In dem Zeitraum, der von der Geburt bis zum Tod reicht, ist nichts festgelegt: Man kann alles ändern und sogar dem Krieg Einhalt gebieten und sogar den Frieden erhalten, wenn man inständig, stark und lange genug will. Grundsatz: Zuerst nach dem suchen, was jeder Mensch an Wertvollem in sich trägt“ (10).

In den „Seiten aus dem Tagebuch (1939)“ in Lou Marins Buch gibt es auch einen Brief, in dem sich Camus an einen Verzweifelten wendet:

„Sie schreiben, dass dieser Krieg Sie bedrückt, dass Sie bereit wären zu sterben, dass Sie aber diese weltweite Dummheit nicht ertragen können, diese blutrünstige Feigheit und diese verbrecherische Naivität, die immer noch glaubt, menschliche Probleme könnten mit Blut gelöst werden. Ich lese Ihre Zeilen, und ich verstehe Sie. (…)

Ich verstehe Sie, aber ich kann Ihnen nicht mehr folgen, wenn Sie aus dieser Verzweiflung eine Lebensregel machen und sich hinter Ihren Ekel zurückziehen wollen, weil ja doch alles unnütz sei. Denn die Verzweiflung ist ein Gefühl und kein Zustand. Sie können nicht darin verharren. Und das Gefühl muss einer klaren Erkenntnis der Dinge weichen. (…).

Heute sind Sie überzeugt, dass Sie nichts mehr verhindern können. Dies ist der springende Punkt. Aber zunächst müssen Sie sich fragen, ob Sie wirklich alles getan haben, um diesen Krieg zu verhindern. Wenn ja, könnte dieser Krieg Ihnen als ein Verhängnis vorkommen, und Sie könnten die Meinung vertreten, dass nichts mehr zu machen sei. Aber ich bin sicher, dass Sie nicht alles getan haben, was nötig war, genauso wenig wie wir alle. Sie haben es nicht verhindern können? Nein, das stimmt nicht. Dieser Krieg war nicht unabwendbar, das wissen Sie. (…).

Sie haben eine Aufgabe, zweifeln Sie nicht daran. Jeder Mensch besitzt einen mehr oder weniger großen Einflussbereich. Er verdankt ihn seinen Mängeln ebenso sehr wie seinen Vorzügen. Aber wie dem auch sei, er ist vorhanden und er kann unmittelbar genutzt werden. Treiben Sie niemanden zum Aufruhr. Man muss mit dem Blut und der Freiheit der anderen schonend umgehen. Aber Sie können zehn, zwanzig, dreißig Menschen davon überzeugen, dass dieser Krieg weder unabwendbar war noch ist, dass noch nicht alle Mittel versucht worden sind, ihm Einhalt zu gebieten, dass man es sagen, es wenn möglich schreiben, es wenn nötig hinausschreien muss! Diese zehn oder dreißig Menschen werden es zehn anderen weitersagen, die es ihrerseits wieder verbreiten. Wenn die Trägheit sie zurückhält, nun gut, so fangen Sie mit anderen wieder von vorne an. (…).

Individuen sind es, die uns heute in den Tod schicken. Warum sollte es nicht anderen Individuen gelingen, der Welt den Frieden zu schenken? Nur muss man beginnen, ohne an so große Ziele zu denken. Vergessen Sie nicht, dass der Krieg ebenso sehr mit der Begeisterung derer geführt wird, die ihn wollen, wie mit der Verzweiflung derer, die ihn mit der ganzen Kraft ihrer Seele ablehnen“ (11).

Camus‘ Werke sind eine Schulung im Geiste der Revolte

Camus‘ Denken kulminiert in der Aufforderung zur Revolte im Sinne eines unablässigen Kampfes um ein höheres Maß an Freiheit. Der zum Bewusstsein seiner selbst gelangte Mensch kann nichts anderes tun, als sich gegen die Bedingungen der Sozialordnung aufzulehnen. Die ihm entsprechende Lebensform ist die permanente Empörung.

Wenn der Mensch in seiner Verlassenheit zu sich kommt, kann er gemäß Camus‘ entweder den Selbstmord wählen oder sich entschlossen diesem Dasein zuwenden, das nur durch diese Zuwendung Sinn bekommt. Gleichgültigkeit ist ausgeschlossen.

Das Ich hat die Welt absurd genannt und bekennt sich somit zum Willen, diese Welt zu verändern. Die Absurdität der Welt zur Kenntnis zu nehmen heißt: sich gegen sie auflehnen. In diesem Akt der Empörung findet der Mensch zu sich selbst — in Abwandlung der Formel von Descartes kann ich sagen: „Ich empöre mich, also bin ich!“ Der hellsichtig gewordene Mensch, der sich als Herr seines Schicksals weiß, verschreibt sich dem Geist der Revolte.

Einmal auf dem Standpunkt der Revolte stehend, erblickt der Mensch in seinen Mitmenschen Bedrückte seiner Art und sieht sich in der Gemeinschaft der Leidenden, zu der er sich selbst als zugehörig betrachtet. Auflehnung im Namen von Menschenrecht und Menschenwürde kann aber nie für den Einzelnen allein geschehen — sie geschieht für alle Menschen: „Ich empöre mich — also sind wir!“

Für den freien Menschen gibt es kein höheres Ziel als die Verwirklichung der Freiheit aller. Gerade das ist die eigentliche Hingabe an die Menschen der Zukunft.

Die wahre Großzügigkeit gegenüber der Zukunft besteht darin, in der Gegenwart alles zu geben.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Bouchentouf-Siagh, Zohra, und Kampits, Peter: Zur Aktualität von Albert Camus. Wiener Vorlesungen. 2001. Wien
(2) Marin, Lou (Herausgeber): Albert Camus.Libertäre Schriften (1948-1960). 2013. Hamburg. Buchumschlag Innenklappe
(3) Am angegebenen Ort
(4) Camus, Albert: Der Mythos von Sisyphos. 1959. Hamburg. Seite 7
(5) Marin, Lou (Herausgeber). Albert Camus. Libertäre Schriften (1948-1960). 2013. Hamburg, Seite 363
(6) Am angegebenen Ort, Seite 363 folgende
(7) Am angegebenen Ort, Seite 364
(8) Am angegebenen Ort, Seite 197
(9) Am angegebenen Ort, Seite 81
(10) Am angegebenen Ort, Seite 267
(11) Am angegebenen Ort, Seiten 271 folgende