Lea
Eine Kurzgeschichte erzählt davon, wie leicht ein Kind heute zum „Transkind“ erklärt werden kann.
Es kann mal vorkommen, dass ein Mädchen gern mit Jungen-Spielzeug spielt — oder umgekehrt. Früher hat man darüber gelächelt und darauf vertraut, dass sich das „auswächst“. Heute bekommen Eltern in solchen Fällen schon mal gesagt, ihre Kleine sei möglicherweise im falschen Körper geboren. Hormonspritzen und später eine geschlechtsangleichende Operation könnten diesen Fehler der Natur richtigstellen. In ihrer Geschichte erzählt Anke Behrend einfühlsam von einem Kinderschicksal in woken Zeiten.
Lea ist noch gar nicht auf der Welt.
Trotzdem wissen ihre Eltern schon sehr viel über sie. Sie haben extra für sie einen Namen ausgesucht. Zur Wahl standen Lea, Stella und Nelli. Auch ihre Lieblingsfarbe kennen die Eltern bereits und kaufen viele Dinge in dieser Farbe für Lea ein. Das Zimmer wird sorgfältig in rosa Tönen ausstaffiert. Nur die Decke wird ein hellblauer Himmel. Die Verwandten und Freunde besorgen Geschenke. Leas Mutter freut sich, dass sie eine Tochter haben wird und macht Pläne. Sie wird die kleine Lea niedlich anziehen, ihr Zöpfchen machen und einen Puppenwagen kaufen. Vielleicht wird Lea zum Ballett gehen und wie eine Fee aussehen in einem entzückenden kleinen Tüllröckchen. Der Papa freut sich auch sehr auf seine kleine Prinzessin. Hoffentlich wird sie nicht allzu zickig. Wahrscheinlich wird sie ihn um den Finger wickeln! Aber etwas schade ist es schon, dass er mit Lea nicht zum Fußball gehen kann …
Lea ist fünf.
Wie die Zeit vergeht! Sie hat ein wunderschönes Zimmer, viele Spielsachen und süße Kleidchen. Seit einiger Zeit macht die Mutti ihr Zöpfe mit Glitzerhaarspangen.
„Schön siehst du aus, ja?“
„Ja“, strahlt Lea.
Neulich ist in der Nachbarschaft eine Familie mit dem fünfjährigen Paul eingezogen. Die Kinder haben sich sofort angefreundet. Ein kleines Liebespaar, scherzen die Erwachsenen. Lea ist das etwas peinlich, weil die Erwachsenen dabei so komisch kichern. Sie darf Paul oft besuchen und mit ihm gemeinsam spielen. Paul hat sehr interessante Spielsachen. Bausteine, Autos und einen großen Bagger. Lea nimmt ihre Puppe und ihren Zauberstab mit zu Paul.
Vor ein paar Tagen hat sie mit Paul in Wohnzimmer eine ganze Stadt gebaut mit all seinen Bausteinen, einem Bus, den Autos und dem Bagger. Für Leas Puppe haben sie einen Friseur aus Lego gebaut und die Puppe mit dem Bagger hingefahren. Lea hatte ihren Lieblingstüllrock an. Aber damit hatte sie immer wieder die Straßen der Stadt eingerissen und ihn schließlich ausgezogen. Völlig in ihr Spiel vertieft saßen Lea und Paul in der Mitte ihrer Stadt und ließen Spielzeuge mit dem Bus hin- und herfahren. Tüt tüüüt! Lea karrte mit dem Bagger immer mehr Steine herbei und die Stadt wuchs schon fast in den Flur hinaus. Wie toll die Kinder sich verstehen! Obwohl sie Junge und Mädchen sind.
Zu Hause wollte Lea wissen, ob sie auch einen Bagger bekommen kann.
„Die sind eigentlich für Jungen, Lea.“
„Schade.“
Beim nächsten Besuch erzählt Lea Paul, dass sie zu Hause keinen Bagger hat, weil die für Jungen sind. Paul sagt:
„Wir tauschen. Du bekommst den Bagger und ich nehme den Zauberstab.“
Lea strahlt. Aber als sie nach Hause gehen wollen, fragt die Mutter, wo der Zauberstab ist.
„Und gib Paul den Bagger wieder. Der gehört ihm.“
„Wir haben doch getauscht!“, beteuert Lea.
„Das geht nicht, der Bagger war viel teurer als der Zauberstab und er gehört Paul.“
Lea weint. Sie ist müde.
Sie will einen Bagger, und wenn man dafür ein Junge sein muss, dann ist sie eben ein Junge.
Als sie das nächste Mal zu Paul gehen, will Lea den Tüllrock nicht anziehen. Der stört beim Spielen. Und den Zauberstab mag sie auch nicht mehr. Heute spielen die Kinder Eisenbahn. Teddys, Superhelden und die Puppe kurven durch Pauls Kinderzimmer.
Die Muttis sind stolz auf die beiden.
„Aber ein typisches Mädchen ist Lea nicht“, sagen sie. Lea weiß nicht, was das bedeutet. Sie weiß nur, dass sie ein Mädchen ist. Das andere Wort kennt sie nicht. Aber es scheint ein Problem zu sein.
„Was ist ein typisches Mädchen, Mama?“, fragt sie später zu Hause.
Die Mutter lacht ein wenig unsicher:
„Du kannst Fragen stellen!“
Als Lea das nächste Mal mit Paul spielt, hört sie Pauls Mutter sagen:
„Vielleicht ist sie gar kein Mädchen? Hast du daran schon gedacht?“
Lea sagt nichts und spielt weiter. Sie war sich eigentlich ziemlich sicher, ein Mädchen zu sein. Alle hatten es ihr gesagt, und schließlich bekommt sie deshalb keinen Bagger.
„Transkind“, sagt die Mutter von Paul.
Lea weiß nicht, was das ist, und es geht ihr nicht aus dem Kopf. Was ist ein Transkind? Ist das eine Krankheit? Kann man vielleicht sogar daran sterben? Sie muss die Mutti fragen, aber traut sich nicht. Was, wenn sie diese Krankheit hat und ein Transkind ist? Sie hat Angst. Das Wort erwähnen die Erwachsenen jetzt immer wieder. Lea nimmt endlich all ihren Mut zusammen, wie das Mädchen in der Geschichte neulich, und fragt:
„Mama, was ist ein Transkind? Ist das schlimm?“
„Ach mein Schatz, das ist überhaupt nicht schlimm!“
Mutti nimmt sie in den Arm und drückt sie ganz fest und lange.
„Du bist vielleicht einfach nur kein Mädchen, verstehst du?“
„Ja.“
Lea versteht kein Wort.
„Aber was bin ich dann?“
„Du bist ein Junge!“
„Ja. Aber warum weinst du, Mama? Paul ist auch ein Junge und das ist gar nicht schlimm!“
„Natürlich, mein Schatz, das ist nicht schlimm.“
„Bekomm ich jetzt einen Bagger, Mama?“
„Ja, bekommst du.“
Lea strahlt. Ein Junge sein, ist gar nicht übel.
Lea ist sieben.
Aber sie heißt nicht mehr Lea, sondern Leon. Sie ist jetzt ein Junge. Die Glitzerhaarspangen hat sie selbst in den Müll geworfen. Die mochte sie sowieso nicht. Sie haben geziept und gezwickt. Der kratzige Tüllrock liegt mit dem ganzen anderen rosa Mädchenkram im Keller. Nur den Teddy hat Leon behalten. Er hat auch einen neuen Namen bekommen und heißt jetzt Anton.
In der Schule wissen alle Kinder, dass Leon ein Transkind ist und finden das sehr aufregend. Leon geht wie alle anderen Jungen in die Umkleide für Jungen. Aber die anderen Jungen sehen ein bisschen anders aus. Mutti sagt, Leon soll sich keine Gedanken machen. Später kann er operiert werden und dann sieht man keinen Unterschied mehr. Wann das sein wird? „Ein paar Jahre wird es noch dauern“, erklärt Mutti.
Seit Leon ein Junge ist, muss er mit Mutti oft zum Arzt. Bald soll er Spritzen bekommen, damit er ein richtiger Junge wird. Sonst würde er wieder ein Mädchen werden, sagt der Arzt.
Leon findet das ein bisschen seltsam, denn er hatte ja extra gefragt, ob Transkind eine Krankheit ist, und Mutti hatte nein gesagt. Trotzdem muss er jetzt immer zum Arzt und irgendwann im Krankenhaus operiert werden. Paul muss nicht zum Arzt und auch nicht operiert werden.
Transkind sein ist kompliziert, findet Leon, und er fühlt sich nicht so recht wohl in seiner Haut. Aber Mutti sagt, das ist alles in Ordnung. Papa nimmt ihn jetzt bald mit zum Fußball. Ob er mit Lea auch zum Fußball gegangen wäre, will Leon wissen. Papa lacht.
„Nein. Na gut, vielleicht.“