Lernziel Pazifismus
Europa muss seine Abgestumpftheit überwinden und sich die Gefahren eines Krieges wieder klar vor Augen führen. Teil 1 von 4.
Angesichts der Panzer, die per Bundesbahn an die neue, alte deutsche „Front“ gen Osten transportiert werden, sei ihr klar geworden, schreibt Antje Vollmer (1943 bis 2023) in ihrem letzten veröffentlichen Text, dass alles, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hat, „eine einzige riesige Niederlage war“. Doch die überzeugte Pazifistin und evangelische Theologin, die „Grande Dame“ aus der ersten Generation der grünen Partei, deren politische Karriere in der vieljährigen Vize-Präsidentschaft des Deutschen Bundestages gipfelte, verbreitete auch Zuversicht: Denn, so schreibt sie, „Europa steht kurz vor der Phase einer großen Ernüchterung, die das eigene Selbstbild tief erschüttern wird“. Und genau darin sah sie auch die Chance, dass es selbst dem Westen gelingen könnte, in eine tatsächlich gerechtere und endlich friedliche Welt aufzubrechen. Meine Artikelserie soll dazu beitragen, wie von Vollmer erhofft, „den Krieg zu verlernen“ und den Pazifismus zu lernen.
Pazifismus ist keine vorübergehende Gefühlsaufwallung, sondern eine tiefgreifende Weltanschauung. Darauf insistierte der Autor und Musikprofessor Bernhard Bennedik (1892 bis 1973) in seiner in der Weltbühne 1946 veröffentlichten Reflexion zu der genau so betitelten Analyse. Bennedik arbeitete darin insbesondere den grundlegenden Unterschied zwischen Pazifismus aus Überzeugung und einem, wie er es nannte, „lediglich Ressentiment gegen den Krieg“ heraus (1).
Der Autor erinnert an die Zeit des Zusammenbruches nach Ende des Ersten Weltkrieges im Jahr 1918. Damals „konnte man das Wort ‚Nie wieder Krieg‘ oft in Deutschland hören“. Doch, so Bennedik, stellt man die Frage, „wie lange das der Fall gewesen ist, erkennt man sofort, dass dieses ‚Nie wieder Krieg‘ nicht das Geringste mit einem echten Pazifismus zu tun gehabt hat“. Es war vielfach Ausdruck der allzu schnell wieder vergessenen „unmittelbare(n) Folge einer langen Kriegszeit mit Hunger und Elend und Tod“ (2). Denn, so auch Bertolt Brecht (1898 bis 1956) in seinem Gedicht 1952 an die Adresse des Kongresses der Völker für den Frieden in Wien:
„Das Gedächtnis der Menschheit für erduldete Leiden ist erstaunlich kurz. Ihre Vorstellungsgabe für kommende Leiden ist fast noch geringer“ (3).
Sich gegen „diese Abgestumpftheit“ zu wenden und sich zum Pazifismus zu bekennen, dazu gehörte schon bald wieder Mut und Zivilcourage, schreibt Bennedik. Weshalb „bei dem Fehlen gerade dieser Eigenschaft beim Deutschen der Kreis der Pazifisten nur klein bleiben konnte“. Dies traf auch auf die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu. Der Abscheu gegen den Krieg war „vielleicht stärker und in weiteren Kreisen zu finden als 1918“, so der Autor.
„Aber nur deshalb, weil der Kreis derer, die durch das Elend, die Not und den Tod des Zweiten Weltkrieges betroffen sind, um ein Vielfaches größer ist als damals“ (4).
Statt des naheliegenden und nötigen Siegeszugs des Pazifismus folgte für die Bundesrepublik bereits 1955 die verhängnisvolle Remilitarisierung und der Eintritt in die NATO (5). Diese ist „keine Sicherheitsarmee“, so der Theologe und Friedensaktivist Eugen Drewermann: „Sie ist ganz im Gegenteil die schlimmste Kriegsmaschinerie in aggressiver Absicht, die die Menschheit je gesehen hat.“
Dieses mörderische Kriegsbündnis der (Neo-)Kolonialmächte und ihrer Vasallen, unter Führung der USA, zu dem seit nunmehr 70 Jahren noch immer auch Deutschland gehört, „stabilisiert keinen Staat, aber sie (die NATO) hat inzwischen sieben islamische Staaten bis in den Ruin bombardiert“ (5).
Raus aus dem Tunnel: 80 Jahre Besatzung durch „die Amis“ sind endgültig genug! (Foto: Ulrich Falke)
In der internationalen Politik geht es nie um Menschenrechte
So schreibt Winfried Wolf (1949 bis 2023), seinerzeit Chefredakteur und Herausgeber von Lunapark21 und Politiker (von 1994 bis 2002 Mitglied des deutschen Bundestags für die PDS-Fraktion, zu Beginn und später wieder als Parteiloser) in seiner siebten von in 15 Thesen zusammengefassten Analyse des aktuellen Weltgeschehens mit Fokus auf den Krieg in der Ukraine, betitelt als „Die Heuchelei des Westens“:
„Es gab seit den Wendejahren 1990/91 allein fünf große, westlich geführte Kriege: 1990 im Irak, 1999 in Jugoslawien, 2001 bis 2021 in Afghanistan, 2003 bis 2012 erneut im Irak und 2011 in Libyen. Allein diese fünf Kriege haben mehr als einer Million Menschen das Leben gekostet, die entsprechenden Regionen in ein wirtschaftliches und soziales Desaster gestürzt, unermessliche kulturelle Schätze zerstört und die vier entsprechenden Länder (Afghanistan, Irak, Kosovo, Libyen) tatsächlich auf das Niveau von ‚Failed states‘ hinabgestoßen“ (6).
Schon früher stellte der SPD-Politiker und „Architekt“ der deutschen Entspannungspolitik Egon Bahr (1922 bis 2015) unmissverständlich klar: „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten“ (7).
Und bereits vor mehr als 100 Jahren beantwortete Alexandra Kollontai (1872 bis 1952) mit ihrer Friedensformel die von ihr selbst gestellte Frage „Wem nützt der Krieg?“:
„Um die Kriege zu beseitigen, muss man alle Fabriken und Industrieunternehmungen den Herren Kapitalisten, das Land den Großgrundbesitzern nehmen, Gruben und Schächte den Privatbesitzern, die Banken den Kapitalisten und alle diese Reichtümer — verwandeln in Eigentum des gesamten Volkes“ (8).
In seinem Nachwort des von ihm neu herausgegebenen Buches von Alexandra Kollontai „Autobiographie einer sexuell emanzipierten Kommunistin“ (erstveröffentlicht im Jahr 1926) zitiert der Politologe Iring Fetscher (1922 bis 2014) die Autorin selbst:
„Die Bourgeoisie glaubt nicht an die Kraft des Kollektivs. Sie liebt es nur, die Masse in eine gehorsame Herde zusammenzutreiben’ und diese Herde nach ihrem (…) selbstherrlichen Willen dorthin zu jagen, wohin es den Führern notwendig dünkt“ (9).
Wäre die Menschheit der Weisheit dieser, so Fetscher, „hochgebildeten und weltoffenen“ Russin gefolgt, wäre den Völkern viel Leid erspart geblieben. Alexandra Kollontai hatte zeitweise in Deutschland gelebt, wo sie sich zunächst der deutschen sozialdemokratischen Partei anschloss und Seite an Seite mit Rosa Luxemburg und Clara Zetkin für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden kämpfte. Nach der russischen Oktoberrevolution wurde sie die erste Frau der Welt, die das Amt in einem Regierungskabinett übernahm und später die erste Botschafterin im diplomatischen Corps (10). Spätestens heute sollten die Nationen der von Kollontai vor mehr als 100 Jahren entwickelten Friedensformel folgen.
So müsste es selbstverständlich sein, dass die Bodenschätze, deren Besitz und Ausbeute noch immer die Hauptgründe der meisten Kriege bis zur Gegenwart sind, allein den Bürgerinnen und Bürgern desjenigen Landes gehören, deren Böden diese Schätze in sich bergen und wo sie erschlossen werden. Völlig absurd hingegen ist es, wenn das Geschäft mit den Gruben und Schächten einzelnen Kapitalisten, Konzernen oder Kompanien, die diese unverschämt und vermessen „ihr Eigentum“ nennen, zugesprochen werden. Schließlich haben sie diese Schätze natürlich nicht selbst erschaffen, sondern wollen den Reichtum der Erde für sich alleine abschöpfen.
Entbehrlichkeit der parasitären Klasse
Dabei stellte Rudi Dutschke (1940 bis 1979) bereits vor rund 60 Jahren – in Anlehnung an Paul Serings (Pseudonym von Richard Löwenthal, 1908 bis 1991) Analyse „Faschismus und Monopolkapitalismus“ — klar: „Die Unentbehrlichkeit der Produktionsintelligenz für die Reproduktion des Systems wird immer größer, die Entbehrlichkeit der herrschenden Klasse wird auch immer vollständiger“ (11). Dutschke war in der Zeit der Außerparlamentarischen Opposition (APO), Mitte bis Ende der 1960er-Jahre in (West-)Deutschland der bekannteste „Kopf“ dieser „Studentenrebellion“. Der 1940 geborene, später promovierte Soziologe starb 1979 an den Spätfolgen des 1968 auf ihn verübten Attentats eines „Einzeltäters“ (12).
Radikaler noch als Dutschke formulierte diese „Entbehrlichkeit“ der parasitären Klasse zuvor schon John Maynard Keynes (1883 bis 1946), der, so der US-amerikanische Anthropologie-Professor und Autor David Graeber (1961 bis 2020) in seinem Bestseller „Schulden — Die ersten 5000 Jahre“, die „Euthanasie des Rentiers“ forderte. Graeber lehrte zuletzt an der London School of Economics und gehörte zu den Initiatoren der „Occupy Wall Street“-Bewegung.
Keynes wollte erreichen, „dass es durch eine graduelle Verringerung der Zinsen unmöglich gemacht werden sollte, von (…) den Erträgen des Kapitals zu leben“. Allerdings, schränkt Graeber ein, der britische, später in den Adelsstand mit Sitz im „House of Lords“ berufene und mit der russischen Ballerina Lydia Lopokova verheiratete Ökonom wünschte den Ausbeutern einen „sanften Tod“:
„In der Beseitigung des Rentiers sah er keineswegs eine revolutionäre Maßnahme, sondern im Gegenteil die beste Möglichkeit, die Revolution zu vermeiden“ (13).
Noch aber sind die Financiers, denen, nach Graeber, „die Welt gehört“, nicht beseitigt und den Kriegstreibern nicht, wie einst Bertolt Brecht empfahl, „die Hände zertrümmert“ worden (14). Auch sind wieder keine „200 kriegshetzerische(n) Journalisten füsiliert“ — also standrechtlich erschossen – worden, wie es sich die Münchner Schriftstellerin Annette Kolb (1870 bis 1967) ausmalte, „als sie 1916 in einem Dresdner Vortrag sagte, vielleicht wäre der Krieg (so) zu verhindern gewesen“. Das schreibt Harry Pross (1923 bis 2010), mein früherer Publizistik-Professor an der Freien Universität Berlin, in seinem Beitrag „Meinungsspiel und Meinungsterror in der Weimarer Republik“. Kriegsgegner wie sie „wurden leibhaftig bedroht“.
Stattdessen, so Pross, schlossen auch damals die Sozialdemokraten „ihre Jungen“ aus und bewilligten die Kriegskredite, damit „ihre Soldaten mit ‚Gott mit uns‘ auf dem Koppelschloss 1914 in den Untergang des alten Europa ziehen konnten, den Hitlers Wehrmacht, gleicherweise angekoppelt, dann 1939 beendete“ (15).
Ausverkauf der Ukraine im Schatten des Krieges
Auch in der gegenwärtig tobenden Schlacht der USA und ihrer NATO-Staaten im auf ukrainischem Boden und mit ukrainischen Soldaten ausgetragenen Stellvertreterkrieg gegen Russland liegt das Hauptinteresse in den Bodenschätzen, deren Wert auf bis zu 12 Billionen Dollar geschätzt wird.
Vornehmlich geht es um begehrte Metalle wie Uran, Titan, Lithium und Graphit. So zitiert Multipolar die Äußerung von US-Senator Lindsey Graham, die sich beinahe wie eine Karikatur über die Ausbeuterklasse liest:
„Ich möchte dieses Geld und diese Vermögenswerte nicht Putin geben, damit er sie mit China teilt.“
War da nicht das Sprachrohr von Klaas Klever im Entenhausener Milliardärsklub zu hören — oder doch nur wieder ein früherer Moderator im „heute-journal“ (16)?
Begehrt bei den Kriegsprofiteuren sind insbesondere die sehr ertragreichen Äcker der Ukraine. Derzeit findet „ein ‚Ausverkauf’ im Schatten dieses Ukraine-Krieges“ statt. So titelte die von Multipolar im Oktober 2024 zitierte Frankfurter Rundschau in ihrer Ausgabe von einem Jahr zuvor. Die Ukraine ist als „Kornkammer Europas“ bekannt. Dem Beitrag zufolge gehören bereits „drei Millionen Hektar fruchtbaren Ackerlandes einem Dutzend großer Agarunternehmen“.
Die größten Landbesitzer sind „eine Mischung aus ukrainischen Oligarchen und ausländischen Interessen — hauptsächlich aus Europa und Nordamerika sowie dem Staatsfonds von Saudi-Arabien“, erfährt Multipolar über Frédérick Mousseau, den Strategiedirektor des US-amerikanischen „Oakland Institute“, und dessen Studie „Krieg und Diebstahl“. Andere Quellen gehen aktuell von einem „Landraub“ in der Ukraine von mehr als einem Drittel ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche aus: rund 17 Millionen Hektar — das sei so viel wie das Ackerland ganz Italiens.
„Die Käufer und Eigentümer sind bekannte US-Firmen wie Cargill, Dupont und Monsanto“ (17).
In der Schlacht gegen Russland — vor allem aber doch wohl gegen „den Kommunismus“ (18) — hat die deutsche Bundesregierung bereits 140 Milliarden Euro an über Steuern und Kredite geschöpften Finanzmitteln allein für die „Aufrechterhaltung des Krieges mit seinen umfangreichen Waffenlieferungen und einschließlich der Flüchtlingsaufnahmen“ investiert.
So jedenfalls Karsten Montag in seinem am 24. November 2024 bei Multipolar veröffentlichten Beitrag „Der Krieg ernährt den Krieg“ mit dem „Fazit: Olaf Scholz hat gelogen“. Denn „offiziell“ hat Deutschland der Ukraine seit Ausbruch des Krieges am 24. Februar 2022 „Leistungen im Gesamtwert von über 37 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt — in Form der Aufnahmen von Flüchtlingen, direkten Zahlungen oder Waffenlieferungen“.
Deutsche Kriegsschulden beim IWF
Doch wie der Autor weiter ausführt, gibt es eine Reihe intransparenter Zahlungen des Bundesfinanzministeriums (BMF) an die Ukraine. So „ist aus der Auskunft der Bundesregierung zu erfahren, dass das BMF Zuschüsse zu einem vom Internationalen Währungsfonds (IWF) für die Ukraine verwalteten Konto und ein zeitlich befristetes Schuldenmoratorium bereitgestellt hat“. Ich verstehe das als Bürgschaft, und zwar bei den Financiers, die David Graeber als die „Schuldeneintreiber der Welt“ definiert und die „in der Hochfinanz das Äquivalent zu den Jungs (sind), die kommen und einem die Beine brechen“ (19).
Schlussendlich, so gibt Montag die offizielle Erklärung vonseiten der Regierung wieder, „würden im Rahmen der Verantwortung für die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts die Holocaust-Überlebenden in der Ukraine vom Ministerium unterstützt“.
Zu den eher versteckten Zahlungen zur Aufrechterhaltung der Massentötungen, des menschlichen Leids und der Zerstörung von Städten, Dörfern und Infrastruktur zählt Montag auch die „Waffenschenkungen für die Ukraine aus dem ‚Sondervermögen Bundeswehr‘“, die allein, so der Autor, mit 5,2 Milliarden Euro zu Buche schlagen.
„Weitere Finanzierungen erfolgen im Rahmen der ‚Ertüchtigungsinitiative‘“ der Bundeswehr. Zahlungsverpflichtungen verstecken sich auch in den bilateralen Verträgen Deutschlands mit der Ukraine.
Daraus leitet der Publizist den Schluss ab:
„Die Mehrausgaben für die Flüchtlinge aus der Ukraine, wie auch die Kosten für die immens teuren Waffengeschenke an Kiew werden mit Steuern auf stark angestiegene Verbraucher- und Energiepreise, Kürzungen im Sozialbereich sowie als ‚Sondervermögen’ kaschierten neuen Schulden finanziert. Sie sind sämtlich Folge einer verfehlten beziehungsweise fehlenden deutschen Diplomatie“ (20).
Und so schließe ich, auch als Appell zur Wachsamkeit, meinen ersten Teil der Artikelserie „Lernziel Pazifismus“ mit dem Ergebnis des Faschismus-Forschers Paul Sering (Richard Löwenthal), wonach Faschismus durch „das imperialistische Ziel der verstärkten Kriegsfähigkeit“ erkennbar wird, „dem der zentralistische Staat all seine Kräfte unterordnet (…). Aus den Arbeitern werden durch Lohndruck, aus allen anderen Zweigen der Wirtschaft durch Anleihen die Mittel für diese Aufgabe herausgepresst“ (21).