Laufend in die Zukunft

In Zeiten des Umbruchs ist der Sport ein Mittel, um persönliche Krisen zu überwinden.

Es gibt Sportarten, bei denen bereits eine einfache Beschreibung spannend klingt: Man nehme einen viereinhalb Meter langen Stab aus carbonfaserverstärktem Kunststoff, ramme ihn bei Höchstgeschwindigkeit in den Boden und katapultiere sich mittels dessen Energie in eine Höhe, die das Dreifache der eigenen Körpergröße übersteigt. Nicht so beim Joggen. Das zu beschreiben, klingt in etwa so: „Laufen – eine Fortbewegungsart, bei der ein Fuß vor den anderen gesetzt wird und zu bestimmten Zeitpunkten kein Fuß den Boden berührt“ (1). Bis vor einiger Zeit kam der Autorin das Laufen genauso trocken und langweilig vor wie seine Definition. Doch als die Krise zum Normalzustand und der Alltag als Schülerin denkbar trist wurden, war eine sinnvolle Abwechslung gefragter denn je.

Vor zwei Jahren begann ich, gelegentlich im Wald mit meiner Mutter eine kleine Runde zu drehen. Nie länger als 15 Minuten – da brannten meine Lungen bereits, und im Großen und Ganzen hat mir die Sache keinen Spaß gemacht. Das Laufen sollte mir helfen, von dem Druck in der Schule Abstand zu nehmen, doch so richtig daran geglaubt habe ich nicht. Ehrlich gesagt fand ich es richtig bescheuert und wollte mir nicht im Traum vorstellen, dass ich jemals Freude empfinden könnte bei dem Gedanken, selbst bei Minusgraden rauszugehen und zu rennen. Es war weder spektakulär noch in irgendeiner Art und Weise spannend, es reizte mich einfach rein gar nichts an dem Gedanken, zu joggen.

Zugegeben, ich hatte auch keine Ahnung von der Sportart. Aber ich verband mit dem Joggen bis dato nur Frauen mittleren Alters, die ein paar Kilos loswerden wollen, aber keineswegs etwas, was sich eine 18-Jährige freiwillig antun würde.

Die Monate vergingen und es wurde langsam etwas wärmer, der Frühling begann. Diesen Frühling hat wohl jeder von uns noch sehr gut in Erinnerung. Er war der Anfang einer nicht enden wollenden Krise, die sich immer weiter verschärft hat. Es war der März 2020.

Ich war davon genauso betroffen. Anfangs war es noch ziemlich angenehm, plötzlich nicht mehr wirklich Schule zu haben. Aber auf Dauer den ganzen Tag zuhause zu sitzen, kein Sportunterricht, keine Freizeitaktivitäten, nichts mehr zu haben? Das war auch keine Lösung.

Schnell war nichts mehr so, wie es war. Zuvor verbrachte ich die ganze Woche in einem Internat, umzingelt von 200 anderen Schülern in meinem Alter, ständig Action, ständig Ablenkung, ständig Stress. Und jetzt, auf einmal, wieder bei meinen Eltern, nur mit meiner kleinen Schwester und meinem kleinen Hund, ohne meine Freunde und Klassenkameraden, dafür mit schlechter Internetverbindung, Lehrern, die mit der Gesamtsituation überfordert waren, und irgendwo auch Einsamkeit, da mich mein Bildschirm vom Rest der Welt trennte.

Und in dieser Zeit fing ich wieder an zu laufen. Erst langsam, nur kurze Strecken, mit meinen 10 Jahre alten Laufschuhen. Aber ich hatte etwas gefunden. Irgendetwas hatte sich verändert, und ich fand plötzlich Gefallen an der Sache. Ich lief einfach drauf los und hatte Spaß dabei. Da fing ich an, tiefer zu graben, mich zu belesen, mir andere Läufer anzusehen, und entwickelte eigene Vorstellungen und Ziele, die mich anspornten und motivierten.

Was hatte sich verändert?

Als die Krise über mich hereinschwappte wie eine Welle, als alles plötzlich Kopf stand, da gab mir das stupide „Einen Fuß vor den anderen setzen“ Halt. Es bildete einen Anker. Es half mir, den Kopf freizukriegen, um anschließend mit etwas Anspruchsvollem weiterzumachen und dranzubleiben.

Ein paar Monate vorher war es mir zu langweilig, doch mit dem Fortdauern der Krise war plötzlich so viel Stress und Aufregung um mich herum, dass ich etwas Langweiliges gut gebrauchen konnte, etwas, das mir Ruhe gab und mich wieder erdete.

Haruki Murakami drückt dies in seinem Buch „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ sehr passend aus: „Ich laufe, um Leere zu erlangen.“ (2)

Ich denke, dies war einer der Gründe — wenn auch unbewusst —, die mich immer weiterlaufen ließen. Ich konnte vergessen. An nichts denken. Der ganze Stress um mich herum, die sich überschlagenden Nachrichten und Katastrophenwarnungen — alles war wie weggeblasen und unbedeutend.

Wenn ich laufe, finde ich mich als Beobachter wieder, wie ein Zuschauer im Stadion. Die Welt, die Menschen und ihre Probleme ziehen an mir vorbei, und ich stehe still und beobachte das Spektakel, als würde ich nicht dazugehören. Ich halte inne und tauche in eine Parallelwelt ein, die wie durch eine Glasscheibe von der Welt abgetrennt ist und sie mich von außen betrachten lässt. Sie sieht aus wie ein Wimmelbild — überall passiert etwas, jede Figur in diesem Bild hat ihre eigenen Probleme und Träume, und ich darf zuschauen.

Meine Probleme sind nicht mehr da, sie kommen erst wieder, wenn ich aufhöre mit dem Laufen und selbst zurück ins Wimmelbild gezogen werde. Dann muss ich anfangen, mich wieder mit der Welt, ihren und meinen Problemen zu beschäftigen. Also laufe ich immer weiter, um mich dem Wimmelbild zu entziehen, um zu verhindern, dass ich untergehe, so wie die vielen anderen Menschen um mich herum, die ich beobachten konnte.

Was ich über mich lernte

Wie oft halten wir tatsächlich einmal inne und fragen uns, wie es uns tatsächlich geht?

Bevor ich mit dem Laufen begann, fand ich mich tagtäglich in einer Spirale wieder, die mich einzuengen drohte. Ständig wollte mir jeder sagen, was ich alles „muss“. Ich sollte immer abliefern, die Regeln befolgen. Ich sollte mich mit Politik auseinandersetzen, fünf Sprachen sprechen, jede Woche ein anspruchsvolles Buch lesen. Ich sollte stets das Richtige tun, jeden Menschen gut behandeln, ich sollte dies und jenes und müsse alles tun, was von mir verlangt wird.

Das machte mich fertig und irgendwann wurde einfach alles zu viel. Der Druck wurde so groß, dass ich dem Ganzen nur noch mit Mühe und Not standhalten konnte, dass ich probiert habe, alles auszubalancieren, und dabei gar nicht merkte, dass ich schon längst das Gleichgewicht verloren hatte.

Vor allem die letzten zwei Jahre haben mich sehr viel Kraft gekostet. Der Boden wurde mir unter den Füßen weggerissen und alles veränderte sich. Mein Fundament wurde erschüttert. Ich habe jahrelange Freunde verloren und wiedergefunden, habe an mir gezweifelt und manchmal auch an der ganzen Welt. Abgesehen von der verlorengegangenen Zeit, die ich größtenteils zuhause verbrachte, habe ich viel nachgedacht und bin viel gelaufen. Ich konnte nicht anders.

Erst jetzt stellt sich bei mir langsam Ruhe ein und ich kann mich wieder auf mich selbst zurückbesinnen, auch, wenn ich nicht jogge. Im Rückblick ist es keine leichte Zeit für mich gewesen, und darauf, dass ich trotzdem alles geschafft habe, was ich mir vorgenommen habe, bin ich ziemlich stolz. Das verdanke ich nicht zuletzt auch dem Laufen.

Die Wolken zur Seite schieben

Das Laufen, und dabei mich selbst und meinen Körper zu spüren, hat mir unglaublich geholfen, mich immer wieder hochzuziehen und nicht aufzugeben.

Ich habe beim Laufen nicht nur die Welt an mir vorbeiziehen sehen, sondern auch meine Gedanken, die sich plötzlich schneller und einfacher dachten. Mir fielen Lösungen für Probleme ein, die mir vorher unlösbar schienen. Auf einmal ergaben scheinbar unlösbare Situationen Sinn, und vor meinem inneren Auge baute sich ein Gerüst aus logischen Konsequenzen auf.

Trauer, Wut und Frustration wurden eingebettet und wie Wolken zur Seite geschoben, ein wohlig warmes Gefühl der vollkommenen Zufriedenheit machte sich in mir breit. Dass mich das Laufen auch dann beeinflusste, wenn ich stillsaß, merkte ich erst vor einigen Wochen, als ich über mich und mein Leben nachdachte. Ich hatte innegehalten und die letzten Monate Revue passieren lassen.

Erst Abitur, dann Umzug in eine neue Stadt, dann Studium. Das passierte alles so schnell, dass ich erst vor kurzer Zeit darauf zurückschauen konnte. Und dabei ist mir eine Sache aufgefallen: Ich habe nicht gezweifelt. Sicherlich gab es Momente, in denen ich mich gefragt habe, ob ich das alles schaffen kann, aber die hielten nicht lange an oder ließen mich gar nicht ins Wanken kommen. Stattdessen erfasste mich eine grundsätzliche Zufriedenheit mit meinem Leben und mir selbst. Ich habe aufgehört, irgendwelchen Menschen nachzueifern, deren Ziele ich niemals erreichen werde, und ich habe gemerkt, dass das vollkommen okay ist. Ich kenne mich besser als je zuvor, und das alles verdanke ich dem Laufen.

Wenn ich es schaffe, bei Kälte und Regen rauszugehen, mich zu überwinden, noch schneller zu rennen, jedes Mal ein Stückchen weiter, dann kann ich auch alles andere schaffen.

Mein Körper ist einzigartig, und ich bin jeden Tag aufs Neue dankbar, dass er mich immer weiter trägt im Leben, dass er mir alles zur Verfügung stellt, was ich brauche. Denn am Ende kommt es nicht darauf an, wie viel Geld wir haben oder was wir alles besitzen, es kommt auf unsere persönliche innere Balance an.

Getreu dem Motto, dass in einem gesunden Körper ein gesunder Geist lebt, habe ich festgestellt, dass für mich das Laufen der Schlüssel war. Es nimmt mir Ängste und spornt mich an. Ich genieße den Moment und bin dankbar für die Möglichkeiten, die mir diese einzigartige Sportart eröffnet hat. Vor allem die Möglichkeit, mich selbst zu lieben, mit allen Ecken und Kanten.

Mir geht es im Moment so gut, dass ich es herausschreien möchte — ich möchte die ganze Welt umarmen. Ich möchte laufen, hüpfen, jubeln und rufen: „Hey, ihr da oben, ihr könnt mir gar nichts!“

Ich befinde mich in einer Aufbruchsstimmung, ich möchte 100 Meilen laufen und noch mehr. So lange laufen, bis ich frei bin, bis ich mich nicht mehr in den Fäden befinde, die andere bewegen. Mit jedem Kilometer, den ich zurücklege, löst sich ein weiterer Faden, bis keine mehr vorhanden sind. Ich laufe, also bin ich, oder wie man so schön sagt …


Quellen und Anmerkungen

(1) https://de.wikipedia.org/wiki/Bipedie
(2) https://www.sueddeutsche.de/kultur/haruki-murakamis-lauftagebuch-der-marathonschreiber-1.281406