Letzte Ausfahrt Dorf
Städte machen krank, konfrontieren Menschen mit Enge und Konkurrenzdruck, erleichtern die Kontrolle durch den Staat — oft wirkt ein Ortswechsel Wunder.
Städte, gerade Großstädte, machen die Menschen, die in ihnen leben, klein. Schon durch die bloße Anzahl der Personen, mit denen man auf engem Raum konfrontiert wird, lernt der Stadtbewohner unbewusst: Du bist nichts Besonderes. Du bist nicht einmal ein Einzelwesen. Ameisenhaft wuselst Du als unbedeutender Teil eines gewaltigen Kollektivs, in dem jeder mit jedem um Aufmerksamkeit, menschlichen Kontakt, Wohnraum und Arbeitsplätze konkurriert. In Zeiten verschärfter staatlicher Repression haben wir gesehen, dass in den Städten alles schlimmer war. Maskenmenschen, gereizt und unter Stress, Verbotsschilder, Überwachungskameras, verschärfter Konformitätsdruck durch den Zwang, mit vielen auf begrenztem Raum auskommen zu müssen, starke Polizeipräsenz. Freiheit und Individualismus haben es schwer in Städten, fast ganz unmöglich ist es, inneren Frieden und Einsamkeit zu finden — das Glück, schlicht in Ruhe gelassen zu werden. Der Autor beleuchtet in diesem Artikel auch die historischen und ökonomischen Wurzeln der Verstädterung. Und er macht einen Vorschlag zur Heilung des Problems: ein Auswilderungsprojekt für Stadtflüchtlinge.
Noch wächst die Weltbevölkerung und die Urbanisierung erreicht ungeahnte Ausmaße. In Mega-Citys wie Tokio, São Paulo, Jakarta, Lagos und New York City leben bereits Abermillionen Menschen dicht an dicht. Das Dasein in Massengesellschaften entspricht aber weder der menschlichen Natur, noch ist es gesund. Überbelegung begünstigt die Entstehung psychischer Erkrankungen und führt zum Zusammenbruch des Verhaltens.
Auch in den europäischen Metropolen werden die Menschen zusammengedrängt. Doch während das Phantom einer globalen Überbevölkerung die Gemüter zu erregen vermag, wird das Zusammenleben in der Enge der Städte nicht infrage gestellt. Die Menschen sollen sich mit dem künstlichen „Platzmangel“, einem Spiegel der Besitz- und Machtverhältnisse, arrangieren. Dafür werden die Städte optimiert. Sie sollen smart, nice, clean und „natürlich“ sicher werden.
Weniger Autos, mehr Fahrräder, weniger Asphalt, mehr Rasen, immer mehr Kontrolle, immer weniger Freiheit, kurze Wege zu Supermarkt und Apotheke, ein paar Bäume im Topf, Grüne-Energie, Kälteboxen für Obdachlose, Weltuntergangsbunker für die Reichen und Beruhigungsmittel und Tittytainment für jeden. Das alles folgt einer ökonomischen Logik, die den sozialen Exitus in Kauf nimmt. Auf dem Weg dorthin, darf eins aber nicht passieren: Dass sich die Menschen ihrer Überflüssigkeit bewusst werden und rebellieren.
Verdichtung. Arbeit. Bullshit-Jobs.
Auf lediglich 2 bis 3 Prozent der verfügbaren Landfläche leben 50 Prozent der Menschen. Und die Weltbevölkerung, derzeit etwa 8 Milliarden Menschen, wird weiter verdichtet. Im Jahr 2050 werden 70 Prozent der dann fast 9 Milliarden Erdenbewohner im urbanisierten Raum leben (1). In den USA haben bereits über 83 Prozent der Bevölkerung ihren Lebensmittelpunkt in Städten, in Deutschland sind es rund 75 Prozent (2). In Berlin, der bevölkerungsreichsten Stadt der Bundesrepublik, sind rund 3,8 Millionen Einwohner auf 892 Quadratkilometern konzentriert. In Tokio, aktuell die Mega-City mit den meisten Bewohnern, leben 9,6 Millionen Menschen auf 628 Quadratkilometern, was ungefähr der doppelten Fläche Bremens entspricht.
Die Gründe für die Ansammlung der Menschen auf engem Raum sind vor allem in einer sich verändernden Ökonomie zu suchen. Die Verstädterung wurde Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem Übergang der Agrargesellschaften ins Industriezeitalter eingeleitet. Produktion, Distribution, Konsumtion und menschliche Arbeitskraft wurden in den Städten gebündelt. Es entstanden Jobs und damit die Aussicht auf Einkommen und Wohlstand. Durch die fortschreitende Automatisierung und die Optimierung der Produktionsprozesse nahm der anfänglich hohe Bedarf an Arbeitskräften in der Industrie ab. Ausgewichen wurde in den Dienstleistungsbereich.
1970 betrug um Beispiel der Anteil der in Deutschland im tertiären Sektor Beschäftigten an allen Erwerbstätigen 45,1 Prozent. 2019 lag er bei 74,5 Prozent (3). Eine schier endlose Karawane aus Telefonverkäufern, Versicherungsvertretern, Finanzberatern, Bankern, Maklern, Lobbyisten, Juristen und Experten und Beratern für irgendwas, bevölkert das Land. Dazu gesellt sich eine Armee aus Managern und Bürokraten, die Datensätze, Sachen und Menschen verwalten. Sie alle haben eine Gemeinsamkeit: Sie produzieren nichts und erschaffen keine Werte.
Die Landwirtschaft ist in Deutschland praktisch automatisiert. Maschinen und Roboter übernehmen die Produktion, Computerprogramme und künstliche Intelligenz dringen in den Dienstleistungssektor vor und übernehmen Routineaufgaben. Auch wenn offizielle Verlautbarungen ein anderes Bild vermitteln, der Bedarf an menschlicher Arbeitskraft schwindet. Die Zahl der Erwerbsarbeitslosen wurde in den letzten Jahrzehnten durch Teilzeitarbeit reduziert. Dies geschah allerdings zu dem Preis, dass viele Menschen von dieser Art Arbeit kaum oder gar nicht leben können (4).
Zudem entstanden immer mehr Jobs, die überwiegend keinen Sinn machen, außer, dass man für die Tätigkeit Geld bekommt. Der Beispiele gibt es viele. Der Ethnologe David Graeber hat über dieses Phänomen 2018 ein Buch veröffentlicht, dessen Titel alles aussagt: „Bullshit-Jobs“. Die Frage nach dem Warum beantwortete er fünf Jahre vorher in einem Artikel für das Strike! Magazin:
„Es ist fast so, als gäbe es da jemanden, der sich alle möglichen sinnlosen Jobs ausdenkt, nur um alle von uns beschäftigt zu halten. Und hier, genau hier, ist des Rätsels Lösung. Im Kapitalismus sollte genau dies nicht geschehen. (…) Die Antwort ist deutlich nicht ökonomischer Natur: sie ist moralischen und politischen Ursprungs. Die herrschende Klasse hat erkannt, dass eine zufriedene und produktive Bevölkerung mit frei verfügbarer Zeit eine tödliche Gefahr darstellt. (Man denke daran, was in den 60er-Jahren zu passieren begann, als man dem lediglich nahe kam.)“ (5)
Die 20/80-Gesellschaft
Man könnte auch sagen: Wer in der Klassengesellschaft der Gegenwart beschäftigt ist, der neigt nicht zur politischen Revolte. Die Lohnabhängigen, die nur ihre Arbeitskraft verkaufen können, bleiben so oder so an die Stadt gefesselt. Die Masse taumelt der Perspektivlosigkeit entgegen. Die meisten von ihnen werden im 21. Jahrhunderts als Arbeiter, ob im Büro oder an einer Maschine, gar nicht oder nur stundenweise gebraucht. Mangels Einkommen taugen sie auch kaum noch als Konsumenten. Damit sind sie im ökonomischen Sinn so gut wie überflüssig. Das darf ihnen auf keinen Fall bewusst werden.
Hans-Peter Martin und Harald Schumann machten in ihrem 1996 veröffenlichten Buch „Die Globalisierungsfalle: Der Angriff auf Demokratie und Wohlstand“ darauf Aufmerksam, dass in der Zukunft 20 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter ausreichen würden, um die Weltwirtschaft am Laufen zu halten (6). Die anderen 80 Prozent würden von staatlicher Unterstützung oder irgendeiner anderen Form der Wohlfahrt leben.
Von der 20/80-Gesellschaft sind die meisten Länder noch entfernt, aber ähnliche Konstellationen verfestigen sich. Fast 8 Prozent der Weltbevölkerung war im Jahr 2017 erwerbsarbeitslos, etwa 30 Prozent unterbeschäftigt. In Staaten wie Griechenland und Spanien bewegt sich die Jugendarbeitslosigkeit seit Jahren auf hohem Niveau. Deutlich über 30 Prozent haben keinen Job. In Südafrika ist jeder zweite junge Mensch unter 34 Jahren arbeitslos (7). Das ist sozialer Sprengstoff. Was werden diese vielen jungen Leute tun? Auf bessere Zeiten warten?
Damit Menschen, für die keine Verwendung besteht, ihre Situation ertragen und nicht eventuell auf die Idee kommen, die Verhältnisse zu ändern, müssen sie abgelenkt werden. Zbigniew Brzezinski, nationaler Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, soll es gewesen sein, der 1995 auf dem ersten State of the World Forum in San Francisco die Lösung präsentierte: „Tittytainment“. Eine Mischung aus seichtester Unterhaltung und ausreichender Ernährung soll genügen, um eine frustrierte Weltbevölkerung ruhig zu stellen. Doch das allein reicht nicht. Es gibt noch einen Hebel, der von der herrschenden Klasse bedient wird. Er ist im „Tal der Angst“ (8) zu finden.
Das große Zittern
Das Grauen fasziniert den Menschen, es zieht ihn magisch an. Er ist bereit, seine Psyche durch die Konfrontation mit dem Horror zu triggern. Lässt die Wirkung der Angst nach, wird das Leben spürbar. In der Epoche der digitalen Kommunikation, in der ein Kampf um die Aufmerksamkeit tobt, wird medial alles, was als Trigger tauglich scheint, wie von einem Magneten angezogen, als Möglichkeit besprochen und bis ins Detail erforscht. Transportiert über alle denkbaren Kommunikationskanäle, unzählige Male rezipiert, dupliziert und kommentiert auf Blogs, in Zeitungen, auf Telegram, Facebook, WhatsApp, TikTok und in sonstigen Medien, wird der Effekt verstärkt und der gesunde Menschenverstand von einer Lawine aus Informationsschrott an die Seite gedrückt.
Dass sich niemand, nicht einmal Intellektuelle und sogenannte Experten, die es besser wissen müssten, dem „Tal der Angst“ ohne Weiteres entziehen können, ist für die Beherrschung von Menschen entscheidend.
Wer Angst hat, hat auch ein individuelles Bedürfnis nach „Sicherheit“. In der Psyche verankert wie ein Urinstinkt, ist die Erfüllung dieses Wunsches der wichtigste Mechanismus für die Unterwerfung des Homo sapiens. Oder anders ausgedrückt: Wer darüber bestimmt, wovor man Angst haben soll und gleichzeitig Erlösung von der verordneten Angst verspricht, der herrscht über die Psyche der Menschen und kann mit ihnen machen, was er will.
Das Wechselspiel aus Bedrohung und Erlösung, eine Art Pendant zu Himmel oder Hölle oder zu Leben oder Tod, öffnet gesamtgesellschaftlich Vorstellungs- und Denkräume, in die selbst die unwahrscheinlichsten Untergangsszenarien eindringen können: Kometeneinschlag, Supervulkane, Außerirdische, Temperaturschwankungen, Löcher in der Stratosphäre durch Haarspray, revoltierende Roboter, Killerviren. Am Ende weiß jeder alles und niemand irgendwas. Denn passiert ist nichts! Die Apokalypse ist vertagt, nur das große Zittern bleibt, während dem zivilisatorischen Knockout der rote Teppich ausgerollt wird.
Substanzielle Probleme, deren Auswirkungen für alle Gesellschaften verheerend sind, rücken Regime nach Bedarf ins Blickfeld der Masse, aber nur, um die eigene Herde über ein falsches „Wir“ zusammenzuhalten. Der Krieg in der Ukraine ist ein Beispiel, die Gewalt im Nahen Osten ein weiteres. Die Protagonisten werden vorauseilend in Gut und Böse eingeordnet. Rufe wie „Stopp!“, „Schluss mit der Zerstörung!“, „Hört auf mit der Gewalt!“ versinken hüben wie drüben im Morast der alles zersetzenden Frage, auf welcher Seite man stehe. Damit werden Ethik und Moral zum Teufel gejagt.
Nicht das Leben aller zählt, sondern das Überleben der Guten oder Stärksten oder Besseren. Wir gegen die, ich oder du, „Survival of the fittest“. Das ist in einer Welt des Überflusses, die es sich erlauben kann, Jahr für Jahr 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel in den Müll zu werfen (9), während täglich 30.000 Menschen verhungern, Ausdruck einer Desorientierung, die nur der Klasse dienlich ist, die die Orientierung fürchtet. Für sie ist Frieden in all seinen Varianten, um die Formulierung von David Graeber aufzugreifen, eine tödliche Gefahr. Nämlich deshalb, weil es den vielen unten dämmern könnte, dass es ihnen ohne die wenigen oben kaum schlechter gehen kann.
Kampf. Streit. Auflösung.
In den sich verdichtenden Gesellschaften entstehen immer mehr Verwaltungseinheiten. Sie dienen als Anlaufstation bei der Wohnungsvermittlung, der Suche nach einem Arbeitsplatz, der Beantragung von Kindergeld und so weiter. Das erscheint positiv und sollte es im Idealfall auch sein. Der urbanisierte Mensch kann aber immer weniger selbst regeln. Die funktionale Dominanz der Verwaltung wird spürbar.
Was im Einzelfall unwichtig erscheint, hat auf der Metaebene ganz erhebliche Auswirkungen. Bürokratie kann keine übergeordnete Ziele, das heißt, für jeden relevante Problemstellungen, lösen. Das ist vorteilhaft für den Neoliberalismus, der sich wie ein dunkler Schleier über die Welt ausgebreitet hat und die Ausbeutung von Mensch und Natur auf die Spitze treibt. Vor nichts wird Halt gemacht, alles wird zur Ware. Und die verkauft sich am besten, wenn Mangel herrscht.
Die urbanen Räume und die digitale Sphäre erweisen sich als ideale Schmelztiegel. In ihnen konkurriert jeder mit jedem überall und zu jeder Zeit um alles: Wohnraum, Parkplätze, Termine beim Arzt, Kindergartenplätze, Jobs, die meisten Likes auf Facebook oder Instagram und so weiter.
In dieser Umgebung gibt es kein Wir, sondern nur ein Ich. Das ist für das soziale Miteinander tödlich. Gemeinsame Wertvorstellungen, sofern sie noch existieren, gehen verloren. Die Auflösung der sozialen Strukturen ist vollzogen, wenn im Gegenüber nur noch der Nutzwert gesucht, aber nicht mehr der innere Wert gesehen wird.
Streit, der Krieg im Kleinformat, ist ein Resultat. Er wird gepflegt wie eine kostbare Pflanze, schließlich gilt es, ein riesiges Heer an Juristen zu ernähren. Allein in Deutschland sind über 165.000 Rechtsanwälte zugelassen. Ihre Zahl hat sich seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland etwa verdreifacht (10).
Der Konkurrenzkampf wird unter dem Pseudonym „Wettbewerb“ in jeden Winkel getragen. Doch ein „Wettbewerb“ kennt keine Verlierer, sondern ist ein von Agonist und Antagonist gemeinschaftlich gestalteter Kreislauf aus Herausforderung, Versuch, Scheitern oder Erfolg, Verbesserung und erneuter Herausforderung. Fehlt das Gegenstück oder dominiert ein Partner dauerhaft den anderen, ist der Wettbewerb vorbei und man konkurriert nur noch mit sich selbst.
Die Gefühlswelt wird verwüstet. Konsum rückt an die Stelle von Liebe, Zuneigung und Zärtlichkeit. Emotionaler Schmerz wird mit Pillen betäubt, Zuspruch und Nähe in der digitalen Welt gesucht, die jedoch nur Leere bietet.
Die Auseinandersetzung mit Schicksal und Tod wird wegversichert. Mitleid weicht der Gleichgültigkeit, Hilfsbereitschaft der Gafferei. Das Ich stumpft mehr und mehr ab.
Die Entfremdung von anderen und sich selbst hat den Schmelzpunkt überschritten. Die Psyche leidet Höllenqualen. Die mentale Verfassung der Menschheit hat ein bedenkliches Niveau erreicht. Schon im Jahr 2019 wies die Weltgesundheitsorganisation (WHO) darauf hin, dass eine Milliarde Menschen mit einer psychischen Krankheit leben. In der sogenannten Coronapandemie hat sich diese Zahl laut WHO noch deutlich erhöht (11). Depressionen und Angststörungen haben zugenommen. Als Ursachen werden die unterschiedlichsten Gründe angeführt: Schikane, Missbrauch, Mobbing, Gewalt, Überforderung, anhaltender Stress et cetera.
Als Lösung wird angeboten, den Zustand in die gesellschaftliche Normalität zu integrieren, was für jeden Betroffenen hilfreich ist, und in die Behandlung zu investieren. Das Problem bleibt bestehen und ein neuer Markt mit Zukunftschancen ist eröffnet.
Das Paradies der Mäuse
Unter diesem Eindruck erscheint es nachvollziehbar, dass Städte smart, nice und clean werden sollen. Das entspannt und schont die Nerven, solange der Platz für alle reicht — und das ist schon jetzt nicht der Fall. Der US-amerikanische Verhaltensforscher John B. Calhoun (1917 bis 1995) ging Fragen zum Bevölkerungswachstum nach. Er beobachtete die Auswirkungen von Überbelegung auf das Sozialverhalten von Wanderratten und Mäusen. In einem seiner bekanntesten Experimente, „Universe 25“, schuf er für die Versuchstiere eine ideale Lebensumgebung (12). Das „Mäuse-Paradies“, ein Luxusgefängnis, aus dem es für die Nager kein Entrinnen gab, verwandelte sich im Laufe der Zeit erst in ein Irrenhaus und dann in die Hölle.
In diesem „Universum“ waren Überlebensstrategien wie Flucht oder Futtersuche hinfällig. Es gab keine Raubtiere und es herrschte kein Mangel. Baumaterial für die Nester, Nahrung und Wasser gab es im Überfluss. Die Mäuse wurden medizinisch versorgt, ihr Käfig regelmäßig gesäubert und selbst das Klima war für ein perfektes „Mäuse-Dasein“ optimiert (13). Lediglich der Platz des Geheges, das die Form eines Tanks hatte, war begrenzt. 1,40 Meter hohe Wände umgaben die Grundfläche von rund 6,6 Quadratmetern.
Die Mäuse vermehrten sich wie gewünscht, die Population wuchs. Sie erreichte in der Spitze 2200 Tiere. Je weniger Raum pro Tier vorhanden war, desto mehr abnorme und destruktive Verhaltensweisen stellten sich ein. Passive Individuen, die sich in der Situation der Überbelegung aus allen sozialen Interaktionen zurückzogen, nannte Calhoun „Die Schönen“. Sie waren nur noch mit sich selbst beschäftigt.
Damit nicht genug. Calhoun beobachtete zum Beispiel eine zunehmende Vernachlässigung des Nachwuchses, Überaktivität, steigende Aggressivität, sexuelle Abweichung und Kannibalismus. Auf die Übersexualisierung folgte die Asexualität. Die Reproduktion sank, die Sterblichkeit nahm zu, willkürliche Gewalt betrat die Bühne. Das pathologische Verhalten, das sich längst jeder Kontrolle entzogen hatte, eskalierte. Die Mäuse-Gesellschaft fiel buchstäblich auseinander.
1962 veröffentlichte Calhoun in der Zeitschrift Scientific American den Artikel „Population Density and Social Pathology“ (Bevölkerungsdichte und soziale Pathologie). Darin schlussfolgert er, dass Überbevölkerung sozialen Zusammenbruch bedeutet, auf den das Aussterben folgt. Den aus der Überfüllung resultierenden totalen Zusammenbruch des Verhaltens beschrieb Calhoun mit dem Begriff „Verhaltenssenke“ (Behavioral Sink).
Letzte Ausfahrt Dorf
Es muss betont werden, dass das, was für Mäuse gilt, keine Blaupause für die Menschheit ist. Dafür ist die Erde viel zu groß und die menschliche Population zu klein. Aber es geht ums Prinzip, denn die Konzentration auf engem Raum macht das Gift. Und das wird nicht neutralisiert durch mehr Fahrräder, weniger Asphalt oder ein paar Bäume im Topf.
„Der Vergleich besteht nicht darin, dass eine Überbelegung bei Mäusen zu einem bestimmten Verhaltensverlust führt, sondern dass dies auch bei Menschen der Fall ist. Der Vergleich ist, dass Überbelegung zu einem Zusammenbruch des Verhaltens führt, beginnend mit den komplexesten Verhaltensweisen für diese Art. Was für eine Maus komplex ist, wird sich von dem, was für einen Menschen komplex ist, deutlich unterscheiden.“ (14)
Die Lösung scheint banal, ist aber naheliegend: Azyklisch agieren und die Menschen „auswildern“. Geld spielt keine Rolle. Statt Unsummen in den Umbau von Städten zu Mega- und Smart-Citys zu pumpen und Abermilliarden Euro für Panzer, Kampfjets und Raketenwerfer zu verpulvern, kann massiv in die Weite des ländlichen Raums investiert werden.
Die Möglichkeiten sind organisatorisch und logistisch gegeben, an jedem beliebigen Ort Ressourcen, Energie, Baumaterial, Internetanbindung und alles, was benötigt wird, um kleinteilige Dorfgemeinschaften, die verwaist sind, zu beleben oder neue zu begründen, zur Verfügung zu stellen.
Diese neuen Dörfer, vom Zukunftslabor GIVE (15) ausführlich beschrieben, können als hoch technisierte und naturverbundene Einheiten eigene Produktionen errichten und Wirtschaftskreisläufe entwickeln, die ihnen Autarkie ermöglichen, aber auch umfassende Kooperationen bis hin zum globalen Handel.
Es ist ein Renaturierungsprogramm für die eigene Spezies, bei dem gleich am Anfang eine Herausforderung wartet: die Vorstellung zuzulassen, dass es möglich und gesellschaftlich nötig ist, weltweit Grund und Boden zu verteilen und Dörfer aufzubauen, um dem sozialen Exitus in den goldenen Käfigen zuvorzukommen.