Leben ist Kooperation

Die Beobachtung der Natur belegt, dass das Dogma der allein selig machenden Konkurrenz ideologischer Irrglaube ist. Exklusivabdruck aus „Der symbiotische Planet“.

Der Vulgärdarwinismus hat unser Ökosystem in eine Wettbewerbsarena umgedeutet, in der jeder gegen jeden einen „Kampf ums Dasein“ ausficht. Nicht nur im Faschismus, auch im neoliberalen Kapitalismus griff man diese einseitige Art der Naturbetrachtung begierig auf — konnte man sich menschliche Arbeitskraft doch so besser nutzbar machen. Wer natürliche Prozesse — gerade auch in ihren Mikrostrukturen — genauer betrachtet, erkennt aber: Symbiosen machen das Geheimnis des Lebens aus: das Zusammenwirken mehrerer Einheiten zum gegenseitigen Nutzen. Dies gilt nicht nur für Kooperation innerhalb einer Art und zwischen verschiedenen Tierarten; das Schauspiel der Symbiogenese vollzieht sich schon auf der Molekular- und Zellebene. Lernen wir daraus für unser eigenes Überleben!

A Bee his burnished Carriage
Drove boldly to a Rose — Combinedly alighting —
Himself –
(Die leuchtend Last trug eine
Biene kühn zur Rose hin —
Wo sie gemeinsam dann mit ihr —
Sich niederließ –)

Symbiose — ein System aus Lebewesen verschiedener Arten, die in engem körperlichen Kontakt leben — erscheint uns als ein spezielles wissenschaftliches Konzept und als ein spezifischer biologischer Fachausdruck. Das liegt daran, dass wir uns ihrer großen Verbreitung nicht bewusst sind. Nicht nur unser Darm und unsere Augenwimpern sind dicht mit bakteriellen und tierischen Symbionten besetzt; auch wenn man sich im eigenen Garten oder im Stadtpark umsieht, sind sie allgegenwärtig, fallen aber nicht sofort ins Auge.

Klee und Wicken, zwei verbreitete Pflanzen, haben an ihren Wurzeln kleine Knöllchen. Dort befinden sich die stickstofffixierenden Bakterien, die für ein gesundes Wachstum in stickstoffarmen Böden unentbehrlich sind. Schauen wir uns die Bäume an — den Ahorn oder die Eiche beispielsweise. Bis zu dreihundert verschiedene symbiontische Pilze, darunter auch solche, die wir als große Pilze kennen, sind als sogenannte Mycorrhiza mit den Baumwurzeln eng verwoben. Oder nehmen wir den Hund, der die in seinem Darm lebenden symbiontischen Würmer in der Regel nicht bemerkt. Wir sind Symbionten auf einem symbiontischen Planeten, und wenn wir genau hinschauen, finden wir überall Symbiose. Für viele verschiedene Arten von Leben ist dieser körperliche Kontakt unentbehrliche Lebensbedingung.

Praktisch alles, womit ich mich heute befasse, wurde bereits von unbekannten Gelehrten oder Naturforschern vorweggenommen. Einer meiner wichtigsten wissenschaftlichen Vorgänger verstand und erklärte die Rolle der Symbiose in der Evolution eingehend. Der Anatom Ivan E. Wallin (1883 bis 1969) von der University of Colorado legte in einem ausgezeichneten Buch dar, dass neue Arten durch Symbiose entstehen.

Der evolutionstheoretische Begriff Symbiogenese bezeichnet den Ursprung neuer Gewebe, Organe, Organismen — ja sogar Arten — durch das Eingehen langfristiger oder ständiger Symbiosen. Wallin benutzte das Wort Symbiogenese nicht, aber die Idee war ihm vollkommen geläufig. Besonderes Augenmerk richtete er auf die Symbiose von Tieren mit Bakterien, einen Vorgang, den er als „Entstehung mikro-symbiontischer Komplexe“ oder „Symbiontizismus“ bezeichnete. Das ist sehr wichtig. Darwin gab seinem Hauptwerk zwar den Titel Über die Entstehung der Arten, aber mit dem Auftauchen neuer Arten befasst sich sein Buch in Wirklichkeit kaum (1).

Symbiose — hier stimme ich völlig mit Wallin überein — ist von entscheidender Bedeutung, wenn man Neuentwicklungen in der Evolution und die Entstehung der Arten verstehen will. Ich bin sogar überzeugt, dass der Begriff der Art als solcher Symbiose erfordert. Bei Bakterien gibt es keine Arten (2). Arten existierten nicht, bevor Bakterien sich zu größeren Zellen zusammentaten, unter anderen zu den Vorläufern aller heutigen Pflanzen und Tiere. In diesem Buch werde ich zeigen, wie langfristige Symbiose zunächst zur Evolution komplexer Zellen mit einem Zellkern und von dort zur Entstehung anderer Lebewesen wie Pilzen, Pflanzen und Tieren führte.

Dass Tier- und Pflanzenzellen ursprünglich durch Symbiose entstanden sind, ist heute nicht mehr umstritten.

Dieser Aspekt meiner Theorie der Zellsymbiose wurde durch die Molekularbiologie und insbesondere durch die Sequenzierung von Genen bestätigt. Dass Bakterien als Plastiden und Mitochondrien dauerhaft in Pflanzen- und Tierzellen aufgenommen wurden, ist der Teil meiner seriellen Endosymbiontentheorie, die sich heute sogar in Schulbüchern wiederfindet. Aber in vollem Umfang wird die Bedeutung der symbiontischen Sichtweise für die Evolution noch nicht gewürdigt. Und die Vorstellung, neue Arten könnten durch symbiontische Verschmelzung aus den Angehörigen alter Arten entstehen, wird in Gesellschaft „anständiger“ Wissenschaftler noch nicht einmal diskutiert.

Ein Beispiel: Einmal fragte ich den beredten, sympathischen Paläontologen Niles Eldredge, ob ihm ein Fall bekannt sei, in dem die Bildung einer neuen Art dokumentiert ist. Ich sagte ihm, sein Beispiel dürfte aus Labor, Freiland oder der Beobachtung von Fossilfunden abgeleitet sein. Er konnte nur ein gutes Beispiel anführen: die Experimente von Theodosius Dobzhansky mit der Taufliege Drosophila.

In jenen faszinierenden Versuchen kam es bei Taufliegenpopulationen, die man bei stetig steigenden Temperaturen ausgebrütet hatte, zu einer genetischen Trennung: Nach etwa zwei Jahren konnten die Fliegen, die in wärmerer Umgebung herangewachsen waren, mit ihren Vettern aus dem kälteren Umfeld keine fruchtbaren Nachkommen mehr zeugen. „Aber“, so fügte Eldredge schnell hinzu, „es stellte sich heraus, dass das etwas mit einem Parasiten zu tun hatte!“ Tatsächlich entdeckte man später, dass den in warmer Umgebung geschlüpften Fliegen ein in den Zellen lebendes, symbiontisches Bakterium fehlte, das bei denen in niedrigeren Temperaturen aufgewachsenen Tieren vorhanden war.

Eldredge tat diese Beobachtung der Artbildung verächtlich ab, weil dabei die Symbiose mit Mikroorganismen im Spiel war! Er hatte wie wir alle gelernt, dass Mikroben Keime sind, und wenn Keime auftreten, hat man keine neue Art, sondern eine Krankheit. Und er hatte auch gelernt, dass die Evolution durch natürliche Selektion in der Anhäufung von Mutationen einzelner Gene über die Erdzeitalter hinweg besteht.

Ironie des Schicksals: Niles Eldredge ist zusammen mit Stephen Jay Gould Urheber der Theorie des „unterbrochenen Gleichgewichts“ (punctuated equilibrium). Nach Ansicht beider zeigen Fossilfunde, dass die Evolution während der meisten Zeit stillsteht und sich dann plötzlich beschleunigt: In den Fossilpopulationen spiegeln sich schnelle Veränderungen während relativ kurzer Zeiträume wider, und danach tritt für längere Perioden eine „Stasis“ ein. Aus der langfristigen Sicht der erdgeschichtlichen Zeiträume sind Symbiosen wie Lichtblitze der Evolution. Nach meiner Überzeugung trägt die Symbiose als Quelle entwicklungsgeschichtlicher Neuentwicklungen dazu bei, die Beobachtung des „unterbrochenen Gleichgewichts“, das heißt der plötzlichen Sprünge in den Fossilfunden, zu erklären.

Die einzigen anderen Lebewesen neben den Taufliegen, bei denen man die Entstehung von Arten im Labor beobachten konnte, gehörten zur Gattung Amoeba, und auch hier war Symbiose im Spiel. Symbiose ist eine Art von Lamarckismus. Dieser Begriff erinnert an Jean Baptiste de Lamarck — er galt in Frankreich als der erste Evolutionstheoretiker, seine Theorie wird aber heute meist wegen der „Vererbung erworbener Merkmale“ verächtlich abgelehnt.

Der einfache Lamarckismus besagt: Lebewesen erben Merkmale, die ihre Eltern durch Umweltbedingungen erworben haben. Durch Symbiogenese dagegen erwerben die Lebewesen keine Eigenschaften, sondern ganze Organismen und natürlich auch deren gesamte Genausstattung! Ich könnte behaupten, was ich oft von meinen französischen Kollegen gehört habe: dass Symbiogenese eine Form von Neo-Lamarckismus ist. Symbiogenese ist entwicklungsgeschichtlicher Wandel durch die Vererbung erworbener Genausstattungen (3).

Lebewesen entziehen sich einer genauen Definition. Sie kämpfen, sie fressen, sie tanzen, sie paaren sich, sie sterben. Am Anfang der mannigfaltigen Fähigkeiten aller großen, vertrauten Lebensformen steht die Symbiose, die Neues schafft.

Sie führt unterschiedliche Lebensformen zusammen, und immer aus gutem Grund. Oft vereinigt der Hunger den Räuber mit der Beute oder den Mund mit seinem Opfer, dem photosynthetischen Bakterium oder der Alge.

Die Symbiogenese vereint verschiedenartige Individuen zu großen, komplexeren Gebilden. So entstandene Lebensformen sind sogar noch andersartiger als ihre ungleichen „Eltern“. Ständig verschmelzen „Individuen“ und passen ihre Fortpflanzung an. Sie bringen neue Populationen hervor, die zu symbiontischen neuen Wesen aus vielen Einzelelementen werden. Diese wiederum organisieren sich auf einer höheren, umfassenderen Integrationsebene zu „neuen Individuen“. Symbiose ist kein nebensächliches oder seltenes Phänomen. Sie ist natürlich und weit verbreitet. Wir leben in einer symbiontischen Welt.

An der Küste der Bretagne im Nordwesten Frankreichs und an den Stränden beiderseits des Ärmelkanals findet sich eine seltsame Art von „Seetang“, die eigentlich gar kein Seetang ist. Aus der Entfernung wirkt er wie hellgrüne Flecken auf dem Sand. Vollgesogen mit Wasser, liegen solche glitzernden Flecken in seichten Pfützen. Nimmt man ein wenig grünes Wasser mit der Hand auf und lässt es durch die Finger fließen, so bemerkt man klebrige Streifen, die wie Tang aussehen. Aber unter einer kleinen Taschenlupe oder einem schwach vergrößernden Mikroskop zeigt sich, dass es sich in Wirklichkeit um grüne Würmer handelt.

Diese Massen von sonnenbadenden grünen Würmern können sich — anders als jeder Seetang — im Sand eingraben und verschwinden. Zum ersten Mal wurden sie in den Zwanziger Jahren von dem Engländer J. Keeble beschrieben, der den Sommer immer in Roscoff verbrachte. Keeble nannte sie „Pflanzentiere“ und illustrierte sie eindrucksvoll auf dem farbigen Titelbild seines Buches Plant-Animals. Die Plattwürmer der Art Convoluta roscoffiensis sind ganz und gar grün, weil ihr Gewebe dicht mit Zellen von Platymonas angefüllt ist; und da die Würmer selbst durchsichtig sind, scheint die grüne Farbe der photosynthetischen Alge Platymonas hindurch.

Die grünen Algen sind zwar auffällig, dienen aber nicht nur der Verzierung: Sie leben und wachsen, vermehren sich und sterben im Körper der Würmer. Und sie produzieren sogar die Nahrung, die die Würmer »fressen«. Der Mund wird bei den Würmern überflüssig und hat nach dem Schlüpfen der Larve keine Funktion mehr. Das Sonnenlicht fällt auf die Algen in ihrem mobilen Gewächshaus, sodass sie wachsen und sich ernähren können; gleichzeitig scheiden sie Photosyntheseprodukte aus und füttern damit ihren Wirt von innen.

Sogar bei der Abfallentsorgung tun die symbiontischen Algen ihrem lebenden Gehäuse einen Gefallen: Sie verwerten die Harnsäure des Wurms und gewinnen daraus Nährstoffe für sich selbst. Algen und Wurm sind ein winziges Ökosystem, das in der Sonne dahinschwimmt. Die beiden Lebewesen sind sogar so innig verbunden, dass sich ohne hochauflösende Mikroskope kaum sagen lässt, wo das Tier aufhört und die Alge anfängt.

Solche Partnerschaften gibt es überall. Die Schnecke Placho branchus beherbergt in ihrem Körper grüne Symbionten, die in so gleichmäßigen Reihen wachsen, als hätte sie jemand gepflanzt. Riesenmuscheln dienen als lebende Gärten und halten die Algen mit ihrem Körper ins Licht. Die im Pazifik heimische Mastigias ist eine Qualle ähnlich der Portugiesischen Galeere; ihre Medusoiden treiben zu Tausenden wie kleine grüne Regenschirme dicht unter der Wasseroberfläche durch die Lichtstrahlen (4).

Auch tentakeltragende Süßwasserpolypen (Hydra) können weiß oder grün sein, je nachdem, ob ihr Körper mit grünen, photosynthetisch aktiven Partnern angefüllt ist. Sind Hydren Tiere oder Pflanzen? Bei einem grünen Polypen, der von seinen nahrungsproduzierenden Partnern (Chlorella genannt) ständig bewohnt wird, ist das schwer zu sagen. Sind Polypen grün, so sind sie symbiontisch. Sie sind zur Photosynthese fähig und können schwimmen, sich bewegen oder an einer Stelle verharren. Sie nehmen am Spiel des Lebens weiterhin teil, weil sie durch Integration Individualität erwerben.

Wir Tiere sind mit allen unseren 30 Millionen Arten aus dem Mikrokosmos hervorgegangen. Die Welt der Mikroben, Quelle von Boden und Luft, gibt auch über unser eigenes Überleben Auskunft. Ein wichtiges Thema im mikrobiellen Drama des mikroskopisch Kleinen ist die Entstehung der Individualität aus den Wechselwirkungen einstmals unabhängiger Akteure.

Ich betrachte den täglichen Lebenskampf unserer nichtmenschlichen Mitbewohner der Erde mit Interesse. Viele Jahre lang machte ich zusammen mit meiner früheren Studentin Lorraine Olendzenski, die heute an der University of Connecticut arbeitet, Videoaufnahmen vom Leben im Mikrokosmos. In jüngerer Zeit arbeiteten wir mit Lois Brynes zusammen, der tatkräftigen früheren Mitdirektorin des New England Science Center in Worcester (Massachusetts). Zusammen mit einer Gruppe sehr begabter Studenten von der University of Massachusetts drehen wir Filme und Videos, mit denen wir anderen Menschen unsere mikroskopisch kleinen Bekannten vorstellen.

Ein Beispiel für entstehende Individualität, das wir kürzlich in Massachusetts entdeckt und neu beschrieben haben, ist Ophrydium, ein Schaumbewohner in Teichgewässern, der aus „Geleekugeln“ zusammengesetzt zu sein scheint. Unsere Filme zeigen diese »Wasserbälle« in eindrucksvoller Deutlichkeit. Das größere „Individuum“, die grüne Geleekugel, ist aus kleineren, kegelförmigen „Individuen“ zusammengesetzt, die sich aktiv kontrahieren.

Die Kegel sind wiederum zusammengesetzt: Grüne Chlorella-Algen leben, in dichten Reihen angeordnet, im Inneren von Ciliaten. Jeder der mit der Spitze nach unten orientierten Kegel enthält Hunderte von kugelförmigen Symbionten, den Zellen von Chlorella. Diese grüne Alge ist weit verbreitet; in Ophrydium sind die Algenzellen gefangen und für die Lebensgemeinschaft der Geleekugel nutzbar gemacht. Jedes „Einzellebewesen“ dieser „Art“ ist in Wirklichkeit eine Gruppe, ein membranumhülltes Mikrobenpaket, das wie ein Individuum aussieht und sich auch so verhält.

Auch das nahrhafte Getränk Kefir, das aus dem Kaukasus stammt, ist ein symbiontischer Komplex. Kefir enthält körnig geronnene Milch, die in Georgien „Mohammeds Kügelchen“ genannt wird. Die Klümpchen sind dichte Pakete aus über 25 verschiedenen Hefe- und Bakterienarten. Jedes besteht aus Millionen Individuen. Aus solchen verschmolzenen Organismen gehen manchmal neue Lebewesen hervor.

„Selbständige“ Lebensformen haben die Neigung, sich zu verbinden und auf einer höheren Organisationsebene in neuer, größerer Gesamtheit wiederzuerstehen. Nach meiner Vermutung wird es für die Zukunft der Spezies Homo sapiens schon sehr bald notwendig sein, sich der Verschmelzung und Vermischung unserer Mitbewohner auf der Erde, die uns im Mikrokosmos vorausgegangen sind, bewusster zu werden.

Eines meiner ehrgeizigen Ziele besteht darin, irgendeinen großen Regisseur zu beschwatzen, die Evolutionsgeschichte als Abbild des Mikrokosmos im 42-Millimeter-Format (IMAX oder OMNIMAX) zu filmen und so die Bildung und Lösung spektakulärer Beziehungen im Reich des Lebens zu zeigen.

So wie während der gesamten Erdgeschichte entstehen und vergehen lebende Zusammenschlüsse auch heute noch unverändert. Symbiosen — stabile und flüchtige — sind und bleiben ein beherrschendes Element. Solche Evolutionsgeschichten haben Fernsehsendungen verdient.




Quellen und Anmerkungen:

Die Anmerkungen und Quellenangaben zu diesem Text finden Sie im Buch.