Leben in der Stadt des Todes
Gloria Cuartas trotzte im kolumbianischen Apartadó Morddrohungen und engagierte sich wirksam für den Frieden.
Apartadó ist Schauplatz von Konflikten, die es in ganz Kolumbien gibt. Kriege zwischen Militärs, Guerrilla, Paramilitärs, der Drogenmafia und Banditen. Niemand weiß mehr, worum es geht. Banden aus den Bergen ziehen durch die Städte, ermorden Kollaborateure und Zivilisten. Ein paar Nächte später kommt die Gegenseite und tut dasselbe. 1995 wird Gloria Cuartas Bürgermeisterin von Apartadó. In ihrer Amtszeit ist es ihr gelungen, den Konflikt in der Gemeinde auf nationaler und internationaler Ebene sichtbar zu machen. Weil sie Angriffe auf die Zivilbevölkerung durch die Akteure des bewaffneten Konflikts häufig anprangerte, wurde sie mehrfach zur Zielscheibe von Morddrohungen seitens der Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens und paramilitärischer Gruppen. 17 ihrer Beamten im Bürgermeisteramt wurden ermordet. Das hielt sie nicht davon ab, sich bis heute für den Frieden zu engagieren.
Gloria Cuartas ist 34 Jahre, als sie 1995 das Amt der Bürgermeisterin von Apartadó in Kolumbien übernimmt. In Apartadó ist der Ausnahmezustand Normalfall. „Stadt des Todes“ wird sie auch genannt. Die Bürgermeisterin will Frieden schaffen:
„Im Zentrum meiner Politik stand das Leben, das ich mit allen Kräften nach Apartadó zurückbringen wollte. Frieden ist nicht das Gegenteil von Konflikten. Eine Gesellschaft ist dann friedlich, wenn sie gelernt hat, Probleme intelligent zu lösen anstatt mit Waffen.“
Am Morgen fährt sie durch die Straßen und sammelt Tote ein, damit sich die Kinder auf ihrem Weg zur Schule nicht an deren Anblick gewöhnen. Während ihrer dreijährigen Amtszeit werden 17 ihrer Mitarbeiter ermordet. Auf ihren Kopf ist eine Prämie ausgesetzt. Als ihr Auto von einem Maschinengewehr durchlöchert wird, steigt sie um auf einen Motorroller.
„Ich würde viel mehr leiden, wenn ich zu Hause sterben müsste, ohne etwas getan zu haben.“
Apartadó ist Schauplatz von Konflikten, die in ganz Kolumbien vorhanden sind. Im Zentrum stehen Kämpfe zwischen den Militärs, der Guerrilla, den Paramilitärs, der Drogenmafia und Banditen. Es ist ein Krieg, der keine Legitimation mehr braucht. Niemand weiß mehr, worum es geht. Banden aus den Bergen ziehen durch die Städte, ermorden „Kollaborateure, Zivilisten, Faschisten“. Ein paar Nächte später kommt die Gegenseite und tut dasselbe. Ihre Logik: Wer ein Massaker überlebt, hat wohl mit der jeweiligen Gegenseite paktiert. Opfer ist die Zivilbevölkerung.
Gloria Cuartas hat kein Parteibuch und folgt keiner Ideologie. Sie hat wenig mehr auf ihrer Seite als moralische Macht. Sie folgt dem Gedanken der Verständigung und Öffnung.
Im Rathaus hat sie ein Friedensbuch angelegt mit dem Titel „Respekt gegenüber dem Leben“, in das Bürger eintragen können, was sie empfinden. Sie beginnt, die Einwohner dazu zu verführen, über Lösungen nachzudenken. Sie gründet das „Komitee zur Bekämpfung der Gewaltepidemie“ und versammelt die Frauen.
Frauen sind die großen Leidtragenden. Ihre Männer und Söhne sind entweder Opfer oder Täter. Beides ist für sie schlimm. Sie müssen ihre Kinder allein großziehen, haben keine Bildung, keine Arbeit. Durch die Arbeit im Komitee erkennen die Frauen mehr und mehr ihr persönliches Problem als Teil eines umfassenden politischen Problems. Sie verstehen, dass nicht ausgeheilte seelische Verletzungen die Bereitschaft erhöhen, Gewalt mit Gewalt zu beantworten. Von den Männern ist zunächst keine Veränderung zu erhoffen. Cuartas gibt den Frauen öffentlich Gewicht, ernennt sie zu Friedensvermittlerinnen.
„Die Macht der Frauen war immer unangefochten, aber hatte nur Gültigkeit innerhalb der Familie. Jetzt aber gingen sie an die Öffentlichkeit.“
Ein Frauenhaus etabliert sich; Kooperativen werden gegründet. Cuartas macht den Krieg in Apartadó zu einem nationalen Thema der Frauen. Sie startet den Aufruf „Frauen für das Leben“. Es kommt zu Großdemonstrationen und Solidaritätskundgebungen aus dem In- und Ausland. Der Ausbruch aus der politischen Isolation der Region gelingt. Apartadó gerät ins Licht der Öffentlichkeit.
1995 wird Cuartas Frau des Jahres in Kolumbien. Eine kolumbianische Tageszeitung karikiert sie als Mischung aus weiblichem Zorro und lateinamerikanischem Asterix. Cuartas legt Wert darauf, dass ihr Erfolg ein „weiblicher“ Erfolg ist, der nur durch die Unterstützung der Frauen möglich war.
Die Menschenrechtlerin wird bekannt als „Bürgermeisterin der Kinder“. Sie richtet Jugendtreffpunkte ein, gibt den Kindern einen eigenen Hörfunksender, baut Projekte für Straßenkinder auf. Wir bringt man das Leben nach Apartadó zurück? Was wird aus Kindern, die mitansehen mussten, wie man ihre Eltern enthauptete? Was wird aus den fast 5.000 Kriegswaisen von Apartadó, die sich nachts frierend und hungrig in irgendeinem Winkel der Stadt zusammenkauern? Was heißt es, eine solche Generation das Verzeihen zu lehren? Gloria Cuartas geht mit diesen Fragen schlafen und steht mit ihnen morgens auf. Sie kann keine leichtfertigen Antworten geben.
Sie arbeitet unermüdlich daran, Verbindungen zu schaffen, Menschen dazu zu bringen, Zusammenhänge zu sehen und global zu denken. Sie agiert in einer Stadt, in der niemand mehr an Worte glaubt.
„Was kann ich tun, wenn es sich die Menschen zur Gewohnheit gemacht haben, nichts zu sehen, zu sagen oder zu hören? Was soll ich tun, wenn man mich auffordert zu schweigen? Schweigen signalisiert bereits ein Einverständnis mit dem, was sie tun. Es ist das größte Zugeständnis an ihre Macht. Also entschloss ich mich, weiter meine Stimme zu erheben.“
Nach drei Jahren ist ihre Amtszeit beendet. Eine Verlängerung ist per Gesetz nicht möglich.
Das Rathaus wird „aus Sicherheitsgründen“ wieder geschlossen, die Bäume, die Cuartas im Rathausgarten pflanzen ließ, wieder abgehackt. Das Friedensbuch verschwindet in der Schublade. Alles umsonst? Eine Frage, auf die auch sie selbst keine endgültige Antwort hat.
Heute arbeitet Gloria Cuartas als regionale Beraterin der UNESCO für Frauenfragen in Bogotá. Für viele Menschen ist sie zu einem Symbol der Hoffnung geworden. Man bezeichnet sie liebevoll als „la alcaldesa“ — die Bürgermeisterin.
Nach ihrer Amtszeit als Bürgermeisterin war Cuartas von April 1999 bis zum 31. Juli 2000 Lateinamerika-Beraterin für Frauenfragen bei der UNESCO. Sie setzte ihre politische Karriere als Kandidatin für den Senat der Republik in den Jahren 2002, 2006 und 2010 fort und wurde 2010 Senatorin für die Partei Polo Democrático.
Sie wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet, unter anderem 1996 als UNESCO-Bürgermeisterin für den Frieden und 2007 ebenfalls von der UNESCO als eine der 60 wichtigsten Frauen der Welt, die sich für den Frieden eingesetzt haben.
Heute ist sie als neue Leiterin der Stabstelle für die Umsetzung des Friedensabkommens „Unidad para implementación del Acuerdo de Paz“ von der kolumbianischen Regierung eingesetzt, um Wahrheits- und Versöhnungsgespräche im Land zu organisieren.
Quellen und Anmerkungen:
Alle Zitate stammen aus dem Buch von Jeannette Erazo-Heufelder: Gloria Cuartas, Lamuv-Verlag, 1999.