Leben und sterben lassen
Seit Beginn der Maßnahmenpolitik hört man jetzt, der Schutz des Lebens sei ein Gebot der menschlichen Würde — diese Einschätzung ist unzureichend.
Was hilft mir die ganze Würde, wenn ich tot bin? Also muss das Leben zu einer Art Supergrundrecht avancieren. Diese Logik scheint bestechend, und es ist die derzeit herrschende Logik. Sie hat dazu geführt, dass der erwünschte Staatsbürger jemand ist, der zwar um buchstäblich jeden Preis physisch am Leben gehalten werden muss, der aber vor seinem Tod erniedrigender Behandlung ausgesetzt werden darf und danach wie ein Stück Sondermüll in einem Leichensack entsorgt wird. Der Menschenwürde-Begriff, wie er eigentlich gemeint war, umfasst dagegen den lebenden wie den toten Menschen. Der Slogan „Hauptsache, am Leben“ ist demgegenüber eine unzureichende Verkürzung.
Immer mehr Menschen in Deutschland halten eine Vielzahl der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie für fragwürdig. Wie angemessen die Schließung von Restaurants und Läden ist, die nachweislich nie Superspreader-Locations waren, gibt ihnen Rätsel auf. Warum Alkoholverbote, Ausgangssperren und Maskenpflicht beim Rodeln notwendig sind, erschließt sich ihnen auch nicht. Dabei geht es doch um eine ganz große Sache: um den Schutz des menschlichen Lebens. Um Menschenwürde folglich.
Dieses Argument hört man seit Beginn der Maßnahmenergreifung ständig. Besonders in den letzten Wochen, da die Zahl der Toten anstieg, die irgendwie in Verbindung mit dem Coronavirus standen, wurde diese Begründung wieder reaktiviert. Dabei hat menschliche Würde gar nicht per se mit dem Leben zu tun. Das Grundgesetz spricht ja auch nicht von der Würde des lebenden Menschen, sondern des Menschen allgemein. Das beinhaltet folglich weit mehr.
Würde über den Tod hinaus
Wann ist eigentlich jemand ein Mensch? Das ist eine Frage, die das Gewissen von Parlamentariern in den letzten Jahrzehnten immer dann herauskitzelte, wenn es um Fragen des Schwangerschaftsabbruchs ging. Einig waren sich Befürworter wie Gegner dieses Eingriffs in einer Sache aber eigentlich stets: Der Mensch ist Mensch, bevor er geboren wird. Daher spricht man auch vom „ungeborenen Leben“. Dasselbe gilt aber auch am Ende eines jeden Lebens: Einen Verstorbenen sehen wir noch als menschliches Wesen — unbelebt zwar, aber deswegen dennoch menschlich.
Menschsein ist gewissermaßen auch ein Stück weit ein Konzept. Der Atem in den eigenen Lungen grenzt nicht von der Exklusivität des Menschseins aus. Auch ohne Atemluft gilt man insofern als menschliches Wesen. Daher beerdigen wir Verstorbene auch aufwendig, verzieren deren letzte Ruhestätte, treten vor den toten Körper und richten vielleicht letzte Worte an ihn — und werfen den leblosen Körper nicht etwa einfach auf eine Halde organischer Abfallstoffe.
Dieses Konzept, auch in physisch nicht mehr anwesenden Menschen eben einen Menschen zu erkennen, macht Gesetze wie die Störung der Totenruhe erklärbar: Offenbar gehört es zum kulturellen Menschheitserbe, auch den Toten eine gewisse menschliche Berechtigung zuzusprechen. Pietät nennt sich das. Und in vielen Gegenden Deutschlands nennen sich Bestattungsunternehmen auch so: Pietät. Denn eine solche dem Toten und seinen Angehörigen zu ermöglichen ist der eigentliche Geschäftsauftrag dieser Branche.
Kurz gesagt: Menschenwürde geht dem Leben voran — und über das Leben hinaus.
Den Schutz des menschlichen Lebens als die Kernkompetenz der grundgesetzlich in Aussicht gestellten Menschenwürde einzuordnen ist eine ausgesprochene Vereinfachung und Verknappung dieses ersten Grundrechtsartikels. Die staatliche Gewalt verpflichtet sich dort, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen. Das Leben zu achten und zu schützen ist jedoch nur eine Komponente dieses Würdebegriffes.
Leben und sterben lassen
In der Palliativmedizin geht es ganz wesentlich um eine Wiederherstellung menschlicher Würde: nämlich um die Befreiung vom unwürdigen Zustand des Schmerzes. Für die letzten irdischen Tage soll Lebensqualität möglich gemacht werden. So gut es geht eben. Der Schutz des menschlichen Lebens spielt dabei nur noch eine untergeordnete Rolle, weil nicht um jeden Preis lebensverlängernde Maßnahmen geleistet werden und weil man starke, auch auf Dauer schädliche Opiate bereitstellt.
Auch hier zeigt sich also der Würdebegriff viel facettenreicher als in der eindimensionalen Parole des augenblicklichen deutschen Zeitgeistes, der Würde und Lebensschutz quasi als Synonym liest. Interpretiert man die Menschenwürde lediglich auf diese Weise, entstehen zwangsläufig Situationen, die der menschlichen Würde entgegenstehen und sie boykottieren. So stellen Besuchsverbote oder aber strikte Besuchskontrollen auch für todkranke Patienten einen Anschlag auf die Würde der sich im Sterbeprozess befindlichen Menschen dar.
Ebenso die Situation bei Verstorbenen, die positiv auf Nukleinsäure, die in Verbindung mit dem Coronavirus steht, getestet wurden: Diese Toten werden im Regelfall im Leichensack eingesargt. Der reine Lebensschutz als einzig praktizierte Menschenwürde gewährt dem toten Menschen eine solche nicht mehr, sie klassifiziert ihn als toten Sondermüll. So unterwandert sie Sterberituale und weicht die Vielschichtigkeit der Würdeinterpretation auf.
Hauptsache leben? Diese Frage muss man einmal in Altenheimen stellen. Die nennen sich zwar nobel Seniorenresidenzen, aber residiert wird dort im Regelfall noch lange nicht. Dort wird Leben erhalten, aber Lebensqualität zu sichern kann bei dem gesetzlich vorgegebenen Personalschlüssel nicht geleistet werden. Die Pflegekräfte sind Getriebene, überlastet und selbst halbe Pflegefälle. Sie sorgen über das Überleben ihrer Schutzbefohlenen. An den Feiertagen verfrachtet man die Senioren dann ins nächste Krankenhaus, sollen sich die Mediziner doch kümmern — und wenn Oma nicht mehr richtig isst, kriegt sie eine PEG-Sonde, auch wenn sie selbst es wohl nicht möchte. Ist das alles Würde, weil es sich strikt an der Erhaltung des Lebens orientiert?
Die Bürde des Menschen
Damit soll nun freilich nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass man alte Menschen sterben lassen soll. Gemeint ist vielmehr, dass Würde oft eine Einzelfallentscheidung ist — und sie kann durch Tun oder auch durch Unterlassen hergestellt werden. Daher schützt das Grundgesetz eben auch die Würde des Menschen und nicht das Menschenleben: Sie deutet die Vielschichtigkeit menschlicher Existenz an.
Das mit der Würde ist natürlich eine Bürde. Und zwar immer dann, wenn sie an Grenzerfahrungen stößt.
Wenn alles gut läuft in dem, was wir „normale Zeiten“ nennen, kann man sie relativ gut deichseln und managen. Diese Sonnenschein-Würde kann jeder taxieren. In schwierigen Zeiten ist sie jedoch ein Balanceakt. Eine Abwägung zwischen dem Klaren und dem Vagen, in dramatischer Formulierung: zwischen Leben und Tod.
Sie kann dabei nicht einfach dem Lager der Lebenden zugeschlagen werden, weil auch die Sterbenden noch am Leben sind — und weil auch Gestorbene noch Ansprüche haben und es kulturbedingt ist, dass wir ihnen diese auch gewähren. Man verdrängt das nur gerne, weil wir in unserer modernen Gesellschaft aufgehört haben, das Sterben als normalen Vorgang der menschlichen Existenz zu akzeptieren. Gestorben wird in Einrichtungen, nicht mehr inmitten der Familie. Man hat verlernt, auch nur darüber nachzudenken, schiebt den Tod weg — und vergisst darüber, dass Menschsein eben mehr ist als reines Überleben um jeden Preis.
Hinter der Floskel, die in den letzten Monaten so oft zu vernehmen war, nämlich dass es jetzt nur noch um „den Schutz des Lebens“ oder, besser ausgedrückt, um den „Vorrang“ des Lebens gehen dürfe, verbirgt sich eine besorgniserregende Radikalität. Eine, die man mit einem Wort auf den Punkt bringt, welches in den vorangegangenen Jahren oft aus dem Munde neoliberaler Reformer zu vernehmen war: Vollkasko-Mentalität. Dieses obskure Lebensgefühl, wonach jeder Mensch ein Anrecht auf Sicherheit in jeder Lage hat, ist in dieser Situation ein Problem: Denn es spricht im Namen einer falsch verstandenen Menschenwürde und achtet sie auf so vielen Ebenen und bei so vielen Schicksalen nicht.