Lebendige Zyklen
Die Beschäftigung mit dem Tod vermag das Leben lebenswerter zu machen.
Der Tod ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema. Mit allen Mitteln sträuben wir uns dagegen, die einzige Gewissheit anzunehmen, die wir in unserem Leben haben: Wir werden sterben. Ganz sicher. Anstatt dem Tod wie einem deplatzierten Besuch, auf den man gerne verzichtet, die Tür vor der Nase zuzuknallen, könnten wir ihn uns ein wenig genauer ansehen. Dann erkennen wir, dass Leben und Tod sich nicht gegenseitig ausschließen. Der Tod gehört zum Leben wie die Geburt. Ohne ihn kann das Leben sich nicht entfalten.
Leben ist Bewegung und unser Universum besteht vor allem aus Leere. Es gibt nichts Festes, an dem wir uns festhalten können. Alles verändert sich ständig. Die Veränderung ist die einzige Konstante in unserem Leben. Nichts ist uns sicher. Wir haben nur eine einzige Gewissheit: Es wird eines Tages vorbei sein mit uns. Wir werden sterben. Ganz bestimmt. Darauf können wir uns hundertprozentig verlassen. Nichts kann uns davor bewahren, auch wenn wir noch so viele Vorrichtungen erfinden, die uns in der Illusion wiegen, wir könnten dem entkommen.
Wir können Türme, Mauern und Bunker bauen, soviel wir wollen. Wir können Bankkonten füllen, Versicherungen abschließen, Kinder bekommen, Symphonien komponieren und Imperien gründen. Wir können Organe züchten und defekte Körperteile beliebig austauschen, wir können uns Sensoren und Schrittmacher einpflanzen und uns in der Hoffnung einfrieren lassen, dass man bei unserem Auftauen das Rezept für das ewige Leben gefunden hat.
Doch auch dann wird es uns irgendwann an den Kragen gehen. Wir können den Tod nicht töten. Er wird uns mit in die Wiege gelegt.
Wie die Geburt gehört er zum Leben. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Und so haben wir die Wahl. Wir können in transhumanistische Schwärmereien verfallen und unsere sinnlose Existenz als seelenlose Zombies verbringen, die orientierungslos durch die Welt irren, bevor sie irgendwann doch sterben. Oder unsere Endlichkeit akzeptieren und mit Dankbarkeit und Freude den Tag genießen.
Ohne Tod kein Leben
Freunden wir uns mit dem Gedanken an unseren Tod an. Er ist ja sowieso die ganze Zeit in uns. In jedem Augenblick unseres Lebens stirbt etwas von uns, ohne dass wir es mitbekommen. Jeden Morgen, wenn wir aufstehen, hinterlassen wir Milliarden toter Partikel von uns auf unserem Kopfkissen. Doch wenn wir uns umdrehen, liegt da nie eine Leiche.
Unter dem Mikroskop sieht man von uns Zellen und Mikroorganismen. In unserem Körper tummeln sich mindestens ebenso viele Mikroben wie wir eigene Zellen haben. Sie regeln absolut alles und haben selbst dann, wenn wir nachdenken oder uns verlieben, ihre Finger mit im Spiel. Wir sind Holobionten, biologische Systeme, in denen sich unzählige Kolonien zu einem Gesamtlebewesen zusammenschließen.
Wir leben davon, dass Teile von uns sterben. Alte Zellen lösen sich auf, neue bilden sich. Alle sieben Jahre haben wir auf Zellebene praktisch einen neuen Körper. Damit das Neue entstehen kann, muss das Alte gehen. Dafür sorgt die Natur. Apoptose heißt das natürliche Programm, nach dem die Lebensdauer einer Zelle auf eine bestimmte Zeit begrenzt ist.
Wenn in diesem Kreislauf etwas gestört ist, wenn also die verbrauchten Zellen den frischen keinen Platz machen, dann haben wir ein Problem: Wir werden krank. Tritt der natürliche Zelltod nicht ein, bekommen wir Krebs. Das Besondere an Krebszellen ist, dass sie nicht sterben wollen. So wie wir. Langsam breiten sie sich im gesamten Organismus aus und bringen sich dadurch schließlich selbst um. So wie wir.
Störende Technik
Verzweifelt versuchen wir, uns den Tod vom Leibe zu halten. Wie alles Unangenehme schieben wir ihn dorthin, wo man ihn möglichst nicht sieht: hinter die Mauern von Spezialeinrichtungen, in die Hände von Leuten, die sich mit sowas auskennen. Und so haben wir vergessen, was in unserem Körper passiert, wenn wir sterben. Wir haben sogar vergessen, dass unsere Körper das nicht vergessen haben und von ganz alleine sterben können.
Von unserer Geburt an greifen wir in alle möglichen körperlichen Prozesse ein. Wir lassen uns an Schläuche und Geräte anschließen und mit chemischen Substanzen vollpumpen und nennen das Fortschritt. Natürlich ist die Vorstellung beruhigend, dass es heute hochwirksame Mittel und Möglichkeiten gibt, mit denen Schmerzen gelindert werden können. Doch auf der anderen Seite boomt das Geschäft mit dem Lebensende.
„In deutschen Kliniken wird operiert, katheterisiert, bestrahlt und beatmet, was die Gebührenordnung hergibt — bei 1.600 Euro Tagespauschale für stationäre Beatmung ein durchaus rentables Geschäft.“ Der Arzt Matthias Thöns versucht dafür zu sensibilisieren, dass in vielen Fällen das Leiden sterbender Menschen durch Übertherapie qualvoll verlängert wird (1). Selbst unser letzter Atemzug wird noch zu Geld gemacht.
Ich möchte mein Leben nicht inmitten kalter technischer Geräte aushauchen. Ich möchte in gewohnter Umgebung sterben, umgeben von meinen Lieben, auf einer Blumenwiese, an einem plätschernden Bach, unter dem Sternenhimmel.
Ich möchte nicht maximal intensivmedizinisch behandelt werden, damit meine Organe zur Transplantation taugen. Ich möchte nicht, dass dafür mein Herz künstlich am Leben gehalten und mein Körper mit Opiaten, Narkotika und muskelentspannenden Mitteln vollgepumpt wird, bevor man mich von oben bis unten aufschneidet, um zu entnehmen, was an mir noch brauchbar ist (2).
Ich möchte meinen Tod für mich haben. Ich möchte in Ruhe sterben. Meine Seele soll sich nicht erschrecken. Sie soll die Zeit bekommen, die sie braucht, um sich von meinem Körper zu lösen. Jemand soll meine Hand halten und über mich wachen, auch wenn es vorbei ist. Drei Tage dauerte in unserer Kultur früher die Totenwache. So lange gab man dem Verstorbenen, sich vom irdischen Leben zu lösen.
Das Leben mit Leben füllen
Nun habe ich nicht die Absicht, demnächst das Zeitliche zu segnen. Ich möchte leben. Jeden Tag möchte ich mir des Geschenks bewusst sein, eine Zeit lang in einem Körper wohnen zu dürfen und Erfahrungen zu machen. Ich möchte dankbar dafür sein, dass mir ein Garten zur Pflege anvertraut wurde. Für ihn will ich Sorge tragen. Ich möchte mein Leben nutzen, es gut leben und das Beste daraus machen. Auf meinem Grabstein soll nicht stehen „hat gut funktioniert“, „war immer korrekt“ oder „war eine gute Konsumentin“. Ich möchte nach meinen eigenen Vorstellungen und Wünschen leben.
Das Schlimmste, was passieren kann, ist, das Geschenk nicht auszupacken und auf seinem Totenbett festzustellen, dass man gar nicht wirklich gelebt hat. Zu wenig gewagt, zu viel gehortet, zu viel geklammert, zu viel auf Sicherheit gesetzt. In seiner Komfortzone kleben geblieben. Die letzte Musik ist verklungen, der letzte Tanz vorbei. Man ist auf der Zuschauerbank sitzen geblieben und hat sich nicht in Bewegung gesetzt.
„Wenn ich noch einmal leben würde“, so der französische Schriftsteller Christian Bobin, „dann würde ich viel mehr Fehler machen!“ Ausprobieren, sich irren, anders weitermachen. Was haben wir zu verlieren? Es ist nie zu spät, seine Haltung zu ändern, auch wenn wir Jahrzehnte mit einer Illusion gelebt haben, auch wenn wir uns davor fürchten, endlich hinzusehen, auch wenn wir uns zu alt finden, um in eine andere Richtung weiterzugehen.
Klammern wir nicht am Alten fest. Lassen wir es gehen. Lassen wir sterben, was verbraucht ist und uns nach unten zieht, und machen wir Platz für Neues, Frisches, Gesundes. Integrieren wir den Tod in unser Leben!
Befreien wir ihn von der Vorstellung eines grausamen, ungerechten Störenfriedes. Ziehen wir ihm die dunklen Kleider aus und hüllen ihn in ein leuchtendes, freundliches Gewand. Begraben wir das Kriegsbeil und machen wir ihn zu unserem Gefährten. Wir wissen ja: Jedem Ende wohnt ein neuer Anfang inne.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Matthias Thöns: Patient ohne Verfügung. Das Geschäft mit dem Lebensende, Piper 2018
(2) https://www.rubikon.news/artikel/mein-korper-gehort-mir