Lernziel Pazifismus

Europa muss seine Abgestumpftheit überwinden und sich die Gefahren eines Krieges wieder klar vor Augen führen. Teil 4 von 4.

Angesichts der Panzer, die per Bundesbahn an die neue, alte deutsche „Front“ gen Osten transportiert werden, sei ihr klar geworden, schreibt Antje Vollmer (1943 bis 2023) in ihrem letzten von ihr veröffentlichen Text, dass alles, wofür sie ihr Leben lang gekämpft hat, „eine einzige riesige Niederlage war“. Doch die überzeugte Pazifistin und evangelische Theologin, die „Grande Dame“ aus der ersten Generation der grünen Partei, deren politische Karriere in der vieljährigen Vize-Präsidentschaft des Deutschen Bundestages gipfelte, verbreitete auch Zuversicht: Denn, so schreibt sie, „Europa steht kurz vor der Phase einer großen Ernüchterung, die das eigene Selbstbild tief erschüttern wird“. Und genau darin sah sie auch die Chance, dass es selbst dem Westen gelingen könnte, in eine tatsächlich gerechtere und endlich friedliche Welt aufzubrechen. Die Artikelserie soll dazu beitragen, wie von Vollmer erhofft, „den Krieg zu verlernen“ und den Pazifismus zu lernen.

Alle nachhaltigen Veränderungen kommen von Pazifisten

Damit sich der, wie Vollmer im Interview mit Michael Maier (Berliner Zeitung vom 20./21. Juli 2020) sagte, „politische Pazifismus“ — der fehlt —, durchzusetzen kann, muss er „drei Kategorien erfüllen: Man muss sich selbst entwaffnen, auch von Hass- und Feindbildern. Man muss den Gegner genau kennen, um seine Reaktionsmöglichkeit überhaupt einschätzen zu können. Schließlich muss man eine Mehrheit der öffentlichen Meinung hinter sich bringen. Diese Anstrengung lohnt und verspricht Erfolg, denn, so Vollmer:

„Alle großen, nachhaltigen Veränderungen kamen von Pazifisten: Gandhi, Martin Luther King, Nelson Mandela (…). Sie alle haben Hass überwunden, sie kannten ihre politische Gegner, und sie haben breite, ja sogar weltweite Zustimmung bekommen.“

Leider fehle heute eine vergleichbare Figur, auch in den USA, bedauert die Politikerin und Publizistin: „Pazifismus heißt, Bomben entschärfen zu können. Die Androhung von Sanktionen ist kein gewaltfreies Mittel. Sie ist Teil einer vorbereitenden Kriegspropaganda. Feindbilder werden erzeugt: die russische, chinesische oder iranische Gefahr.“

„Wir wollten in den 1980er-Jahren eine neue blockübergreifende Friedensordnung in Europa. (…) Wir wollten die Konfrontation der Blöcke von unten her überwinden,“ erinnert Vollmer an diese ursprüngliche Zielrichtung der grünen Partei. „Wir haben gegen den NATO-Doppelbeschluss gekämpft. (…) Willy Brandt kam eines Tages aus der SPD-Zentrale in Bonn und hat sich in den Demonstrationszug eingegliedert, das war die reale Verbindung von Entspannungspolitik und Friedensbewegung.“ Selbstverständlich, so Vollmer, wurden „(wir) als ‚Fünfte Kolonne Moskaus‘ bezeichnet. Seit 1948 waren alle Wahlkämpfe in Westdeutschland von Antikommunismus und antirussischen Ressentiments geprägt“ (1).

Die gegenwärtig verstärkt wieder vorgetragene Diffamierung und Verhetzung von Kriegsgegnern und Pazifisten, die sich nach den Buchstaben des Grundgesetzes für den Frieden in der Welt einsetzen, hat in Deutschland eine lange und schreckliche Tradition und erfolgt — in der Bundesrepublik — nach dem immergleichen Muster mit den immergleichen „Argumenten“. So erinnert sich Vollmer: „(Unser) Einsatz für den Frieden wurde als Verrat an der Freiheit diffamiert.“

Demgegenüber war „das historische Verdienst von Egon Bahr und Willy Brandt (…), dass sie das Misstrauen unterlaufen und den Gedanken der Aussöhnung durchgesetzt haben“, sagte die Pazifistin. „Wir wurden diffamiert, aber wir haben uns nie als Opfer gefühlt. Wir haben uns als Vorreiter einer neuen Politik verstanden.“ Allerdings, schränkt sie ein, „damals waren die Diffamierungen medial nicht so erfolgreich.“

Als „katastrophal“ bezeichnete die Politikerin die 1990 ungenutzten Chancen auf „eine gewaltreduzierende Perspektive“, die sich mit der „Deklaration von Helsinki“ eröffnet hatte. Als Gründe für diese Ignoranz gab sie den „unverantwortlichen westlichen Triumphalismus“ an. „Der Westen hat zu sehr gesiegt.“ Und: „Mit dem zeitlichen Abstand haben viele leichtfertig vergessen, wie schrecklich Kriege sind“ (2).

Seinerzeit waren die Grünen „Grenzgänger und Fährtensucher, auch bei der zukünftigen Rolle Europas“, so die Publizistin.

„Zur Zeit des Kalten Krieges gab es auch blockfreie Staaten, wie etwa Indien und Jugoslawien. Das war damals eine reale Alternative für viele. Diese Option haben wir auch für Deutschland vertreten.“

Vollmer rekapituliert ein Gespräch mit Hans-Dietrich Genscher (1927 bis 2016, FDP-Politiker, 23 Jahre Bundesminister — Innen- und Außenminister — sowie Vizekanzler): (Der) „hat zu mir nach meiner ersten deutschlandpolitischen Rede im Bundestag gesagt, das sei eine Rede für die Blockfreiheit gewesen, für den ‚deutschen Sonderweg‘. Auch andere deutsche Politiker haben manchmal an blockübergreifende Lösungen gedacht, Willy Brandt bis Helmut Kohl. Sie wollten nur nicht offen darüber reden.“

Europa stand „traditionell für die ‚balance of power‘“, so Vollmer. Dieser Ausgleich sollte „auch unser Beitrag in der heutigen Weltpolitik sein. Doch seit der Ära Merkel sind die Deutschen die Musterschüler der westlichen Überlegenheit“ geworden.

Michail Gorbatschow der wohl größte Staatsmann unserer Zeit

In ihrem „Vermächtnis einer Pazifistin. Was ich noch zu sagen hätte“, ihrem letzten, ebenfalls zuerst von der Berliner Zeitung veröffentlichten Text, ergänzt die ehemalige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestags ihre Einschätzungen zu dem Grundübel des Westen, seinem „Chauvinismus“: (Diese) „alte westliche Hybris (ist) seit jeher Grund für viele Demütigungen“ (3).

Und gerade darin lag auch der Grund für die wieder einmal ungenutzte weltpolitische Chance zum Aufbruch in eine lebenswerte Zukunft. „Der umfassende wirtschaftliche und politische Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 wurde einseitig als triumphaler Sieg des Westens im Systemkonflikt zwischen West und Ost interpretiert, der damit endgültig die historische Niederlage des Ostens besiegelte.“ Demgegenüber sei der Verzicht auf Gewalt gerade nicht „als hohes Verdienst von Michail Gorbatschow“ gewürdigt, sondern dem sowjetischen Führer „vielmehr als Schwäche gedeutet“ worden.

„Wie ein stummes Mahnmal gigantischer europäischer Undankbarkeit steht dafür der erschreckend private Charakter der Trauerfeier um den wohl größten Staatsmann unserer Zeit auf dem Moskauer Prominenten-Friedhof“, klagte Vollmer den Opportunismus westlicher Politiker an.

„Es wäre ein Gebot der Stunde gewesen, dass die Granden Europas Michail Gorbatschow, der längst im eigenen Land isoliert war, ihre Hochachtung und ihren Respekt erwiesen hätten, indem sie sich vor ihm verneigten. (…) Die Einsamkeit um diesen Toten war unerträglich. So nutzte ausgerechnet Viktor Orbán die Chance, diesen Boykott einer angemessenen Würdigung zu unterlaufen“ (4).

Und so wurde in den Interpretationen „der Anteil am Verdienst der Gewaltfreiheit auf sowjetischer Seite“ immer kleiner und „die Legende von der eigenen großartigen Widerstandsleistung“ immer wirkmächtiger. Vollmer, die Autorin von unter anderem des Buches „Stauffenbergs Gefährten — Das Schicksal der unbekannten Verschwörer“ — zusammen mit Lars-Broder Keil — wusste, was echter Widerstand bedeutete. Für die Gegenwart stellte sie daher richtig:

„Alle kundigen Zeitzeugen wissen genau, dass der Widerstand und Heldenmut von Joachim Gauck, Marianne Birthler, Karin Göring-Eckardt durchaus maßvoll war und den Grad überlebenstüchtiger Anpassung nicht wesentlich überschritt. Manche Selbstbeschreibungen lesen sich allerdings heute wie Hochstapelei“ (5).

Fatal ist, schrieb die Politikerin, „dass dieser Teil der Bürgerrechtler heute zu den eifrigsten Kronzeugen eines billigen antirussischen Ressentiments zählt. Dies knüpft dabei bruchlos an jene Ideologie des Kalten Krieges an, die (…) bis hin zur irrationalen Slawenphobie viele Varianten von westlichen Feindbildern bis heute prägt.“

Doppelmoral und Arroganz des Wertewestens

Und „in unseren Medien verkörpert die Ukraine das Ideal und Vorbild einer freiheitsliebenden westlichen Demokratie heroischen Zuschnitts“. So heißt es, die Ukraine kämpfe „nicht nur für ihre eigene Nation, sondern zugleich für die universale historische Mission des Westens. Wer sich machtpolitisch behauptet, wer seine Existenz mit blutigen Opfern und Waffen verteidigt, gilt als Bollwerk für die europäischen Ideale der Freiheit, koste es, was es wolle“ (6).

Diesen propagierten Blickwinkel ordnet auch Hans Schoenefeldt in seinem im RotFuchs publizierten Beitrag „Die Kriegstüchtigen und ihr Wertekanon“ geschichtlich ein: „Der Angriff auf den Gazastreifen als einen Krieg zur Rettung der westlichen Zivilisation und ihrer Werte zu verkaufen, ist nicht neu. (…) Ob in Afghanistan oder in der Ukraine — stets ging es angeblich um den Erhalt der westlichen Werte“, schreibt der Autor.

„Schon in den 60er-Jahren hat der damalige Regierende Bürgermeister Westberlins, Klaus Schütz, auf die Frage, was denn die USA in Südvietnam zu suchen hätten, geantwortet: ‚Sie verteidigen dort unsere Freiheit.‘ Die Springer-Presse stand ihm zur Seite.“

Schoenefeldt legt die ganze Wucht der Verlogenheit des „Wertewestens“ offen, wenn er dessen Anspruch auf „Zivilisation“ mit der Wirklichkeit konfrontiert, die in dem von ihm in Gaza angehäuften „Berg an Kinderleichen“ besteht. Zwar behaupten wir noch, führt der Autor fort, „dass wir Freiheit, Gerechtigkeit, Frieden und freie Meinungsäußerung schätzen, aber unsere Haltung zeichnet ein ganz anderes Bild“. Dabei weist er auf die politische Gefangenschaft von Julian Assange hin. Zu dem Zeitpunkt war der politisch verfolgte Journalist und Wikileaks-Gründer seit 2012 eingesperrt und saß seit 2019 im Londoner Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh in Haft (7).

Doch die Hybris der historischen Kolonialmächte und der heutigen NATO-Staaten werden zunehmend von den meisten anderen Nationen durchschaut. Der „so selbstgewisse Westen“, schrieb Vollmer, muss einfach lernen, „dass die übrige Welt unser Selbstbild nicht teilt und uns nicht beiseite stehen wird“.

Warum auch? So fragt sie:

„Wie konnten wir nur annehmen, dass das große China und die Hochkulturen Asiens die Zeit der willkürlichen Freihandels- und Opiumkriege je vergessen würden? Wie sollte der leidgeprüfte afrikanische Kontinent die zwölf Millionen Sklaven und die Ausbeutung all seiner Bodenschätze je verzeihen? Warum sollten die alten Kulturen Lateinamerikas den spanischen und portugiesischen Konquistadoren ihre Willkürherrschaft vergeben? Warum sollten die indigenen Völker weltweit das Unrecht illegaler Siedlungen und Landraube einfach beiseiteschieben in ihrem historischen Gedächtnis?“ (8)

Von dem gegenwärtig leitenden Personal der Grünen war deren „Grande Dame“ am Ende ihres Lebens vollständig desillusioniert. Ihre kurze Replik mit insbesondere ihrem Blick auf die Repräsentanten aus den nachfolgenden Generationen erinnert mich an Platons Beschreibung vom „Staat“, dessen Abwärtsbewegung mit einer ursprünglich „Idealbesetzung“ beginnt, die gekennzeichnet ist durch ihr Streben nach Wahrheit und Weisheit und die, ohne eigenen Besitz und damit unbestechlich, regiert.

Angst einjagen als Regierungsmethode

Höchster Maßstab für diese „klug“ geführte Gemeinschaft — der Bürger, Sklaven zählten im Altertum nicht dazu — ist Gerechtigkeit, „jedem das Seine“. Der Niedergang des vormaligen „Idealzustands“ setzt ein, wenn die ersten Regenten beginnen zu wanken, indem sie eigennützig und bestechlich werden. Die nächste Generation wird dann nicht mehr dem anstrengenden und aufopfernden Ideal „ihrer Väter“ nachstreben, sondern dem bequemeren und verführerisch egoistischeren Weg, den die — im Vergleich zu dem Ideal — nun minderwertigeren Vorbilder gehen. Das Wanken und die Verschlechterung erfolgt über weitere Stufen bis zum schlechtesten aller Staatsgebilde.

In Platons vor rund 2.400 Jahren verfassten „Politeia“ geschieht dieser Niedergang über fünf „Generationen“: Von der „Philosophen-Herrschaft“ über die Timokratie, Oligarchie und Demokratie bis zur untersten Stufe, der Tyrannei mit der schlechtesten aller möglichen Besetzungen (9).

Die Seele eines jeden Volkes ist die Gerechtigkeit. Deutschland hat diese Seele verloren. Die Bundesrepublik gilt heute als das ungerechteste Land der Welt (10). Die Vermögensspreizung zwischen Arm und Reich wird immer offenkundiger, und sie erhöht sich jeden Tag.

So bleiben den Regierenden, sofern sie diese Entwicklung nicht umkehren wollen, kaum noch Optionen, um den Ruf nach Gerechtigkeit und befürchtete Massenproteste möglichst schon im Kern zu ersticken.

Eine der effektivsten Herrschafts- und Regierungsmethoden legte einst Hermann Göring dem Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert beim Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher offen, die auch das Naziregime eingesetzt hatte, „dem Volk zu sagen, es würde angegriffen, und den Pazifisten ihren Mangel an Patriotismus vorzuwerfen und zu behaupten, sie brächten das Land in Gefahr. Diese Methode funktioniert in jedem Land“ (11).

Sowohl der neue US-amerikanische Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. als auch die irische EU-Abgeordnete (von 2019 bis 2024) Clare Daly haben bei ihren historischen Reden bei der „Querdenker-Demo“ in Berlin am 29. August 2020 (12) beziehungsweise vor dem EU-Parlament am 5. Oktober 2022 (13) auf die von Herrmann Göring vorgestellte Herrschaftsmethode der „Anti-Regierungskunst“ hingewiesen. Beide, um davor zu warnen, indem sie diesen schändlichen Lenkungsversuch der Regierenden kenntlich machten, um die Regierten darin zu bestärken, den ihren Interessen zuwiderlaufenden Manipulationen zu widerstehen.

Weisheit in der Politik

Vor dem Hintergrund der Vorstellung Platons vom „besten Staat“ lese ich auch die Passage aus dem Essay von Hannah Arendt (1906 bis 1975) „Aktive Geduld“, den die 1933 aus Nazideutschland zunächst nach Paris und schließlich in die USA geflüchtete Totalitarismusforscherin in der deutsch-jüdischen Emigranten-Zeitschrift Aufbau veröffentlichte:

„Das Unglück der Juden, seit den Generalprivilegien der Hofjuden und der Emanzipation der Ausnahmejuden, ist es gewesen, daß der Parvenu für die Geschichte des Volkes entscheidender wurde als der Paria; daß Rothschild repräsentativer war als Heine; daß die Juden auf irgendeinen jüdischen Ministerpräsidenten stolzer waren als auf Kafka und Chaplin“ (14).

Böll- und Remarque-Zitate auf Basis-Friedensdemo am 28. Januar 2023 in Berlin Hohenschönhausen, Foto: Falke



Gabriele Gysi verkündet Frieden, Friedensdemo am 15. Februar 2025 auf dem Berliner Alexanderplatz, Foto: Falke


Die Völker sollten auf die Weisesten unter ihnen hören, nicht in erster Linie auf die Gierigsten oder „Erfolgreichsten“ oder, wie die Autorin und Regisseurin Gabriele Gysi in ihrem Interview mit dem Hintergrund die Passage der, wie sie sagt, „wunderbare(n)“ Rede des russischen Außenministers Sergej Lawrow vor den Vereinten Nationen (UN) am 24. September 2022 wiedergibt:

„In Zeiten des Wandels liegt es in der Natur des Menschen, Unterstützung und Trost in der Weisheit der Vorfahren zu suchen, die ebenfalls auf die Probe gestellt worden sind“ (15).

Durch deren Gedankenwelten und Analysen gewinnen die Menschen ihre Freiheit zum eigenständigen Urteil und erhalten dadurch Schutz, sich sinnlos gegeneinander aufhetzen und in den Krieg führen zu lassen.

Oder in den Worten von Hannah Arendt:

„Die Geschichte der Menschheit ist kein Hotel, in das man sich beliebig einmieten könnte, auch kein Vehikel, aus dem man willkürlich ein- und aussteigen kann. Unsere Vergangenheit wird uns so lange eine Last sein, unter der wir nur zusammenbrechen können, als wir uns weigern, die Gegenwart zu verstehen und für eine bessere Zukunft zu kämpfen. Erst dann, dann aber sofort, wird aus der Last ein Segen werden, nämlich eine Waffe im Kampf um die Freiheit“ (16).

Karl Jaspers (1883 bis 1969), der Doktorvater und seitdem zeitlebens Freund von Hannah Arendt, hätte in Julius Leber (1891 bis 1945) — hingerichtet nach der Verurteilung von Roland Freisler, dem Präsidenten am „Volksgerichtshof“, wegen „Hoch- und Landesverrats“ — eine solche „platonische“ Idealbesetzung für ein höchstes politisches Amt gesehen. Der Philosoph und Autor, der zu den entschiedensten Kritikern der Remilitarisierung Deutschlands und später der „Notstandsgesetze“ — die er als Weg in die erneute Diktatur sah — zählte, nahm 1948 den Ruf von der Universität Basel an und siedelte in die demokratische Schweiz über. An Arendt schrieb Jaspers über den ehemaligen Widerstandskämpfer, Publizisten und SPD-Politiker:

„Durch deine Beschreibung des Widerstandes kommt dies Wenige, was Größe und Wahrheit hat, erst recht heraus. Er war im letzten Jahr mit Stauffenberg befreundet. Sie hatten eigentlich nichts gemeinsam als dies, daß sie ‚Männer‘ waren und sich erkannten. Stauffenberg wollte Leber als Reichskanzler, nicht den Goerdeler, und L. Beck (…). Leber aber, in seinem Leben immer zu bescheiden, wollte nicht. Er wollte das Innere und eine Polizei aufbauen. Dies sei wichtig, und das könne er. Es klingt grotesk. Aber ich meine da eine Luft zu atmen, die mir wohltut.“

Zu der Entwicklung von Deutschland schreibt Jaspers am Ende des Briefs:

„Die Freiheit nach dem Ersten Weltkrieg und nach 1945 haben wir nicht vertragen können. Beide Male ist sie ungenutzt geblieben“ (17).

Den Grund dazu erklärte der Publizist und Musikwissenschaftler Bernhard Bennedik, mit dessen Zitaten ich meine Artikelserie „Lernziel Pazifismus“ eingeleitet hatte, in seinem 1946 veröffentlichten Weltbühne-Beitrag „Weltanschauung Pazifismus“:

„Der Deutsche hat noch niemals in seiner Geschichte die Kraft aufgebracht, durch eine echte Revolution von Kraft und Schwung sich von der Bevormundung durch eine zahlenmäßig kleine Kaste freizumachen. Es hat in Deutschland noch niemals klare Fronten gegeben, und auch jetzt wieder konnten klare Fronten nicht hergestellt werden, weil der Deutsche nicht die Kraft hatte, sich von der Despotie des Nationalsozialismus selbst zu befreien, obwohl ein großer Teil des deutschen Volkes nichts anderes ersehnte als diese Befreiung“ (18).

8. Mai 2023 zum Erinnern am sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Tiergarten. Foto: Falke


Die Befreiung von ihrem SS- und KZ-Staat und von ihrem Diktator mussten andere Nationen für die Deutschen übernehmen. Wobei in Westdeutschland schon bald wieder die alten „Kräfte“ zu Einfluss und Vermögen kamen und oftmals an ihren neuen alten Positionen Karriere machten, auf denen sie schon unter Hitler „gedient“ hatten und wo sie vormals zu den Garanten seines Herrschaftsapparats gehörten.

Rudi Dutschke brachte diese Kontinuität seinerzeit auf den Punkt:

„Der Tag der Befreiung sah in den Westzonen die Mitverantwortlichen des Krieges, die Vertreter des Militärs, der Bürokratie, der liberalen Bourgeoisie, die Repräsentanten der ‚inneren Emigration‘ gegen Hitler, kurz, all die Gruppen, die den Faschismus halben Herzens ablehnten und den Kapitalismus mit ganzer Seele liebten, friedlich vereint: Sie waren gekommen, um die wieder einmal mögliche und noch notwendigere völlige Verschiebung der Macht- und Eigentumsverhältnisse mit der geschickten Formel von der ‚Wiederherstellung der Freiheit und des Rechtsstaates‘ erneut zu verhindern“ (19).

Gehorsam und Unterstützung sind ein und dasselbe

Jaspers sah den fehlentwickelten „Zustand der Bundesrepublik“ zum Teil auf der „Auslese der politisch führenden Persönlichkeiten“ begründet. „Es sind wahrscheinlich nicht die Besten“, so der Autor in seiner erstmals 1966 veröffentlichten Analyse „Wohin treibt die Bundesrepublik?“.

„Bei der Gründung haben die Unbelasteten, die in ihrer politischen Gesinnung jederzeit Unerschütterten, diese vielleicht 500.000 Deutschen nicht die Führung ergriffen oder nicht ergreifen können“ (20).

Wie sie diesen „Zustand“ ihres ehemaligen Heimatlandes wahrnahm, berichtete Hannah Arendt ihrem Freund Karl Jaspers schon 1962, ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer:

„Es ist doch erbitternd zu sehen, mit welcher Gemütsruhe die Deutschen gehorchen und ausgerechnet Herrn Ulbricht, dem letzten Stalinisten, der da auch nur sitzt, weil die Russen die Deutschen bestrafen wollen. Die Deutschen können halt nicht begreifen, daß in der Politik im Unterschied zur Kinderstube Gehorsam und Unterstützung ein und dasselbe sind“ (21).

Schiller-Zitat auf Friedensdemo, am 5. August 2023 in Berlin, Foto: Falke


Den Niedergang der deutschen Regierungspolitik markiert Antje Vollmer allerdings erst für das Jahr 2008, als sich die Regenten „als europäischer Riegenführer im neuen Konzept der NATO zu definieren“ begannen.

Die viel zu lange Kanzlerschaft von Angelika Merkel zog sich von 2005 bis 2021. „Im Rahmen der Reaktionen auf den Ukrainekrieg rückte Deutschland endgültig ins Zentrum der antirussischen Gegenstrategien.“ Dabei zeigte sich eine entlarvende Doppelmoral, als sich der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck bemühte, „die alten Abhängigkeiten von Russland und China durch neue Abhängigkeiten von Staaten zu ersetzen, die keineswegs als Musterdemokratien durchgehen können. (…) Wirtschaftlich und politisch zahlen wir dafür einen hohen Preis.“

Das Vermächtnis einer Pazifistin

Mit dieser politischen Ausrichtung, bilanziert Vollmer, „wachsen die Rüstungskosten und der Einfluss der Rüstungs- und Energiekonzerne ins Unermessliche. Der Krieg verschlingt sinnlos Milliarden, die für die Rettung des Planeten und gegen die Armut im globalen Süden dringend gebraucht würden“ (22).

Hartmut König, der für die UZ schreibt, ergänzt diese Kritik in seiner „Position“ mit „Komm lieber Mai und mache …“, in der er daran erinnert, dass „Robert Habeck als erster namhafter deutscher Politiker — im Mai 2021, als er noch Grünen-Chef war — Waffenlieferungen an die Ukraine“ forderte. Seit Antje Vollmers „Wesensveränderung“, so König, besorgt diese Grünen-Führung „das Geschäft transatlantischer Nibelungentreue und opfert selbst ökologische Ziele ihrer ideologischen Verblendung“ mit dem „alarmierenden NATO-Drang nach Osten“. Der „unheilvolle Waffengang“ hat nicht allein „immense humane und materielle Verheerungen angerichtet. Er ist auch ein ökologisches Desaster. Allein bis November 2022 hat er 100 Millionen Tonnen CO2 freigesetzt, was dem Verbrauch der Niederlande im selben Zeitraum entsprechen soll“ (23).

Der Ökonom und Autor Ernst Wolff spannt in seiner Bewertung der Politik des grünen Wirtschaftsministers den Bogen noch weiter: „Wenn Habeck sich so rücksichtslos zum Staat bekennt und seine Wirtschaftspolitik gleichzeitig von einer BlackRock-Bankerin entwerfen lässt, dann geht Benito Mussolinis Traum von der Verquickung von Staat und Großkonzerne, auch Faschismus genannt, in Erfüllung“ (24).

Und so appelliert die Pazifistin am Ende ihres Vermächtnisses:

„Der Hass und die Bereitschaft zum Krieg und zur Feindbildproduktion ist tief verwurzelt in der Menschheit gerade in Zeiten großer Krisen und existenzieller Ängste. Heute aber gilt: Wer die Welt wirklich retten will, diesen kostbaren, einzigartigen, wunderbaren Planeten, der muss den Hass und den Krieg gründlich verlernen. Wir haben nur diese eine Zukunftsoption“ (25).