Libanon am Scheideweg

Die Menschen in dem arabischen Land sind in Bewegung — dass bis heute unklar ist, wohin, macht die Lage brandgefährlich.

Seit über einem Monat finden im Libanon Proteste mit Straßenblockaden statt. Jeden Tag gehen tausende Libanesen, vom Norden bis zum Süden des Landes, auf die Straße, um ihrem Unmut über die Lebensumstände Luft zu machen. Sie haben das komplette Land lahmgelegt. Doch wohin der Volksaufstand führen wird, ist in Zeiten einer verheerenden Wirtschafts- und Finanzkrise vollkommen offen. Ein Erfahrungsbericht.

Weitaus mehr als WhatsApp oder FaceTime

Als Initialzündung der Protestbewegung gilt der 17. Oktober 2019. An diesem Tag verkündete der libanesische Telekommunikations-Minister Mohammed Choucair eine neue Gebühr für Sprachanrufe auf das Voice-Over-Internet-Protokoll (VoIP), das von Anwendungen wie WhatsApp, FaceTime oder Skype verwendet wird. Telefondienste sind im Libanon extrem teuer. Die Branche ist, wie nahezu alle lukrativen Wirtschaftszweige, von regierungsnahen Großindustriellen monopolisiert worden.

Als ich mir vor gut einem Monat eine Telefonnummer zulegte, musste ich allein 30.000 Libanesische Pfund (LBP), umgerechnet circa 20 US-Dollar, für eine SIM-Karte bezahlen. Dazu kamen noch circa 26 Dollar für fünf Gigabyte mobile Datennutzung. Damit nicht genug: Die Nutzung einer Mobilfunknummer ist monatlich begrenzt, so dass für eine Verlängerung zusätzliche Kosten anfallen. Die billigste Option ist eine SIM-Karte mit reiner WhatsApp-Flatrate für circa 4 US-Dollar. Diese Variante nutzen sehr viele Libanesen, um mit ihrer Familie im Ausland Kontakt pflegen zu können.

Seit dem zweiten libanesischen Bürgerkrieg (1975 bis 1989) ist ein großer Anteil der Bevölkerung emigriert. Aus diesem Grund existiert eine große Diaspora auf der Arabischen Halbinsel, in Europa, Nordamerika, Lateinamerika, Ozeanien und Westafrika. Offizielle Statistiken gibt es nicht, jedoch wird die libanesische Diaspora mittlerweile größer eingeschätzt als die einheimische Bevölkerung mit circa 6 Millionen Einwohnern.

Vor diesem Hintergrund traf die Besteuerung der Internetkommunikation das Volk ins Mark. Ironischerweise verbreiteten sich die Bilder der Demonstrationen vor allem über WhatsApp und Facebook, so dass sich am Abend des 17. Oktobers weitere Tausende dem Protestzug auf dem zentralen Märtyrerplatz und auf dem Riad-al-Solh-Platz vor dem Parlamentssitz in Beirut anschlossen.

Die aufgebrachten Demonstranten errichteten in zahlreichen Beiruter Vierteln brennende Straßenbarrikaden, von denen einige außer Kontrolle gerieten. Im Luxusviertel Downtown gerieten zwei sich noch im Bau befindende Gebäude in Brand. In dem Feuerinferno kamen zwei syrische Bauarbeiter ums Leben. Als sich der Konvoi des Ministers für Hochschulbildung Akram Chehayeb einer Straßensperrung näherte, hinderten dutzende Demonstranten diesen an der Weiterfahrt. Einer seiner Leibwächter schoss wild mit einer Maschinenpistole in die Luft, um dem Konvoi einen Weg zu bahnen. Eine bis heute unbekannte Frau trat ihm trotz seiner Maschinenpistole in die Genitalien. Die Aufnahme dieser Szene sollte zum Symbol des libanesischen Aufstandes werden.

Es wurden große Feuer vor der Blauen Moschee und der orthodoxen Kirche nahe dem Märtyrerplatz entfacht. Die nebeneinander stehenden Gotteshäuser stellen das Symbol für die friedliche Koexistenz der 18 Religionsgemeinschaften im Libanon dar. Die Korrespondentin der Deutschen Welle, Diana Hodali, beschrieb die erste Protestnacht auf Twitter so: „Alle Hauptstraßen sind mit brennenden Reifen und Müll blockiert“, kurzum Beirut stünde „buchstäblich in Flammen!“

Dieses Ausmaß der Proteste machte bereits am 18. Oktober deutlich, dass es hier um weit mehr geht, als nur um WhatsApp oder FaceTime. Die libanesische Bevölkerung ist im Aufruhr. Auf dem Riad-al-Solh-Platz kam es erneut zu heftigen Zusammenstößen, als hunderte Demonstranten versuchten, den Sitz des Staatspräsidenten, den Baabda-Palast, zu stürmen.

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Bild 1: Riad-al-Solh-Platz in Downtown-Beirut kurz vor dem Sturm auf den Baabda-Palast am 18. Oktober 2019, Foto: Abdalla Ajami

An den ersten beiden Protesttagen kam es vielerorts zu schweren gewaltsamen Auseinandersetzungen. Schon am 18. Oktober behandelte das Lebanese Red Cross (LRC) über 100 verletzte Demonstranten, während das Innenministerium angab, dass rund 40 Sicherheitskräfte und 60 Polizisten verletzt wurden.

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Bild 2: Ausschreitungen nahe dem Riad-al-Solh-Platz in Downtown-Beirut am 18. Oktober 2019, Foto: Myriam Boulos

Die alte Garde soll sich zum Teufel scheren

Nach den ersten gewaltsamen Protesttagen sollten sich die Ausschreitungen zunächst befrieden. Am Wochenende des 19. und 20. Oktobers kam es zu landesweiten Massenprotesten. Es beteiligten sich vielerorts auch Eltern mit ihren Kindern an den Demonstrationszügen. Viele Demonstranten schwenkten die Nationalflagge und skandieren Slogans, die stark an die Arabellionen von 2011 erinnern: „Ash-Shaab yurid Isqat an-Nizam“ (Das Volk will den Sturz des Regimes) und „Thawra, Thawra“ (Revolution, Revolution) oder auch „Kilun yani Kilun“ (Jeder meint jeden; dies bezieht sich auf die Forderung des Rücktritts der Regierung) und „Hela hela ho, Gebran Bassil, kis emo“ (Hela, hela ho, Gebran Bassil, auf die Genitalien seiner Mutter).

Letzterer ist ein Schmähruf, der den Außenminister und Anführer des Free Patriotic Movements (FPM) Gebran Bassil beleidigt, indem er die Fruchtbarkeit seiner Mutter verflucht. Die unter der Protestbewegung prominente Beleidigung bedeutet im Allgemeinen, dass er sich zum Teufel scheren soll.

Die Protestler beschuldigen ihn, den Konfessionalismus im Land wiederzubeleben, um daraus politisches Kapital zu schlagen und verurteilen ihn wegen seiner politischen Allianz mit der schiitischen Hisbollah. Ferner steht Bassil für viele Demonstranten wie kein anderer für den Klientelismus und die Vetternwirtschaft der politischen Elite, zumal er der Schwiegersohn Michel Aouns ist, des FPM-Begründers und gleichzeitig libanesischen Präsidenten.

Ob dies allerdings ein Grund ist, ihn auf diese Art und Weise zu beleidigen, bleibt zu hinterfragen. Zumal eine solche öffentliche Schmähung eines Politikers und seiner Mutter in der arabischen Welt mehr als nur ein Tabubruch ist.

Seit dem Attentat auf den ehemaligen Premierminister Rafik Hariri im Jahr 2005 hat es keine vergleichbaren konfessionsübergreifenden Demonstrationen im Libanon gegeben. Ein absolutes Novum ist, dass sich die zivilgesellschaftliche Bewegung konfessions- und parteiübergreifend nach innen formierte, das heißt gegen die eigene Regierung. Sunniten schicken Schiiten Protestgrüße vom Norden in den Süden des Landes und dies, obwohl beide Teile des Libanons durch wirtschaftliche und religiöse Konfliktlinien als gespalten gelten. Dagegen richteten sich 2005 die Demonstrationen nach außen — gegen die Stationierung der syrischen Streitkräfte im Libanon (1976-2005).

Obwohl die Proteste von 2005 die syrische Vormachtstellung im Land beendeten, folgte — wie so oft auf politische Umwälzungen im Zedernland — eine jahrelange Anschlagsserie mit politischen Morden. Dies ist im Bewusstsein der Bevölkerung tief verankert, dennoch protestiert ein großer Teil von ihr unermüdlich weiter.

Das Zedernland kurz vor dem Kollaps

Die Einführung der neuen Steuer hätte den Bürger „nur“ sechs US-Dollar pro Monat gekostet. Doch es geht nicht um diese WhatsApp-Steuer allein — sie war nur eine der jüngsten Ankündigungen diverser politischer Entscheidungen zu Lasten des Volkes. Die Regierung hatte schon am 3. September 2019 den „Wirtschaftsnotstand“ ausgerufen, nachdem das Land in eine tiefe Rezession gerutscht war, die durch eine zusätzliche Finanzkrise weiter verschärft wurde. Seit vielen Jahren gilt der Libanon als das Land mit der höchsten Schuldenrate weltweit.

Nach Angaben des Finanzministeriums liegt die Staatsverschuldung bei rund 86 Milliarden US-Dollar. Das entspricht über 150 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Darüber hinaus kämpfen die Libanesen mit einer massiven Müll- und Umweltkrise. Die Arbeitslosenquote liegt bei 25 Prozent, unter Jugendlichen sogar bei 37 Prozent — diese beinhaltet noch nicht die Masse an palästinensischen und syrischen Flüchtlingen im Land. Selbst gut ausgebildete junge Männer finden kaum Arbeit. Bei den Frauen ist die Situation aufgrund der bis heute bestehenden patriarchalischen Berufsstrukturen noch prekärer.

Für die Regierung geht es demnach um nichts Geringeres, als das Land vor einem kompletten Staatsbankrott zu bewahren. Doch obwohl sich der Libanon aktuell damit bereits in einer der schwersten Krisen seit Jahren befindet, scheint der Bevölkerung — trotz der ökonomischen Risiken — der Geduldsfaden gerissen zu sein.

Ihr geht es um weitaus mehr als nur um Lippenbekenntnisse für neue Reformen. Sie verlangt grundlegende politische Veränderungen: einen funktionierenden Staat mit transparenten Repräsentanten, die nicht korrupt sind und sich um die Belange ihres Volkes kümmern — sie will wirkliche Perspektiven für ihre Zukunft als libanesische Bürger.

Dass die Bevölkerung unter der Finanz- und Wirtschaftskrise enorm leidet, zeigt sich allein daran, dass die Beiruter Ausgehviertel wie Hamra und Gemmayze schon lange vor den Protesten menschenleer waren. Bei meinen bisherigen Aufenthalten waren diese Viertel sowohl tagsüber als auch in der Nacht voller Menschen. Diese schlenderten am Tag durch die Gassen, um einzukaufen, Kaffee zu trinken, Essen zu gehen oder die im Volk äußerst beliebten Shishas — Wasserpfeifen mit allen vorstellbaren Geschmäckern — zu rauchen. Am Abend füllten sich die Straßen mit jungen Leuten, welche die ganze Nacht ausgelassen in Bars, auf Hausdächern oder in Nachtclubs durchfeierten. Beirut war berühmt für sein aufregendes Nachtleben, denn der Libanon galt — mit seinem Ruf, die „Schweiz des Nahen Ostens“ zu sein — als das liberalste Land in der Region.

Wie schwerwiegend die Krise tatsächlich ist, wurde durch den heftigen Auftakt des Aufruhrs offenbart. Erst eine Woche zuvor hatte die Regierung bei den Waldbränden in der Damour- und der Chouf-Region in den Augen vieler Libanesen ihre Unfähigkeit erneut unter Beweis gestellt. Den Geruch der verbrannten Wälder, in denen nicht nur über 500 Jahre alte Eichen, sondern auch bis zu 2.000 Jahre alte Zedernbäume wuchsen, konnte ich noch in West-Beirut riechen — über 50 Kilometer von den eigentlichen Brandherden entfernt.

Aufgrund mangelnder Ausrüstung war der libanesische Krisenstab, de facto bestehend aus ganzen vier Experten-Gremien, über eine Woche lang nicht in der Lage gewesen, die Brände zu löschen. Der Generaldirektor des Zivilschutzes Raymond Khattar bezeichnete die Waldbrände als „die schlimmsten seit Jahrzehnten“. Doch erst nachdem die Innenministerin Raya El Hassan um internationale Hilfe gebeten hatte, konnte das Feuer unter Kontrolle gebracht werden. Den Bränden fielen nicht nur tausende Quadratmeter Wald und hunderte Wohnhäuser zum Opfer, sondern sie hatten über 100 Verletzte und mindestens drei Todesopfer gefordert. So stand die Zerstörung der historischen Wälder sinnbildlich für die Unfähigkeit der Regierung, wenn nicht sogar für den Niedergang des Landes, zumal die Zeder die Nationalflagge des Libanons ziert.

Die libanesische Politik ist seit Jahrzehnten geprägt von konfessionellen Grabenkämpfen, grassierender Korruption und ausufernder Vettern- und Misswirtschaft. Zusätzlich blockieren oligarchische Strukturen seit Jahren längst überfällige Reformen.

Aus diesem Grund ist die Regierung nicht in der Lage, ihrem Volk grundlegende Dienstleistungen zu gewährleisten, angefangen von der Brot-, Trinkwasser-, Treibstoff- und Stromversorgung über die Müllabfuhr bis hin zur volksnahen Verwendung öffentlicher Gelder. Aufgrund der Stromknappheit wird selbst in dem Universitätsgebäude, in dem ich in Beirut wohne, die Stromzufuhr jeden Tag für mehrere Stunden eingestellt. Fließendes Trinkwasser gibt es in Beirut schon gar nicht. Dieses wird üblicherweise mit LKWs in Plastikgallonen an alle Haushalte geliefert — sofern man sich es leisten kann — und diese Versorgung wird derzeit zusätzlich behindert von den Straßenblockaden.

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Bild 3: Straßenblockade in Downtown-Beirut am 18. Oktober 2019, Foto: Myriam Boulos

Doch ein Neuanfang?

Das Abkommen von Taif hatte durch eine Ausbalancierung der Macht nach dem Proporz der religiösen Gruppen 1989 den Bürgerkrieg beenden können. Der Konsens im Multikonfessionsstaat war fortan, dass der Parlamentspräsident immer ein Sunnit, der Regierungschef immer ein Schiit und der Staatspräsident immer ein maronitischer Christ sein musste.

Obwohl Taif den Konfessionalismus des Krieges überwinden sollte, verankerte es selbst eine konfessionalistische Blockbildung über das religionsgebundene Wahlrecht, wodurch widersprüchlicherweise die politische Trennung der Religionsgemeinschaften unterschwellig gefördert wurde. Zuletzt verhinderte das Abkommen von Taif auch nicht, dass die einstigen Kriegsherren die Macht im Lande gemäß ihrer Religionszugehörigkeit untereinander aufteilten. Letztendlich gingen die Warlords nach dem Krieg lediglich dazu über, das Land nicht mehr durch ihre Milizen, sondern durch ihre Position im Staat auszuplündern.

Das Proporz-System verkam nicht selten zum Vorwand, die Korruption, die Vetternwirtschaft und die Verschwendung öffentlicher Gelder unter dem übergeordneten Erhalt des religiösen Friedens zu vertuschen. Aus diesem Grund bestehen viele der jungen Demonstranten heute darauf, das konfessionalistische System von Taif ganz abzuschaffen. In Gesprächen mit jungen Männern während der Proteste kam mir nicht selten zu Ohren, dass dies im Ernstfall unter Anwendung von Gewalt geschehen müsse. Ein eine Anonymous-Maske tragender Demonstrant begründete dies mir gegenüber damit, dass „Gewalt nun einmal die einzige Sprache“ sei, welche „die korrupten Warlords verstehen“ würden.

Trotz der vielen friedfertigen Demonstranten ist vollkommen unklar, wie viele Menschen auch solche Positionen tatsächlich teilen. Zumindest die ältere Generation scheint vor diesem unkalkulierbaren Gewalt-Szenario große Angst zu haben, zumal sie den Bürgerkrieg selbst am eigenen Leib miterlebt haben. Bis heute sind die Überreste des Krieges in Beirut vielerorts sichtbar.

Unabhängig von solchen Androhungen ist zu betonen, dass die Protestbewegung für libanesische Verhältnisse bis dato in der Tat überwiegend friedlich geblieben ist. Der regierungskritische Journalist Makram Rabah erklärte mir in einem Interview, dass die „dezentrale und zivile Bewegung“ nach den Ausschreitungen der ersten Tage verstanden hätte, dass „ihre Stärke im friedlichen Protest“ liege. Nach Aussage des Befürworters der Protestbewegung wüssten die Demonstranten ganz genau, dass sie bei einer gewalttätigen Konfrontation „die mächtigen Milizen der politischen Anführer als ihre Gegner hätten“. Auf der anderen Seite hätten die Demonstranten auch bewiesen, dass sie „keine Angst haben und bereit sind ihren Kampf fortzusetzen“.

Sinnbildlich für die friedliche Protestkultur stand am 27. Oktober 2019 eine riesige Menschenkette aus hunderttausenden Libanesen, die ganze 107 Kilometer vom nördlichen Tripoli bis zum südlichen Tyros reichte. Ein eindrucksvolles und friedfertiges Symbol der nationalen Einheit in durchaus ungewissen Zeiten.

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Bild 4: Menschenkette auf dem Charles-Helou-Highway in Al-Marfaa-Beirut am 27. Oktober 2019, Foto: Evangeline Hammond

Die Politik in der Sackgasse

Unweigerlich steht die zivilgesellschaftliche Bewegung vor einer Mammutaufgabe. Zwar hat sie eine lange Liste an politischen Forderungen, insbesondere den kompletten Rücktritt der Einheitsregierung und die Absetzung der gesamten politischen Klasse. Allerdings mangelt es ihr selbst an repräsentativen Persönlichkeiten. Aus diesem Grund fehlt es ihr auch an einem längerfristig umsetzbaren Konzept, auf das sich die gesamte Mosaikgesellschaft des Libanons einigen kann.

In Gesprächen mit Demonstranten betonen diese gerne, dass sie selbst gar keine Repräsentanten benennen möchten. Sie begründen dies mit der Angst, dass die neuen Köpfe von den politischen Eliten kooptiert werden könnten. Auf dem zentralen Märtyrerplatz gibt es fast jeden Tag mehrere Rednerpulte, auf denen jeder sprechen darf. Eine gut gemeinte Aktion, bei der auch jeder Einzelne seine Bedingungen vorbringen kann. Allerdings sprechen die Redner häufig zeitgleich und überbieten sich lautstark in ihren Forderungen. Häufig ist der einzige Konsens, die Regierung endlich zu stürzen. Doch was passiert eigentlich, wenn die gesamte Einheitsregierung tatsächlich zurücktreten sollte?

Die Erfahrung hat bereits mehrfach gezeigt, dass die Machthaber in der Lage sind, ihre loyalen Massen, inklusive ihrer bewaffneten Milizen, innerhalb kürzester Zeit zu mobilisieren. Dazu greifen sie zu gerne auf eine konfessionalistische Rhetorik zurück, um die religiösen Loyalitäten zu vereinnahmen und ihren Machtanspruch — gegebenenfalls auch mit Gewalt — zu verteidigen.

Aufgrund des Druckes der Straße gab der Premierminister Saad Hariri, der Sohn des ermordeten Rafik al-Hariri, am 29. Oktober seinen Rücktritt bekannt. Er erklärte, dass er eine „Sackgasse erreicht“ habe. Gleichzeitig forderte er eindringlich, den „Schutz des zivilen Friedens“ im Land zu wahren und die „Demonstranten auf den Straßen zu schützen“. Hariris Abgang erfolgte, nachdem bereits zehn Tage zuvor, am 19. Oktober, die Partei der Lebanese Forces (LF) vier Minister aus dem Kabinett abgezogen hatte.

Kurz vor Hariris Rücktritt war es auf dem zentralen Märtyrerplatz in Beirut zu heftigen Straßenschlachten zwischen Demonstranten und Anhängern der schiitischen Bewegungen der Amal und der Hisbollah gekommen. Insbesondere die Hisbollah, die sowohl eine militante Miliz als auch eine politische Partei ist und zwei Minister im Kabinett stellt, gilt als stärkste Kraft und mächtiger als die Nationalarmee.

Einige Hundert schiitische Anhänger griffen am 29. Oktober die Protestler unter konfessionalistischen Slogans an. Sie verwüsteten deren Zeltlager, das in den vergangenen Wochen Tag um Tag am Märtyrerplatz angewachsen war. Die Nationalarmee, der insgeheim eine Sympathie für die Protestbewegung nachgesagt wird, war von dem Angriff überrumpelt worden. Mit ihrer schlechten Ausrüstung und in der Koordination unterlegen, wurden die Soldaten zu bloßen Zuschauern der Gewaltorgie auf den Straßen Beiruts.

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Bild 5: Armeeeinheiten auf dem Ring-Highway in Mar-Maroun Beirut am 29. Oktober 2019 während des Angriffs schiitischer Anhänger, Foto: Elias Moubarak

Die Gefolgschaft der Hisbollah war gegen den Rücktritt des Premierministers, und einige ihrer Anhänger versuchten, diesen Schritt zu verhindern, indem sie die Protestler in die Flucht schlugen und deren Camp in der Hauptstadt komplett zerstörten. Bis heute hält sowohl die Hisbollah als auch die Amal an der Regierung fest. Der mit ihnen affiliierte christliche Präsident Michel Aoun hatte vor drei Jahren im Oktober 2016 eine über zweijährige politische Blockade brechen können, indem er mit zwei rivalisierenden Hauptfraktionen eine Einheitsregierung bildete.

Auf der einen Seite ist dies die 8.-März-Koalition, zu der Aouns FPM wie auch die Hisbollah gehören. Auf der anderen Seite ist es die 14.-März-Koalition, die von dem Future Movement (FM) unter Saad Hariri angeführt wird. Während das FM traditionell die Sunniten hinter sich vereint, gehören der Hisbollah überwiegend die Schiiten an, die schätzungsweise über ein Drittel der libanesischen Gesamtbevölkerung stellen. Nachdem der Generalsekretär der Hisbollah, Hassan Nasrallah, die Protestbewegung zu Beginn als „spontan“ bezeichnet und ihre Forderung nach „beispiellosen Reformen“ begrüßt hatte, unterstellte er ihr bereits am 25. Oktober, dass sie von fremden und feindlichen Mächten manipuliert werde. Zuletzt lehnte er einen Rücktritt der Regierung mit den Worten ab, dass „ein Vakuum zum Zusammenbruch führt“ und warnte vor einem „Bürgerkrieg“. Zur gleichen Zeit gab es in Beirut wiederum heftige Straßenschlachten.

Trotz des Rücktritts Hariris machten neben Nasrallah auch Staatspräsident Michel Aoun und der Parlamentssprecher Nabih Berri deutlich, dass sie auf keinen Fall gedenken, ihren Rücktritt einzureichen. Aoun bestand darauf, dass die Einheitsregierung bestehen bleibt, bis ein neues Kabinett gebildet werde. In der aktuellen Regierung hält der schiitische Nabih Berri, der Anführer der Amal-Bewegung, seine Position seit 1992 inne — ganze 27 Jahre. Ein Grund, warum viele Demonstranten über seine Amtszeit makabre Scherze machen. Einer davon lautet, dass Berri gedenkt, nicht nur das Parlament, sondern den gesamten Libanon mit ins Grab zu nehmen. Bereits am 18. Oktober wurde in der Küstenstadt Tyros eine in Berris Familienbesitz befindliche Ferienresidenz von Demonstranten niedergebrannt und komplett zerstört.

Obwohl sich die Proteste allgemein gegen das politische Establishment richten, scheint für die Bewegung der Amal und für die Hisbollah viel auf dem Spiel zu stehen. Nicht nur kam es selbst in schiitischen Gegenden, ja sogar in der Hisbollah-Hochburg Nabatieh, zu Demonstrationen. Dies stellte bis dato eine absolute Seltenheit dar, nicht nur aufgrund des starken Rückhalts der Milizen unter den Schiiten, sondern insbesondere aufgrund ihrer unangefochtenen Dominanz. Immerhin fordern die Demonstranten nicht nur den Rücktritt der Regierung, deren Teil die Hisbollah ist, sondern ein komplett neues Staatsystem. In Gesprächen mit Demonstranten wurde mir immer wieder eröffnet, dass diese entweder die Übernahme der unabhängigen Nationalarmee oder, besser noch, eine technokratische Regierung fordern.

Ein unabhängiger Staat würde in der Tat die alte Garde aus der Politik verdrängen, was die Demonstranten bei einer bloßen Regierungsneubildung — wohl zu Recht — eben nicht erwarten. Allerdings würde im nächsten Schritt die Beseitigung des Proporzsystems nach Taif, das zumindest die religiösen Gruppen seit 30 Jahren in Frieden hat leben lassen, die Machtverhältnisse zu Ungunsten der Hisbollah verändern. Als Staat im Staate kontrolliert sie durch ihre Allianz mit den christlichen Kräften um Michel Aoun den Libanon nicht nur politisch, sondern auch militärisch.

Ob die schiitischen Milizen einen solchen Machtverlust kampflos zulassen werden, scheint mehr als fraglich. Schließlich würde ein unabhängiges Staatsgebilde zwangsläufig ihr Waffenmonopol anfechten. Im Endeffekt würde dies der Hisbollah, mit der Präsenz in Syrien und dem offenen Kriegszustand mit Israel, die Existenzgrundlage entziehen.

Der oberste geistliche Führer im Iran Seyed Ali Khamenei beschuldigte bereits Israel, die USA und Saudi-Arabien, hinter den Protesten im Libanon und im Irak zu stecken, die sich gegen die schiitische Widerstandsachse richten würden. Nachdem eine israelische Drohne von der Hisbollah am 31. Oktober nahe Nabatieh abgeschossen wurde, bat Russland Israel kurzerhand, sich schnellstens aus innerlibanesischen Angelegenheiten zurückzuziehen.

Auch Makram Rabah betonte in meinem Interview, dass die Demonstrationen im Libanon fast gleichzeitig mit Massenprotesten im Irak aufträten. Zwar richteten sich die Proteste im Libanon (noch) nicht offen gegen den Einfluss des Irans, aber die Unruhen im Irak würden dies unweigerlich tun. Seit dem 15. November finden selbst im Iran vielerorts gewaltsame Proteste statt. Diese manifestieren sich zu einer Zeit, in der das mit dem Iran und der Hisbollah verbündete Baath-Regime in Syrien kurz davorsteht, die letzte verbleibende Provinz Idlib unter seine Kontrolle zu bekommen — und damit den Krieg gegen die Interessen Israels, der USA und Saudi-Arabiens für sich entscheiden zu können.

Vor diesem Hintergrund besteht die reale Gefahr, dass die Protestbewegung — wie so oft im arabischen Raum — selbst bald zum Spielball internationaler Interessen verkommt. Erste Anzeichen deuten bereits in diese Richtung. Während die landesweiten Straßenblockaden in der ersten Protestwoche noch spontan wirkten, erscheinen diese mittlerweile bestens organisiert.

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Bild 6: Straßenblockade nördlich von Beirut in Ghazir am 18. November 2019, Foto: Elias Moubarak

Auf den Straßen brennen die Barrikaden

Die Demonstranten verfolgen seit Beginn des Aufstandes die Strategie, die zentralen Straßen des Landes mit brennenden Barrikaden zu blockieren. Dies war auf der einen Seite insofern effektiv, dass sie das gesamte Land zum Stillstand gebracht haben. Auf der anderen Seite geschah dies zum Leid derjenigen, die aufgrund der Straßenblockaden nicht mehr zur Arbeit kommen, obwohl sie in Zeiten der Krise auf ihr Gehalt noch stärker als sonst angewiesen sind. Nicht wenige Bankautomaten führen mittlerweile kein Bargeld mehr, die Zweitwährung des Landes, der US-Dollar, ist kaum mehr zu bekommen und nicht wenigen Tankstellen ist bereits das Benzin ausgegangen.

Libanesischen Bekannte, die auf dem Weg von Beirut nach Tripoli statt zwei Stunden eine siebenstündige Odyssee hinter sich gebracht hatten, berichteten mir davon, dass die Straßenblockaden an keiner Stelle mehr von Bewohnern errichtet werden. Nahezu alle brennenden Barrikaden seien „professionell errichtet worden“ und würden von „angereisten Anhängern diverser Parteien oder Milizen“ bewacht.

Während die Straßen Richtung Süden von den Anhängern des FM blockiert wären, würden christliche Falangisten das Durchkommen nach Norden verhindern.

Laut eines Sicherheitsbeamten sei es ein „offenes Geheimnis“, dass die „überwiegende Mehrheit“ derjenigen, die die Straßen im Norden blockieren, zum FM gehören. Ihre Forderung sei, dass niemand anderes als Saad Hariri das nächste Kabinett bilden soll. In dieser Haltung offenbart sich gleichzeitig die Ansicht vieler Sunniten, dass sie mit Hariris Rücktritt alleine den Preis der Krise bezahlt hätten, während die Christen mit Michel Aoun und die Schiiten mit Nabih Berri weiter am alten Machtgefüge festhalten würden.

Zuletzt mobilisierte Michel Aoun gemeinsam mit seinem bei den Demonstranten verhassten Schwiegersohn Gebran Bassil vielerorts Gegendemonstrationen. Ihre Teilnehmer kündigten ihrerseits an, die Straßenblockaden bald selbst zu öffnen. Gerade die Blockaden offenbaren in letzter Zeit immer mehr die Spaltung der Bevölkerung im Hinblick auf die Protestbewegung. Vielerorts kam es bereits zu Versuchen von Seiten der Anwohner oder der Armee, die Barrikaden gewaltsam zu öffnen. Dies geschah trotz der — der Armee nachgesagten — Sympathie für die Protestbewegung und entgegen der Narrative, dass alle Libanesen vereint seien.

Während viele westliche Medien in ihrem Blick auf die Ereignisse im Libanon von einem „vereinten Volksaufstand“ gegen die Kriegsherren oder die Hisbollah sowie von einer „friedlichen Oktoberrevolution“ analog dem irreführenden Begriff des Arabischen Frühlings im Jahr 2011 sprechen, bleibt allerdings noch abzuwarten, wohin die Protestbewegung das Zedernland in Zeiten einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise tatsächlich führen wird.

Trotz überwiegend friedlicher Protestaktionen kommt es im gesamten Land immer wieder zu Gewaltausbrüchen. Das LRC teilte am 3. November mit, dass es seit den Anfängen der Proteste über 1.700 Verletzte behandelt habe. Das Innenministerium sprach im selben Zeitraum von über 100 verletzen Sicherheitskräften. Der letzte, traurige Höhepunkt der Gewalteskalation ereignete sich am 12. November, als der Demonstrant Alaa Abou Fakher in Khalde südlich von Beirut von einem Soldaten erschossen wurde. Er war Mitglied der Progressive Socialist Party (PSP) und hatte mit anderen Demonstranten versucht, den Khaldeh-Highway zum Beiruter Flughafen zu blockieren. Fakher war bereits das fünfte Todesopfer im Rahmen der Demonstrationen. Da er jedoch von einem Repräsentanten des Staates getötet wurde, wird er mittlerweile als „der erste Märtyrer der Revolution“ verehrt.

Die letzte Kabinettsbildung nach einer Regierungskrise im Jahre 2014 hatte zu einer politischen Paralyse geführt, die über zweieinhalb Jahre andauerte. Auf der einen Seite lässt die ökonomische Situation ein solches politisches Vakuum aktuell keinesfalls zu, zumal die Wirtschaft kurz vor dem Kollaps steht. Auf der anderen Seite wird die Gründung eines neuen Kabinetts, das den Forderungen der Straße nicht gerecht wird, zu einem rasanten Anstieg der Wut führen. Dies zeigte sich am 16. November, als Saad Hariri sich zusammen mit der Amal, Hisbollah und FPM darauf geeinigt hatte, den Ex-Finanzminister Mohammed al-Safadi als neuen Premierminister zu benennen.

Als Nabih Berri am 19. November eine Kabinettssitzung einberufen hatte, blockierten hunderte Demonstranten die Zufahrtswege zum Kabinett und griffen gleichsam die Autokorsos der anreisenden Politiker mit Fahnenstangen, Flaschen und Steinen an. Aufgrund des Vertrauensverlusts in das politische Personal, das es 30 Jahre lang nicht vermocht hatte, die Grundbedürfnisse des Volkes adäquat zu erfüllen, scheint es für die Protestbewegung kein Zurück mehr zum Status quo mit den alten Repräsentanten zu geben.

Der Libanon steht im wahrsten Sinne des Wortes an einem Scheideweg eines politischen Umsturzes oder/und eines ökonomischen und sozial-gesellschaftlichen Absturzes. Es bleibt also die kritische Frage: Libanon, quo vadis?