Kunst ist Leben
Es ist wichtig, die Verletzungen der Coronazeit anzuerkennen und sich dennoch wieder offenen Herzens zu begegnen.
„Wir sind eine traumatisierte Gesellschaft“, diagnostiziert die Autorin und Künstlerin hier. Die Wunden aus der Coronazeit sind nicht verheilt, weil die, die sie zugefügt haben — durch Beschimpfung und Ausgrenzung von Ungeimpften zum Beispiel — keinen Anlass sehen, sich zu entschuldigen. Und auch, weil die Verwundeten das Erlebte lieber verdrängen und schweigen. So aber kann keine Heilung stattfinden, können Menschen nicht wieder zueinanderfinden. Vielleicht kann etwas helfen, was in den letzten Jahren sträflich vernachlässigt wurde: Kunst und Kultur. Der Vortrag von Philine Conrad wurde am 18. Juli 2023 im Erfurter Rathaus gehalten, als Teil der Veranstaltung „Kirche und Kultur nach Corona“.
Welche besondere Erfahrung, Einsicht, Begebenheit während der „Corona-Jahre“, Anfang 2020 bis Anfang 2023, hat Sie mit großer Kraft und Intensität
a) in persönlicher/privater und
b) in beruflicher/ dienstlicher Hinsicht
bewegt, beschäftigt, beeinflusst?
Ich freue mich, dass ich zu dieser Gelegenheit eingeladen wurde und hier sprechen darf. Vielen Dank! Mein Thema ist die Kunst, die Kultur, das verbindende Element der Gesellschaft, das Tor zu Emotionen, Gefühlen, gesellschaftlicher und persönlicher Reflexion, Auseinandersetzung, Lebendigkeit, Muße und Hingabe — zusammengefasst: das Leben.
Ich möchte mich einmal vorstellen: Ich bin ein „Blinddarm“. Ein „Leugner“. Ein „Nazi“. „Rechts“, „unsolidarisch” und „egoistisch“. Ich bin „dumm“, ein „Aasgeier“ und „Verweigerer“. Und — ich bitte um Verständnis — ich unterscheide nicht mit Sternchen zwischen Aasgeiern und Aasgeierinnen. Das Geschlecht spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle.
Ich bin eine „dumme Sau“, „zu kennzeichnen“ und soll „Sticker tragen“. Ich bin ein „Gefährder“, ein „Mörder“ und ein „Todesengel“. Ich bin ein „Gegner“ — gegen was? Ich bin ein „Muffel“. Eine „dunkle Gestalt“. Und soll „in dem Loch verschwinden, aus dem ich rausgekrochen bin“. Ich bin ein „Sozialschädling“. Und „bekloppt“.
Sie kennen die Gründe für diese Bezeichnungen.
Guten Abend! Da bin ich. Und mit Ihnen zusammen in einem Raum. Das finde ich wunderbar. Denn das war lange Zeit nicht möglich. Ich durfte nicht rein. Dabei spreche und diskutiere ich gerne und tausche mich mit Neugier mit anderen aus. Dass das nicht ging, war ernüchternd, isolierend und schade.
Nein, ich denke nicht, dass wir uns „zurück in die Freiheit geimpft haben“ (Jens Spahn). Im Gegenteil.
Ich persönlich spüre eine Enge, Scheren im Kopf, verschlossene Herzen und die Eigenermächtigung, auf der richtigen Seite zu stehen. Man hat uns getrennt. 60 Millionen gegen 20 Millionen. Drei Viertel gegen ein Viertel.
Und das geht über das Thema Corona hinaus. Es ist ein Brennglas der aktuellen Zeit. Die Themen tauschen sich aus. Doch ich möchte Sie fragen: Haben Sie nicht auch den Eindruck, irgendetwas stimmt nicht in unserem Land? Irgendetwas läuft gerade verdammt schief?
Aber hier geht es nicht um mich. Hier geht es um die Gesellschaft. Das Miteinander. Und wie wir miteinander umgehen. Vor allem aber geht es um die Kunst — als Spiegel der Gesellschaft. Sie sollte hinweisen und warnen, wenn sich eine Gemeinschaft voneinander entfernt. Doch sie war still. Das Schweigen war lauter als die Schreie der gebärenden Frauen unter FFP2-Masken.
Das Schweigen war lauter als die hungernden Menschen auf den Straßen, die vor verschlossenen Essensausgaben standen. Das Schweigen war lauter als die Warteschlangen an kalten Regentagen vor den Krankenhäusern oder die Menschen, die im Winter zu Gottesdiensten vor den Kirchen auf kalten Steinen knieten. Das Schweigen war lauter als die Unruhe der Kinder, die im Kölner Dom auf ihre Spritze warteten. Das Schweigen war lauter als die Rufe der Menschen, die alleine hinter Plexiglas in ihren Betten starben.
Möglicherweise fühlen Sie bereits jetzt eine starke Ablehnung gegenüber meinen Worten. Das ist in Ordnung. Ich bin nicht gekommen, um zu gefallen. Und auch nicht für Applaus. Ich bin gekommen, weil mir unsere Gesellschaft seit drei Jahren verdammt wichtig geworden ist. Vor allem, wenn uns Unmenschlichkeit als „neue Normalität” proklamiert wird. Ich empfinde Traurigkeit und Mitgefühl. Für unser gesamtes Land. Für beide Länder, die wir einmal waren. Es zeigen sich Unterschiede. Der politische Geist ist aktiv. In einigen Teilen mehr als in anderen.
Ich habe Mitgefühl, denn wir sind ein traumatisiertes Volk. Eine traumatisierte Gesellschaft. Und das haben die letzten Jahre, Monate und Wochen gezeigt. Wir tragen Hass, Abwertung und Arroganz in uns. Das ist schmerzhaft zu beobachten.
Sie bemerken, mein Text ist aufgeladen. Ich möchte nicht polarisieren. Es geschieht von ganz allein, indem ich benenne, dass etwas falsch läuft in unserem Land. Natürlich ist das meine Ansicht. Sie dürfen gerne eine andere haben. Doch meine bekommen Sie nicht. Und ich werde sie auch nicht ändern, wenn sie Ihnen missfällt.
Ich bin verwundert und irritiert über unsere Gesellschaft und was sie gezeigt hat die letzten drei Jahre. Nicht, dass diese Dinge geschehen sind. Sondern dass dazu geschwiegen und gegen andere Auffassungen gehetzt, verleumdet und verachtet wurde.
Dass Grundwerte und Überzeugungen verletzt werden. Dass Worte und Taten nicht zusammenpassen. Was aber hilft uns, wieder Unterhaltungen zu führen? Sie wissen schon: Zwei Menschen tauschen sich aus, jeder mit einer eigenen Haltung. Eine Unter-Haltung.
Wie finden wir wieder zueinander? Ich denke: Musik, Konzerte, Theater, Filme, Tanz — das, was über ein Jahr verboten war, bis heute eingeschränkt ist und wir unseren Beruf nicht mehr ausüben konnten, teilweise bis heute nicht können: Gemeinsames Erleben mit unbekannten Menschen in einem Raum. Kurzum: Nähe. Das Eintauchen in tiefere Sphären des Bewusstseins. Begreifen, dass man ohne einander nicht kann, und es ein „Ohne einander“ nicht geben wird. Und das geht nicht per Videostream.
Ich freue mich jedenfalls, jeden Einzelnen von Ihnen hier zu sehen. Jedes einzelne, offene, neugierige und wissbegierige Gesicht. Das ist Schönheit. Das ist Leben. Und vielleicht gibt es ja den einen oder anderen hier, der sich von meinen Worten sogar angesprochen fühlt. Ich freue mich auf das Gespräch.
Quellen und Anmerkungen:
Die aufgezählten Begriffe im zweiten Absatz des Textes sind Zitate aus gängigen, großen deutschen Medien/Zeitungen und Aussagen von Politikern. Alle Bezeichnungen wurden öffentlich so genannt, verlesen oder niedergeschrieben.