Kultivierte Blindheit
Griechische Tragödien sollten vor 2.500 Jahren Menschen zum Nachdenken anregen — heute werden dieselben Stücke genutzt, um die Wahrheit zu verschleiern.
Nicht allen Menschen sind die Dramen des Sophokles geläufig. Jedoch zählen sie — vollkommen zu Recht — seit Jahrhunderten zum Bildungsgut. Sie werden bis heute oft der jungen intellektuellen Elite in Gymnasien als Unterrichtsstoff angeboten. In diesen Stücken treten — bewusst formuliert — Widersprüche zutage, die das attische Publikum zum Nachdenken anregen sollten. In Fachkommentaren von früher bis heute werden diese Widersprüche jedoch regelmäßig ausgeblendet und übergangen. Der Effekt: Der Eliten-Nachwuchs wird darin trainiert, über offensichtliche Ungereimtheiten hinwegzusehen. Diese eingeübte Nichtwahrnehmung bestimmt dann auch den Umgang mit aktuellen Widersprüchen — beispielsweise um „Corona“.
Der Autor hat auf Rubikon bereits zu den Dramen „König Ödipus“ und „Antigone“ die darin enthaltenen Widersprüche aufgezeigt und gedeutet, die von Fachkommentaren bislang „übersehen“ worden sind. Hier nun ergänzend ein Blick auf das Sophokles-Stück „Die Trachinierinnen“. Es erzählt vom Tod des antiken Superhelden Herakles.
Auch hier gilt: Wer die darin eingebauten Widersprüche nicht wahrnimmt, begreift das Geschehen nicht. Man sieht dann im Tod des Herakles das Ergebnis eines tragischen bis fahrlässigen Versuchs seiner Gattin, einen Liebeszauber ins Werk zu setzen. Diese Deutung wird — wie ich an etlichen Beispielen belege — bis heute in der Fachwelt kultiviert. Dabei lässt sich das Gegenteil plausibel machen: Es handelt sich hier zweifellos um die Vergeltungsaktion einer betrogenen Ehefrau, die im letztmöglichen Moment blitzschnell einen abgrundtiefen Verrat zielstrebig rächen möchte.
Trauma, Katharsis und „Psychanalyse“ (1)
Der antike Autor Sophokles hat vor 2.500 Jahren in Athen gelebt, ungefähr von 497 bis 405 vor unserer Zeitrechnung (v.u.Z.). In dieser Entstehungszeit der attischen Demokratie hat er Theaterstücke verfasst, von denen sieben bis heute erhalten sind. Er bringt damit grandiose politische Gleichnisse auf die Bühne Athens, die seine Landsleute in demokratischem Bewusstsein erziehen sollten.
Wer solche Dramen auf sich wirken lässt, kann in Worte fassen und zum Ausdruck bringen, was bei den fiktiven Figuren an emotionalen Regungen abläuft — und damit womöglich auch bei einem selbst. Der griechische Philosoph und Arzt Aristoteles — 384 bis 322 v.u.Z. — spricht ungefähr ein Jahrhundert nach Sophokles davon, dass dies dem Publikum ermögliche, sich von Beklemmungen zu befreien. Er bezeichnet diesen Prozess als „Katharsis“.
In den Jahren 1880 bis 1882 entwickelt der Wiener Arzt Josef Breuer zusammen mit seiner Patientin Bertha Pappenheim, Pseudonym „Anna O“, ein Psychotherapieverfahren, das er Psychanalyse nennt (1). Er orientiert sich bei der Namensgebung an einer Äußerung Friedrich Schillers über das Stück „König Ödipus“, der es als „tragische Analysis“ bezeichnet (2).
„Analysis“ leitet sich ab von griechisch „ana“ (zurück, rückwärts) und „lyein“ (lösen). Rückwärtsgewandt löst — wie im Rubikon gezeigt — Ödipus, der König von Theben, sein eigenes Schicksal auf und gelangt am Ende seiner Nachforschungen zu seinem frühkindlichen Trauma: Im Alter von drei Tagen sollte er mit durchbohrten Fersen und zusammengebunden Füßen in der Wildnis zum Sterben ausgesetzt werden. Von dieser Misshandlung her trägt er seinen Namen Ödipus (Schwellfuß). Er wird dabei nachhaltig seinen Eltern entfremdet. Die Wahrheit muss erkannt und ausgesprochen werden — nur so kann in Theben die grassierende Pest verschwinden, ist dem Gemeinwesen eine Genesung möglich.
Diese rückwärtsgewandte Aufklärung einer Traumatisierung entspricht exakt dem Vorgehen von Breuer. Er hatte erkannt, dass psychische oder körperliche Reaktionen, die in traumatischen Situationen abgelaufen sind, bei entsprechenden Auslösereizen, die an das Trauma erinnern — neudeutsch: Trigger —, gleichsam reflexhaft wieder anspringen. Es ist im Grunde der Mechanismus, für dessen Beschreibung Iwan Pawlow 1904 den Nobelpreis erhalten hat, der als „klassisches Konditionieren“ bezeichnet wird.
Problematische konditionierte Reaktionsmuster konnte Breuer zum Verschwinden bringen, indem er seine Patientin dazu anregte, sich in einer Trance die auslösende Situation noch einmal wachzurufen und die damit einhergehenden, einem „gesunden“ Instinkt entsprechenden Gefühle, die damals angemessen gewesen wären, jedoch verdrängt werden mussten, erneut zu erleben und auszusprechen — beispielsweise Wut, Angst, Trauer, Abneigung oder Ekel. Breuers Patientin erfand in diesem Zustand auch spontan Geschichten und spielte darin tagtraumartig gute Lösungen durch. Breuer nannte diese Form der Behandlung auch „kathartische Methode“ (3).
Eine solche Katharsis klärt den Blick auf die eigene Situation. Man ist in der Lage, sich von alten Glaubenssätzen, Überzeugungen oder Verhaltensmustern zu lösen, die sich in den traumatischen Momenten ausgebildet und eingeprägt haben.
Während diese Reaktionen in der Ursprungssituation durchaus sinnvoll gewesen sein konnten, kann ihr automatisches Anspringen in späteren Zeiten lästig und hinderlich sein. Die Befreiung von ihnen dient letztlich der Selbstverwirklichung. Bleiben erlebte Traumata ungeklärt, so können „falsche“ oder ungesunde Glaubenssätze und Verhaltensweisen erhalten bleiben. Dies wiederum kann zu falschen Einschätzungen und ungünstigen Lebensentscheidungen führen.
Menschlicher und gesellschaftlicher „Organismus“
Josef Breuer wollte ein menschliches Einzelwesen von seiner Beklommenheit befreien und zur gesunden Selbstverwirklichung befähigen. Sophokles hingegen hatte in seinem Publikum quasi einen kollektiven „Organismus“ vor sich, den er von problematischen Geisteshaltungen und damit von schädlichen politischen Entscheidungen abbringen wollte. Seine gleichnishaften Stücke sollten zu einer wahrhaft demokratischen, gesunden Selbstverwirklichung dieses Gemeinwesens führen.
Zweifellos lag ein Manko der damaligen Demokratie in Athen darin, dass die Beteiligung an der politischen Willensbildung nicht gleichberechtigt geregelt war. Diejenigen jedoch, die sich am politischen Geschehen beteiligen konnten, waren sehr viel unmittelbarer und weitgehender eingebunden, als dies in heutigen parlamentarischen oder repräsentativen Demokratien der Fall ist. Alle stimmberechtigten attischen Bürger waren gehalten, sich über die Vorgänge um sich herum Gedanken zu machen und zu anstehenden Fragen unmittelbar mitzudiskutieren und abzustimmen:
Soll die Kasse des attischen Seebundes ganz der Obhut Athens unterstellt werden? Könnten sich daraus Konflikte ergeben? Ist es in Ordnung, aus Angst vor den Persern die Bündnispartner des attischen Seebundes mit Gewalt zu zwingen, dort weiterhin Mitglied zu bleiben und die entsprechenden hohen finanziellen Beiträge zu leisten? War es gerechtfertigt, bei dem Konflikt zwischen Samos und Milet eine Position gegen den langjährigen Bündnispartner Samos einzunehmen? Durfte man die Insel Melos überfallen, die männlichen Bewohner töten und die Frauen und Kinder in die Sklaverei verkaufen, um sich mit dieser Enteignung die Kriegskasse zu füllen? War solch eine Maßnahme geeignet, die Erfolgsaussichten im Krieg zu verbessern?
Schärfung des öffentlichen Bewusstseins
Worum geht es wirklich in bestimmten gesellschaftlichen Konflikten? Worin liegt der Kern verhängnisvoller Entwicklungen? Welche Ansprüche sind gerechtfertigt, welche sind schädlich? Sophokles hat derartige Denkaufgaben in seine Dramen hineingewoben. Sie erschließen sich nur dann, wenn man Feinheiten in seinen Texten wahrnimmt, die sich häufig als Widersprüche zeigen. Diese Rätsel wahrzunehmen und zu lösen, ist eigentlich gar nicht so schwer.
Jedoch — wie in den früheren Beiträgen gezeigt — wird traditionell regelrecht eine Blindheit für Widersprüche kultiviert.
Sophokles-Stücke werden zwar gespielt oder in der Schule gelesen, die Fach- und Schülerkommentare blenden jedoch die Widersprüche aus, ignorieren sie oder definieren sie weg.
Eine bewusste Auseinandersetzung damit wird regelrecht verhindert. Das führt dazu, dass so etwas wie „Wahrheit“ nicht zur Geltung kommt. Merkwürdigkeiten werden außer Acht gelassen. Unwahrheiten werden verbreitet. Das Publikum wird darin trainiert, sich täuschen zu lassen (4).
Denkwürdige Todesfälle
Es gibt zahlreiche Todesfälle aus moderner Zeit, die mir ungeklärt scheinen: etwa bei John F. Kennedy, Uwe Barschel, Siegfried Buback und seinen zwei Begleitern, bei den Opfern des Oktoberfest-Attentats, des „NSU-Trios“ oder des Anschlags auf das Olympia-Einkaufszentrum. Vermutlich könnten solche Fälle auch nachträglich noch geklärt werden. Die eigentliche Wahrheit sollte aus meiner Sicht unbedingt enthüllt werden. Die Verantwortlichen sollten — sofern möglich — noch zur Rechenschaft gezogen werden.
Wie kann beispielsweise Lee Harvey Oswald für die tödlichen Schüsse auf John F. Kennedy verantwortlich sein, wenn er sich zur Tatzeit im Rücken des Präsidenten befunden haben muss?
Das vorhandene Bildmaterial — beispielsweise der Zapruder-Film — lässt deutlich erkennen, wie Kennedys Kopf im Moment seiner Ermordung zunächst, offenbar nach einem ersten Schuss in den Hals, nach unten sackt, dann von einem zweiten Schuss nach links hinten geschleudert wird. Die Schüsse mit unterschiedlichem Kaliber sind von vorne gekommen. Wer waren die Mörder? (5)
Oder: Etliche Zeugen der Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback und seiner zwei Begleiter wollen eine kleine, zierliche Person, womöglich eine Frau, als Schützen gesehen haben. Circa sechs Wochen nach diesem Mordanschlag lieferte sich eine kleine zierliche Frau mit Polizisten eine Schießerei, bei der zwei Beamte schwer verletzt wurden. Die „Terroristin“ — sie ist womöglich bereits zu diesem Zeitpunkt eine Informantin des Verfassungsschutzes — kann am Ende gestellt werden. Bei ihr, Verena Becker, findet sich die Waffe, mit der der Generalbundesanwalt und seine zwei Begleiter erschossen wurden — aber sie wird damals noch nicht einmal deswegen angeklagt. Warum? (6)
Hier stellen sich viele Fragen: Gibt es Hintermänner und -frauen? Treiben sie weiter ihr Unwesen? Warum lassen sich gerade Fachleute, beispielsweise Polizeibeamte, die ein besonderes Verständnis für Ermittlungserfordernisse haben sollten, so schnell auf irgendwelche Narrative einschwören, anstatt merkwürdigen Widersprüchen auf den Grund zu gehen und auf deren Auflösung zu drängen? Welche Rolle haben hier Medien zu spielen, vor allem die öffentlich-rechtlichen? Wie wollen wir aus solchen Tragödien geeignete Konsequenzen ziehen, wenn wir womöglich noch nicht einmal ihre Hintergründe verstanden haben?
Die Trachinierinnen
Das Drama „Die Trachinierinnen“ behandelt den Tod von Fürst Herakles. In seinem Leben hatte er es mit zahlreichen Ungeheuern, Unholden oder schier unlösbaren Aufgaben zu tun. Was aber bringt ihn am Ende zur Strecke? War es ein missratener Liebeszauber? Oder war es Mord? Dieses geniale Sophokles-Stück bietet bis heute Stoff zur Auseinandersetzung.
Deianeira, die Gattin des Herakles, lebt mit ihrem Sohn Hyllos in Trachis und wartet auf die Rückkehr ihres Gatten, der — zur Sühnung einer Untat — fünfzehn Monate lang fern von ihr diverse Aufgaben zu erledigen hatte. Nun belagert er aktuell die Stadt des Königs Eurytos. Deianeira weiß von einem Orakelspruch: Wenn ihr Gatte von diesem Feldzug heil zurückkehrt, dann wird er unbeschadet sein weiteres Leben genießen — oder aber er stirbt vor seiner Rückkehr. Sie macht sich wirklich Sorgen um sein Leben, ist sich auch bewusst, dass er aktuell in Gefahr schwebt und dass er — umgekehrt — unbeschadet weiterleben wird, wenn er jetzt heil nach Hause zurückkommt, was sie in der Eingangsszene offenbar aufrichtig erwünscht.
Bereitwillig folgt sie dem Rat einer Dienerin, ihren Sohn Hyllos mit dem Verweis auf diese Prophezeiung dem Vater entgegenzuschicken, damit er ihn — falls nötig — unterstützen könne. Hyllos hätte dies schon längst getan, wenn ihm jemand von dieser Weissagung erzählt hätte. Der junge Mann macht sich sogleich auf den Weg.
Bei einer Lüge ertappt
Ein Mann aus dem Volk überbringt nun Deianeira die Nachricht, dass Herakles dabei sei, siegreich in die Heimat zurückzukehren. Er habe dies von Lichas, einem Herold des Herakles, vernommen, der es gerade auf dem Weideplatz der Rinder den dort zahlreich anwesenden Menschen verkünde. Herakles sei aktuell noch damit beschäftigt, vor Ort die erforderlichen Opfer vorzubereiten und darzubringen. Kurz darauf tritt Lichas selbst vor Deianeira. Er führt eine Gruppe von Sklavinnen mit sich: Kriegsbeute des Herakles von seinem letzten Feldzug. Herakles habe bestimmt, dass sie künftig in seinem Haus dienen sollten.
Lichas rekapituliert, wie es zum Krieg gekommen sei: Im Laufe eines Gastmahles sei Herakles von dem Gastgeber Eurytos durch die Aussage beleidigt worden, seine Söhne könnten besser mit Pfeil und Bogen umgehen als Herakles. Das habe Herakles tief gekränkt, denn er besitzt doch einen wunderbaren Bogen, der nie sein Ziel verfehlt. Darüber hinaus sei Herakles im Laufe des Abends in betrunkenem Zustand von Eurytos vor die Tür gesetzt worden. Herakles habe sich gerächt, indem er bei anderer Gelegenheit einen Sohn des Königs, Iphitos, von den Zinnen einer Festung in den Abgrund gestoßen habe. Wegen der Heimtücke dieser Tat sei Herakles von Zeus bestraft worden: Er habe ein Jahr lang der Königin Omphale von Lydien als Sklave dienen müssen. Aus Rache für diese Schmach des Sklavendienstes habe Herakles nun, nach Ablauf der Strafe, die Festung des Eurytos erobert, den König getötet und dessen Volk versklavt.
Unter den herbeigebrachten Sklavinnen fällt der Gattin des Herakles besonders eine edle junge Frau ins Auge, in der sie eine Tochter des Eurytos vermutet. Sie befragt den Herold, der jedoch bestreitet, irgendetwas über deren Identität zu wissen. Deianeira zeigt Mitleid mit den verschleppten Frauen und bestimmt, dass sie auf jeden Fall gastlich aufgenommen sein sollen.
Während Lichas die Sklavinnen ins Haus bringt, tritt der Mann aus dem Volk erneut auf Deianeira zu. Er schickt voraus, dass man ja nun nicht sagen könne, ob Lichas auf der Weide oder vor Deianeira gelogen hätte. Auf jeden Fall habe der Herold in der Öffentlichkeit eine ganz andere Version des Geschehens zum Besten gegeben: Bei der auffallend edlen jungen Frau handle es sich — wie Deianeira bereits vermutet habe — um eine Tochter des Eurytos, Iole. Herakles hätte Eurytos bedrängt, ihn mit Iole in geheimer Ehe zu verbinden. Da Eurytos dieses Ansinnen von sich gewiesen hätte, habe Herakles unter einem Vorwand dessen Festung erobert, Eurytos getötet und Iole in Besitz genommen.
Listige Verhörtechnik
Deianeira ist erschüttert. Der Chor ist erbost über die Verlogenheit des Herolds. Auf das Anraten der Chorführerin, Lichas erneut eindringlich zu befragen, stellt Deianeira diesen zur Rede. Er behauptet nochmals, er wisse nicht, wer die junge Frau sei. Der Mann aus dem Volk beschuldigt daraufhin den Herold der Treulosigkeit gegenüber seiner Herrin. Auf dem Marktplatz habe er gerade noch öffentlich preisgegeben, wie es sich mit der jungen Frau verhalte. Lichas blockt das weitere Gespräch ab und erklärt den Zeugen zum Narren.
Mit direkter Konfrontation ist dem Herold also anscheinend nicht beizukommen. So schwenkt Deianeira auf eine andere Strategie um. Sie beteuert, dass sie großes Verständnis habe für Herakles. Es sei unmöglich und sinnlos, gegen Aphrodite, die Göttin der Liebe, anzukämpfen. Selbst Götter seien ihr gegenüber machtlos. Sie habe es ja auch am eigenen Leib schon gespürt. Die zur Schau getragene tolerante Haltung der Deianeira verbunden mit der Aufforderung, nun aufrichtig die Wahrheit zu sagen, lassen Lichas jetzt ausdrücklich bestätigen, was der Mann aus dem Volk berichtet hatte. Er betont noch, aus eigenem Antrieb — und nicht auf Geheiß des Herakles — die Unwahrheit gesagt zu haben.
Der Liebeszauber
Deianeira nimmt alles anscheinend sehr gefasst und tolerant auf. Sie bittet den Herold ins Haus: Nachdem er so viele Gaben mitgebracht habe, wolle sie ihn nicht mit leeren Händen zu Herakles zurückkehren lassen. „Heimlich“, wie sie selbst sagt, tritt sie indes noch einmal vor das Tor, um dem Chor zu gestehen, wie sehr sie unter dieser Absicht ihres Mannes leide. Sie sei zwar schon zuvor öfter von ihm durch seine Affären gekränkt worden, aber jetzt mute er ihr sogar zu, mit der deutlich jüngeren Nebenbuhlerin unter einem Dach zu leben. Es sei abzusehen, dass er sich immer mehr der neuen Frau zuwenden werde. Deinaneiras Verständnis für die Macht der Liebe ist hier also — durchaus nachvollziehbar — recht begrenzt.
Sie weiht die Umstehenden in eine List ein: Als sie mit Herakles jung vermählt war, hatte Nessos — ein Zentaur, halb Pferd, halb Mensch — sie am Fluss Euenos übergesetzt. Mitten im Fluss wollte er sich an ihr zu schaffen machen. Auf ihren Schrei hin habe Herakles den Nessos mit einem Pfeil erlegt, der mit dem Gift der Lernäischen Schlange präpariert war. Der Sterbende habe ihr geraten, das an seiner Wunde austretende Blut als unfehlbaren Liebeszauber aufzubewahren. Deianeira zitiert die — angeblichen — Worte des Zentauren (7):
„Wenn du aus meiner Wunde das geronnene Blut mit deinen Händen an dich nimmst, wo gallig schwarz das Schlangenvieh von Lerna einst den Pfeil gefärbt, so wird dir das als Zaubermittel dienen für Herakles’ Herz, damit er keine andre Frau jemals erblicke, die er lieber hat als dich.“
Dieses Mittel habe sie jetzt angewendet. Unter Beachtung all dessen, was ihr Nessos dazu noch gesagt habe, habe sie ein Gewand für Herakles damit getränkt. Die Gattin des Helden bittet den Chor der trachinischen Frauen ausdrücklich um Rat. Sollte ihnen der Plan zu riskant erscheinen, würde sie selbstverständlich davon Abstand nehmen:
„(...) und nun ist’s vollbracht. Von schlimmen Künsten möcht ich weder wissen noch sie lernen: Frauen, die das wagen, hasse ich. Doch trüg ich über jenes Weib den Sieg davon durch Liebesbann und Zauberei an Herakles — das Werk ist vorbereitet —, wenn als Torheit nicht mein Tun erscheint; sonst unterlass ich es.“
Mahnung zur Vorsicht
Die hierauf folgende Mahnung der Trachinierinnen ist eindeutig: Nur dann, wenn ein bestimmtes Mittel schon erprobt worden ist, könne man sich über dessen Wirkung sicher sein. Andernfalls könne alles Mögliche passieren.
Chor: „Wenn man Vertrauen zu der Sache haben kann, so scheint uns der Entschluss, den du gefasst, nicht schlecht.“
Deianeira: „Mit dem Vertrauen steht es so: Man darf daran zwar glauben, doch erprobt hab ich es keineswegs.“
Chor: „Du kommst zum Wissen nur durch Handeln. Nichtig ist dein Glauben an die Kenntnis, die du nicht erprobt.“
Deianeira: „Bald werden wir es wissen; denn dort seh ich schon den Mann am Tor, und eilig kommt er hier herab. Nur wahrt mir dies Geheimnis! Selbst wer Schändliches im Dunkeln tut, fällt doch der Schande nicht anheim.“
Die Trachinierinnen raten also deutlich zur Vorsicht und empfehlen, zunächst einen Test vorzunehmen. Entgegen ihrer Zusage, Einwände ernst zu nehmen, beendet Deianeira schon im nächsten Moment die Erörterung der Bedenken. Sie verweist dabei auf den gerade abreisenden Lichas, dem sie unbedingt das präparierte Gewand für Herakles noch mitgeben wolle. Ihre Antwort auf die deutliche Skepsis des Chores klingt — im Hinblick auf den Ausgang der ganzen Geschichte — geradezu zynisch: „Bald werden wir es wissen.“ Am Beispiel des Herakles werde man also bald den erstaunlichen Effekt des Wundermittels beobachten können. Rasch verpflichtet die Herrin noch das Gefolge zur Verschwiegenheit.
Anweisungen an Lichas
Mit genauen Instruktionen übergibt Deianeira nun dem Lichas das „Geschenk“ an ihren Gatten: In einem versiegelten Kästchen solle Lichas seinem Herrn das Gewand aushändigen mit dem Hinweis, dass Deianeira gelobt habe, Herakles werde nach siegreicher Beendigung seiner Aufgaben in einem neuen Gewand ein Opfer darbringen. Wichtig sei, dass niemand anderes das Gewand anzöge und dass es weder mit Sonnenlicht noch mit einem Herdfeuer in Berührung komme, bevor Herakles es zur Opferung anlege. Lichas solle für die Befolgung dieser Anweisungen Sorge tragen. Sie hebt noch einmal hervor, wie liebevoll sie die fremden Sklavinnen aufgenommen habe, worauf Lichas bekennt, wie sehr er darüber freudig überrascht gewesen sei.
Deianeiras Antwort auf diesen letzten Satz des Lichas klingt für mich doppeldeutig: Sie befürchte, Lichas könne dem Herakles zu früh von ihrer Sehnsucht nach ihm erzählen, bevor so richtig klar sei, ob denn auch bei ihm dieses Verlangen vorhanden sei. Damit mag sie einerseits ihre Befürchtung andeuten, künftig neben der jüngeren Iole nur noch wenig Beachtung zu finden, und setzt Lichas ein wenig unter moralischen Druck, ihre Liebessehnsucht dem Herakles glaubhaft zu machen: Der Ehemann muss ja schließlich dazu motiviert werden, das übersandte Nessoshemd tatsächlich anzuziehen. Andererseits kann sie womöglich durchaus vorhersehen, dass diese Liebesgabe bei Herakles nicht auf große Gegenliebe stoßen wird. Deianeira würde mit beiden Prognosen Recht behalten. Herakles wird zwar entbrennen — jedoch nicht in Liebe zu seiner Gattin.
Echtes Schuldbewusstsein oder Schauspielerei?
Nachdem Lichas abgezogen ist, tritt Deianeira erneut vor den Chor. Sie wirkt ganz zerknirscht, wenn sie gesteht, sie habe womöglich „aus guter Hoffnung großes Unheil angerichtet“: Gerade habe sie gesehen, wie ein Wattebausch, mit dem sie das Gewand des Herakles mit dem Blut des Nessos getränkt hatte, bei der Erwärmung im Sonnenlicht in Brand geraten und brodelnd in sich zerfallen sei. Erst jetzt erzählt sie den Frauen ausführlich von der Anweisung des Nessos, das Blut auf keinen Fall der Wärme oder einem Lichtstrahl auszusetzen (8). Nun fällt ihr plötzlich auch ein, dass es der tödlich verwundete Nessos kaum gut mit ihr und Herakles gemeint haben dürfte. Lamentierend erklärt sie:
„Nun weiß ich Arme nicht, wie ich mir raten soll. Doch seh ich wohl: Ich habe Schreckliches verübt. Warum, wofür auch sollte sterbend wohl das Tier Wohlwollen zeigen — mir, die ihm den Tod gebracht? Unmöglich! Nein, vernichten wollt es den, der schoss, und ich ließ mich betören!“
Deianeira wirkt aufrichtig betrübt, wenn sie ihr Bekenntnis ablegt. Dabei rückt sie sich selbst ganz in den Vordergrund des Geschehens: Sie selbst sei diejenige, die dem Tier „den Tod gebracht“ habe, sodass es auch ihr gegenüber kein Wohlwollen gezeigt haben konnte. Sie selbst sei es, die sich von Nessos habe betören oder betrügen lassen (9). Deianeira kündigt an, sie wolle nicht mehr leben, wenn ihr Gatte durch sie den Tod gefunden haben sollte:
„Doch ist’s beschlossen: Sollt er (Herakles) nun zugrunde gehen, so sterb auch ich zugleich und durch dasselbe Los.“
Deianeiras weiteres Verhalten werden wir gleich an genau dieser Suizidankündigung messen müssen. Die geradezu vorauszuberechnende Reaktion des Chores darauf besteht jedenfalls in der Tröstung der „armen Frau“. Sie habe ja nicht mit Absicht schlecht gehandelt. Das würde den möglichen Zorn auf sie mildern, wenn die Sache übel ausgehen sollte:
„Doch den, der ohne Vorsatz sich vergeht, den trifft gelinder Zorn, und das muss gelten auch für dich.“
In diesem Moment kommt der Sohn Hyllos nach Hause und verflucht seine Mutter: Durch sie sei sein Vater Herakles tödlich verwundet. Bezeichnend, dass die Mutter, die gerade noch vor den umstehenden Frauen die verhängnisvolle Wirkung des Zaubermittels bekannt und seine fatale Wirkung auf Herakles vorhergesehen hatte, nun ihrem Sohn gegenüber völlige Ahnungslosigkeit heuchelt:
Hyllos: „O Mutter, eins von dreien wünsch’ ich mir für dich: dass du nicht mehr am Leben wärst, dass, lebend zwar, du eines andren Mutter hießest oder dass du bessren Sinnes wärest, als du wirklich bist!“
Deianeira: „Was ist’s, mein Sohn, das du an mir so hassen musst?“
Hyllos: „Den Mann, den deinen. wisse, meinen Vater, sag ich dir, hast du gemordet an dem heutigen Tag.“ Deianeira: „Weh mir, mein Kind, was für ein Wort bringst du hervor!“
Hyllos: „Es kann nicht widerrufen werden: Was einmal vollzogen ist, wer macht das wohl ungetan?“ Deianeira: „Was sagst du, Kind? Von welchen Menschen hörtest du’s, dass du mich solch abscheulicher Untat zeihen darfst?“
Die Mutter schaltet offensichtlich blitzschnell um. Nicht etwa, dass sie sagen würde: „Ach Gott! Wie schrecklich! Es ist also geschehen!“ Nein! Die kurz zuvor zur Schau gestellte Furcht vor den absehbaren Konsequenzen ihres „Liebeszaubers“ wird vollkommen zurückgenommen. Ihrem Sohn gegenüber gibt sie sich völlig naiv und unwissend.
Hyllos berichtet, wie das Gewand, mit dem Herakles sich zum Opfer bekleidet habe, plötzlich während des Ritus in Flammen aufgegangen sei und sich dem Vater in die Haut eingebrannt habe. Er sei unter fürchterlichen Qualen zusammengebrochen. Lichas, den Überbringer des Gewandes, habe er noch mit letzter Kraft an einem Felsen zerschmettert. Der Sohn bezichtigt seine Mutter, sie habe diesen Plan bewusst erdacht und ausgeführt. Erschüttert über den Tod des Vaters wünscht er ihr erneut eine gerechte Strafe.
Deianeiras Suizid
Deianeira zieht sich daraufhin wortlos in den Palast zurück. Die kurz darauf hervortretende Amme berichtet, wie sehr Deianeira sich über den Zorn des Hyllos gegrämt habe (10): „(sie) warf sich dann vor die Altäre, schrie, dass einsam sie sein würde, (...) und weinte jammervoll, indem sie selbst ihr Schicksal sich vor Augen rief, das kinderlose Dasein, das ihr übrig blieb.“ Schließlich habe sie sich ein Schwert in die Seite gestoßen. Als der Sohn die Tote gesehen habe, habe er bereut, seine Mutter beschuldigt zu haben.
Das hier zitierte Motiv für den Selbstmord der Mutter — das sie, laut Zeugin, selbst benennt — ist bemerkenswert. Denn anders als zuvor angekündigt, bringt sie sich offenbar nicht um, weil sie die Verantwortung für den Tod des Herakles trägt, sondern weil sie erkennt, dass ihr Sohn sie wegen ihrer Tat verlassen wird. Allein dies treibt Deianeira in den Freitod.
Tödlich verwundeter Herakles
Der an schwersten Brandwunden lebensgefährlich verletzte Herakles wird nun, zunächst noch bewusstlos, herbeigetragen. Als er erwacht ist, zählt er — von Schmerzensschreien unterbrochen — all die Taten auf, mit denen er seine Mitmenschen von diversen Plagen befreit habe. Was aber kein Ungeheuer bisher vollbringen konnte, das sei seiner Gattin ganz ohne Waffen gelungen. Im Zorn will er mit seiner letzten Kraft noch Deianeira töten. Hyllos berichtet zögernd, dass diese ihrem Gatten bereits zuvorgekommen sei. Er selbst ist zu diesem Zeitpunkt überzeugt, dass sie dem Herakles im besten Glauben das Gewand geschickt habe. Herakles geht auf die Versuche, ihn von Deianeiras „guter Absicht“ zu überzeugen, nicht ein.
Als er jedoch von dem „Zaubermittel“ des Nessos hört, wird Herakles restlos klar, dass sein Ende gekommen ist. Er sieht als erfüllt, was ihm Zeus einst prophezeit habe: dass er durch einen Gestorbenen — also Nessos — den Tod erleiden würde. Er verlangt von seinem Sohn einen letzten Dienst: Er solle ihn auf einem Scheiterhaufen verbrennen und Iole zur Frau nehmen. Nur sehr widerstrebend erklärt Hyllos sich damit einverstanden. Allerdings will er den Holzstoß lediglich aufschichten, nicht aber in Brand setzen. Mit dem Abmarsch des Zuges zum Zeus-Heiligtum auf dem Berg Oeta, auf dem Herakles verbrannt werden möchte, endet das Stück.
Intrige der Deianeira
In diesem Drama steht eine Frauenfigur im Mittelpunkt, die fähig ist zu raffinierter Intrige. Sie agiert so geschickt, dass ihr am Ende die Umstehenden — bis auf Herakles — treuherzig Glauben schenken. Dabei belegt Deianeira doch mehrfach auf der Bühne, wie listig sie sein kann:
Eindeutig gegen ihre Überzeugung vermag sie dem Lichas wirksam ihr Verständnis für die Versuchungen der Liebe vorzuspielen.
Deianeira sagt zunächst ihrem Gefolge zu, sie würde bei irgendwelchen Einwänden gegen ihren Plan auf den angeblichen Liebeszauber verzichten. Kurz zuvor folgt sie zweimal bereitwillig dem Rat der Umstehenden: als sie ihren Sohn dem Vater entgegenschickt und als sie den Herold einer zweiten Befragung unterzieht. Warum setzt sie sich jetzt über die gravierende Warnung ihres Gefolges, das unerprobte Mittel nicht anzuwenden, so blitzschnell hinweg?
Die Eile, mit der Deianeira zu Werk geht, ist verräterisch: Dieser todsichere Liebeszauber sollte doch eigentlich seine Wirkung auch noch dann zeigen können, wenn Herakles erst einmal heil nach Hause zurückgekehrt wäre. In der Zwischenzeit hätte Deianeira ihn in Ruhe erproben können. Wenn sie sich also tatsächlich — aufgrund des Orakels — schwere Sorgen um die Sicherheit ihres Gatten gemacht hätte, dann hätte sie ihn zunächst einmal ungestört heimkehren lassen müssen. Stattdessen bemüht sie sich in auffälliger Weise, dem Herakles das fatale Geschenk möglichst rasch entgegenzusenden, sodass es ihn noch vor seiner Rückkehr erreicht. Denn die orakelgläubige Deianeira weiß, dass sich ihr Gatte „künftig eines nie getrübten Lebens freu’n“ wird, wenn er erst einmal unbeschadet nach Hause gekommen ist. Sie wird dann nichts mehr gegen ihn ausrichten können. Um sich für die ihr zugefügte Kränkung zu rächen, muss sie auf der Stelle handeln.
Deianeira verschweigt ihrem Gefolge zunächst die ihr wohlbekannte Bedingung, dass das angebliche Nessosblut vor Licht und Wärmeeinstrahlung geschützt werden muss. Vermutlich will sie erst einmal keinen allzu großen Argwohn erregen. Sie versäumt jedoch nicht, dem Lichas die Einhaltung dieser Bedingung sorgfältig einzuschärfen. Auch ihrem Gefolge gegenüber kommt sie später, bei ihrem gespielten Schuldbekenntnis, darauf zu sprechen.
Glatt geht ihr die Lüge über die Lippen, wenn sie dem Herold von einem angeblichen Gelübde erzählt, unter dem sie dem Herakles das neue Opfergewand zukommen lassen möchte.
Mit geheuchelter Überraschung bricht sie ihrem Sohn gegenüber bei der Nachricht vom Elend des Herakles in ungläubige Verwunderung aus. Kurz zuvor hatte sie noch das Resultat ihres „Liebeszaubers“ klar vorhergesehen.
Entgegen ihrer Ankündigung, bei ihrer Verantwortung für den Tod des Herakles sich das Leben zu nehmen, begeht sie nur deshalb den Suizid, weil sie erkennt, dass ihr Sohn sie wegen ihrer Tat verabscheut und verlassen wird.
Diese Details lassen Deianeira als eine meisterliche Intrigantin erkennen, von der man wohl annehmen muss, dass sie im vollen Wissen um die Wirkung des Zentaurenblutes — das sie womöglich mit Hilfe gewisser chemischer Kenntnisse selbst hergestellt hat (8) — ihrem Gatten das verhängnisvolle Geschenk hat zukommen lassen (11). Ganz unwahrscheinlich, dass sie so naiv gewesen sein könnte, das Blut, das aus der von einem giftgetränkten Pfeil verursachten Wunde eines Feindes ihres Mannes austritt, für einen Liebeszauber zu halten.
Deianeira hat gute Gründe, vor ihrem Gefolge ihre Überraschung über die tatsächliche Wirkung der blutgetränkten Wolle in Szene zu setzen — mit dem Kalkül, dass die Trachinierinnen sie bei so viel „Aufrichtigkeit“ aktiv in Schutz nehmen werden: Sie habe es ja doch nur gut gemeint! Diese Rechnung geht auch auf. Die Umstehenden hat sie schnell auf ihrer Seite. Nur ihr Sohn ist zunächst voller Verachtung für sie, was sie dann in den Suizid treibt.
Deianeira spielt meisterhaft die Unschuld vom Lande. Jedoch entlarvt ihr Handeln das glatte Gegenteil. Ihre Aktion entpuppt sich als vorsätzlicher Mordanschlag. Die Trachinierinnen sind diejenigen Handelnden, die am besten Deianeiras List klar beurteilen könnten, denn sie sind in sämtlichen Szenen anwesend. Sie hätten die Möglichkeit gehabt, das Unheil zu erkennen und zu verhindern. Dem überwiegend abwesenden Hyllos mag man hingegen die Naivität zugestehen, am Ende seiner Mutter einen guten Willen zu attestieren.
Einem kritischen Publikum muss am Ende des Stückes jedoch auf jeden Fall dämmern, dass sich das Gefolge geradezu fahrlässig hat täuschen lassen. Vielleicht geben die Frauen von Trachis deshalb dem Stück seinen Namen: damit das Publikum seine Aufmerksamkeit besonders auf sie richtet — und damit ihr Versagen erkennt.
Gegenperspektive
Es scheint mir notwendig, diese Geschichte auch noch aus einer etwas anderen Perspektive zu betrachten. Denn ich habe auch Mitgefühl mit Deianeira und bin beeindruckt von ihrer Raffinesse. Sie war wohl stets eine selbstbewusste Frau, die keines starken Mannes an ihrer Seite bedurfte, um ihren Weg zu gehen (12): „Dem Namen nach muss sie eine männerfeindliche, nicht nur kriegerische Jungfrau gewesen sein. Sie muss sich lange geweigert haben, einen Gatten zu nehmen.“ An anderer Stelle heißt es zur Ethymologie des Namens: „Deianeira bedeutet ‚den Männern feindlich’ und ‚die Zerstörerin ihres Mannes’“ (13).
Jedoch ist sie als Frau in einer zunehmend patriarchalen Gesellschaft männlicher Dominanz unterworfen. Im Kampf der Bewerber überwindet Herakles den Acheloos, den stierköpfigen Flussgott. Deianeira ist als Siegprämie für den Zweikampf der beiden ausgeschrieben — ohne dass ihr anscheinend ein Mitbestimmungsrecht bei der Wahl des Partners zugebilligt worden ist. Dass der Sieger ihr in der Ehe dann öfter untreu ist und sich sowieso nur selten zu Hause blicken lässt, hat ihr diese Ehe schon recht bald noch mehr verleidet.
Und jetzt auch noch das: Dieser kraftstrotzende Kerl mutet ihr zu, dass sie eine weitaus jüngere, attraktive Nebenbuhlerin im gemeinsamen Haushalt dulden soll. Deianeira läuft bei dieser Vorstellung innerlich Amok. Und sie macht etwas höchst Respektables: Sie bemüht ihren Grips! Sie weiß, dass sie sich beeilen muss. Denn sie hat — nach dem Orakel, dem sie vertraut — nur noch einen letzten, kurzen Moment, um diesem Schuft das Handwerk zu legen. Das, was kein Ungeheuer der Welt bisher zustande gebracht hatte, das muss ihr gelingen. Blitzschnell entwickelt sie ein Konzept, wie sie den Verräter zur Strecke bringt. Mit unübertrefflichem Geschick spinnt sie ein feines Netz, in dem sich der selbstgefällige Muskelprotz tödlich verheddert.
Dem blöden Gefolge verkauft Deianeira die Story vom „Liebeszauber“. Dessen eindeutige Bedenken kann sie flink übergehen. Den Herold, der glaubte, sie sei so naiv, dass er ihr unbemerkt die neue Geliebte ihres Gatten ins Nest schieben könnte, instrumentalisiert sie sofort, um dem Alten die Quittung für seine Treulosigkeit zu überbringen: Man wird schon sehen, wie Herakles bald in Liebe zu ihr „entbrennen“ wird. Zu ihrem Plan gehört dann auch, noch durch ein — vermeintlich offenes — „Schuldbekenntnis“ fast sämtliche Sympathien ganz auf ihre Seite zu bekommen. Ihre Erschütterung ist großartig gespielt.
Mit ein bisschen Glück hätte ihr sogar gelingen können, den eigenen Sohn von ihrer Unschuld zu überzeugen. Dessen angewiderte Abwendung wird ihr jedoch zum Anlass, sich selbst zu entleiben. Der Suizid wird zum wirksamen Mittel, die eigene Intrige zu verschleiern (14). So feiert sie ihren letzten Triumph. Sohn, Gefolge und eine ganze Riege internationaler Altphilologen missdeuten ihre Tat als ein verzweifeltes Bemühen, die Liebe ihres Mannes zu erhalten. Dabei sei ihr eben ein fahrlässiges, verhängnisvolles Missgeschick unterlaufen.
Also noch einmal: Hut ab vor dieser intelligenten Frau, die letztlich nur einem gesunden Instinkt folgt, wenn sie sich gegen die Anmaßung selbstherrlicher Männlichkeit mit subtilen Mitteln zur Wehr setzt! Ihrem wie sehr auch immer angesehenen Herakles ist sie dabei deutlich überlegen. Wünschenswert wäre natürlich, dass die beiden es geschafft hätten, ihren Konflikt offener und klarer auszutragen, auch ohne Unbeteiligte mit hineinzuziehen.
Politische Botschaft
Die „Trachinierinnen“ wurden ungefähr im Jahr 438 v.u.Z. aufgeführt. Im Jahr zuvor war ein Konflikt zwischen Milet und Samos beendet worden, in den sich Athen von Milet hatte hineinziehen lassen: Die Insel Samos liegt dicht vor der Küste der heutigen Türkei. Milet liegt dieser Insel auf dem Festland gegenüber und wollte damals die Stadt Priene besetzen, die an samisches Festlandsterritorium grenzte. Die Samier nahmen dies offensichtlich als Bedrohung ihres Besitztums wahr. In der militärischen Auseinandersetzung unterlag Milet. Die Milesier beschwerten sich daraufhin bei den Athenern (15), die dann ihrerseits Samos aufforderten, die Entscheidung eines Athener Schiedsgerichts abzuwarten.
Samos weigerte sich, dies zu tun. Athen besetzte daraufhin Samos mit einer kleinen Truppe. Diese wurde in einer ersten Gegenwehr von den Samiern überwältigt und dem persischen Statthalter Pissuthnes — also einem Erzfeind Athens und Griechenlands — ausgeliefert. Im eskalierenden Gegenzug wurde Samos von Athen mithilfe der Seebund-Flotte militärisch unterworfen und gedemütigt.
Antike Quellen behaupten, dass die aus Milet stammende Aspasia auf die Parteinahme Athens für Milet Einfluss genommen habe: Sie war die Lebensgefährtin von Perikles, einem zentralen Staatsmann der damaligen Zeit, der auch — übrigens neben Sophokles — als ein Stratege das attische Heer gegen Samos führte. In dem Stück übt Sophokles womöglich Kritik daran, dass Athen/Herakles sich so unbeschwert auf die Seite Milets/Ioles stellte. Der attische Dichter wollte vermutlich rekapitulieren, wie sich aus dieser unbekümmerten Aktion eine verhängnisvolle Entwicklung für Athen/Herakles ergeben hatte. Immerhin hatte sich das langjährig bündnistreue Samos/Deianeira, das zu den Gründungsmitgliedern des attischen Seebundes zählte, dazu veranlasst gesehen, Athen/Herakles gnadenlos in den Rücken zu fallen, nachdem es zuvor wohl noch alles dafür getan hätte, für sein Wohlergehen zu sorgen.
Vielleicht spiegelt die Eile, mit der Deianeira handelt, das Agieren der Samier, dass sie die Hoffnung hatten, sie könnten mit einer schnellen Aktion vielleicht dem Schicksal noch zuvorkommen und — womöglich mit Unterstützung eines mächtigen Widersachers Athens, den Persern/des Nessos — die Oberhand behalten.
Der samische Krieg war ein wichtiger Meilenstein am Vorabend des peloponnesischen Krieges, durch den das zuvor so mächtige Athen am Ende seinen Niedergang erlebte. Mir scheint, dass Sophokles seinen Landsleuten ein solches Schicksal anhand der Figur des Herakles eindringlich vor Augen halten wollte.
Schon in der Erzählung des Lichas über den Ursprung des Konflikts zwischen Herakles und Eurytos klingt eine Parallele zu den genannten realen politischen Verhältnissen an: Herakles pocht selbstgefällig auf die Überlegenheit seiner Wunderwaffe. Die mangelnde Anerkennung durch Eurytos verleitet ihn dann zu unüberlegtem Handeln. Ähnlich hat Athen stets sehr empfindlich reagiert, wenn Mitglieder des Seebundes einmal beabsichtigten, die Mitgliedschaft zu kündigen. Sehr schnell wurden sie dann mit der ganzen Macht der Flotte vom Gegenteil „überzeugt“. Auch Samos war nicht in Respekt vor der Überlegenheit von Athens Wunderwaffe erstarrt, hatte sich nicht Athens Anordnungen kritiklos unterworfen. Vielmehr wagten die Samier sogar die Auslieferung der gefangenen Besatzungstruppe an die Perser.
In den „Trachinierinnen“ stehen am Ende beide Parteien — Herakles und Deianeira — als Verlierer da. Die Sympathien liegen wohl bei Herakles, aber auch die Position Deianeiras wird verständlich. Ähnlich gehen sowohl Athen als auch Samos aus dem Konflikt um Milet mit schweren Blessuren hervor. Natürlich steht Sophokles wohl auf der Seite seiner Heimatstadt. Ein Paktieren mit den Persern wird ihm sicherlich zuwider gewesen sein. Aber vermutlich hatte er durchaus Verständnis für ein Samos, das zwar keine Lust auf das mächtige Persien/Acheloos hatte, doch von dem am Ende stärkeren Athen/Herakles auch nicht restlos begeistert war.
Logisch, dass man da von dem stürmischen, siegreichen Bewerber nicht noch verraten werden wollte. Und so mag Sophokles in diesem verwerflichen Gegen-Verrat der Samier eine geradezu entschuldbare Reaktion gesehen haben angesichts der respektlosen Untreue Athens — dem Pakt mit Milet und der militärischen Machtdemonstration.
Probleme der Altphilologie
Ohne die Altphilologie wäre ich selbst nicht in der Lage, die großartigen Texte des Sophokles zu lesen. Deswegen bin ich dieser Zunft unendlich dankbar. Es könnte sich jedoch auch ein fachübergreifender Austausch der Altphilologie mit der Psychologie als fruchtbar erweisen: Meine eigene Disziplin, die sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat, beschäftigt sich intensiv und eingehend mit der Analyse der Dynamik menschlicher Konflikte.
Da sich die Sophokles-Texte über 2.500 Jahre hinweg nicht verändert haben, scheint es in der Altphilologie geübte Praxis zu sein, relativ unbeschwert auf die Sichtweise früherer Interpretationen zurückzugreifen. Wer die Dynamik dieser feinsinnig gewobenen Geschichten des Sophokles jedoch wirklich verstehen will, muss sich von alten Deutungstraditionen sehr bewusst befreien. Denn in früheren Jahrhunderten, in denen Fürsten mehr oder weniger absolutistisch regierten, war es schlicht unmöglich, bestimmte Dinge klar darzustellen.
Es wäre auf Unverständnis gestoßen, das demokratische Verhalten eines König Ödipus anzuerkennen, der darauf besteht, wichtige Staatsangelegenheiten in aller Öffentlichkeit zu erörtern, und der stets offen die Meinungen der Menschen um sich her wahrnimmt und kritisch prüft. Ödipus ist ja sogar in der Lage, seine Existenz als Königssohn von Korinth aufzugeben und über sein Abdanken als König von Theben nachzudenken, wenn das Wohl geliebter anderer oder des Gemeinwesens es erfordern. Welcher Regisseur an einem absolutistisch regierten Königshof hätte es gewagt, dies als respektablen Wesenszug eines Ödipus hervorzuheben?
Und umgekehrt:
Wer hätte sich in früheren Jahrhunderten erlauben dürfen, in einer Inszenierung herauszuarbeiten, wie ein brutaler, selbstgefälliger Alleinherrscher Kreon zum Verhängnis für seinen Staat wird?
Wer hätte damals gewagt, einen Kommentar zur „Antigone“ zu verfassen, wonach darin ein König gezeigt werde, der durch sein ungerechtes, egozentrisches, unverbesserliches Handeln sein Reich und sein Volk ins Elend gestürzt hat? Wer hätte offen beklagen dürfen, dass Kreon am Ende keinen einzigen Schritt in die richtige Richtung unternimmt: sich das Leben zu nehmen oder zumindest sofort abzudanken? Wer hätte sich getraut zu zeigen, dass am Ende dieser unverbesserliche Fürst der Finsternis keinerlei persönliche Konsequenzen zieht und jede Verantwortung mit hohlen Phrasen auf ein ominöses Schicksal abwälzt?
Die Inhalte der von demokratischem Geist beseelten Dramen des Sophokles sind in solchen Punkten systematisch missinterpretiert worden. Die eigentliche Dynamik der Stücke wurde unkenntlich gemacht. Das war bereits circa 500 Jahre nach ihrer Entstehung passiert. Ein Propagandaminister an Neros Tyrannenhof namens Seneca hatte — unter dem Vorwand, die griechischen Stücke ins Lateinische zu übertragen — das Handlungsgeschehen der Originale vollkommen auf den Kopf gestellt (16). Dies hat die weitere Rezeption der Stücke geprägt — seit zweitausend Jahren. Bis heute sind deshalb Täter- und Schuldfragen, die in diesen Stücken aufgeworfen werden, ungeklärt. Sie liegen unter dem Müll undemokratischer, herrschaftstreuer Deutungsmuster verborgen.
Es dient bis heute mächtigen Interessen, dass hier keine Aufklärung stattfindet. Denn sonst bestünde ja eine großartige Möglichkeit zur Schulung eines kritischen Bewusstseins — gerade bei der an Schulen und Universitäten lernenden, heranreifenden intellektuellen Elite. Diese Möglichkeiten werden nicht genutzt. Angemessene Kommentare zu den Stücken des Sophokles werden nicht publiziert. Vielmehr behaupten traditionelle und gänzlich absurde Sichtweisen beharrlich ihre Stellung.
Reingefallen
Dass Deianeiras meisterhafte Täuschung bis in neuere Zeit dazu verleitet, auf sie hereinzufallen, zeigt sich in einer Fülle von Literatur zum Stück.
Schon Friedrich Schiller missversteht 1797:
„Wie trefflich ist der ganze Zustand, das Empfinden, die Existenz der Dejanira gefasst. Wie ganz ist sie Hausfrau des Herakles, wie individuell, wie nur für diesen einzigen Fall passend ist dies Gemälde, und doch wie tief menschlich, wie ewig wahr und allgemein“ (17).
Oder Friedrich Nietzsche, 1922: Man habe „auch Dejanira schuldig finden wollen; aber sie SOLL unschuldig sein nach dem Willen des Sophokles“ (18).
Im Sophokles-Kommentar von Karl Reinhardt, 1933, heißt es recht verschraubt:
„So steht inmitten der Tragödie, als des ‚Daimons’ Werk, Deianeiras Irrtum. Abgesondert und für sich betrachtet, müsste dieser Irrtum wie ein kläglicher, bedauerlicher Zufall wirken. Doch indem er sich in ihre Schicksalskurve einfügt, wie sie von Beginn, mit dem Prolog, vor uns sich schwankend zu erheben und auf ihren Fall zu steuern anfing, wird er zur notwendigen Vollendung ihres Wesens. Dadurch, dass der Irrtum, ihre Übereilung, ihr Unmaß aus nichts anderem kommt als aus dem Willen, Maß zu halten, nicht sich zu verlieren, nicht Rache zu üben, nicht sich aufzulehnen, nicht die Schranken ihres Umkreises zu überschreiten: eben dadurch wird auch sie, nicht anders als der Aias, zum Ecce der menschlichen Verstrickung und Begrenzung“ (19):
Bei Heinrich Weinstock, 1937, lesen wir: „Hier bei Sophokles haben wir es mit dem qualvollen Ende des großen Abenteurers (Herakles; K.S.) zu tun, das ihm von den liebevoll ahnungslosen Händen der eigenen Gattin bereitet wird. Diese hatte, in eifersüchtiger Angst um seine Treue, dem langersehnten Heimkehrer zum Willkomm ein Festgewand geschickt, das sie zuvor mit einem Liebeszaubersaft tränkte; (…)“ (20).
Bei dem Mythen-Sammler Karl Kerényi, 1960, findet sich: Herakles nahm „das vergiftete Prachtgewand entgegen, das ihm die ahnungslose Deianeira schickte (…)“ (21).
Ähnlich sein Kollege Robert von Ranke-Graves, 1960:
„Deianeira (…) beschloss, den angeblichen Liebeszauber des Nessos anzuwenden, um sich die Liebe ihres Gatten zu erhalten“ (22).
Ursula Parlavantza-Friedrich untersucht 1969 ausdrücklich Täuschungsszenen in den Stücken des Sophokles. Bei den „Trachinierinnen“ widmet sie sich allein dem Betrug des Lichas — mit keiner Silbe dem der Deianeira. Sie meint allen Ernstes, Sophokles wolle mit Deianeiras Herzlichkeit gegenüber den Sklavinnen „Deianeiras edle Menschlichkeit eindrucksvoll schildern“. Ihr geschicktes, heuchlerisches Eingreifen in das Verhör des Lichas sei „keinesfalls eine Trugrede“ (23).
Eckard Lefèvre lässt sich 1990 vernehmen: „Aber Deianeira spricht nicht in der Erregung, sondern argumentiert glasklar. Sie konstatiert einfach die entsetzliche Folge ihrer Handlung, die sie ganz allein zu verantworten hat: (...) Noch deutlicher konnte Sophokles kaum formulieren, um Deianeiras Verblendung bei der Tat zu zeigen. (…) Wenn Deianeiras Handeln τόλμα (tolma = Tollkühnheit) ist, dann ist es schuldhaft — nicht im Sinn eines Vorsatzes, sondern einer Fahrlässigkeit. Dafür büßt sie. (…) Das ist eine konsequente Konzeption: Deianeira ist durchgängig von Furcht bestimmt und verfehlt durchgängig die richtige Entscheidung“ (24).
Leif Bergson, 1993: „Über die Gestalt Deianeiras herrscht, abgesehen von einigen wenigen Gegenstimmen, ziemlich weitgehende Übereinstimmung unter den Fachgelehrten (…). Deianeira ist die treue und geduldige Gattin geblieben, die sich nur danach sehnt, mit ihrem Gatten nun endlich ein ruhiges Leben führen zu dürfen. Aus keinem anderen Grund als aus Liebe zu Herakles handelt sie, greift zum Zaubermittel und wird schuldlos zur Mörderin ihres Gatten. (…) Deianeira handelt aus durchaus edlen Motiven, verstößt aber dabei gegen göttliches Gesetz. Ihre αμαρτια (amartia = Verfehlung) kann mit der Antigones verglichen werden. Sie kann in doppelter Hinsicht als αιτια (aitia = Ursache/Auslöser) bezeichnet werden, und ihre Mitverantwortlichkeit für das Geschehen rückt vielleicht Herakles in ein etwas günstigeres Licht“ (25).
Und Heinz-Günther Nesselrath, 1997: „Um eine so unerträgliche Zukunft abzuwenden und um die Liebe des Herakles zurückzugewinnen, bestreicht sie (Deianeira; K.S.) ein prächtiges Gewand mit dem vergifteten Blut des einst von Herakles getöteten Kentauren Nessos und sendet das so präparierte Gewand zu Herakles; schon bald aber stellt sich heraus, dass Deianeira ihrem Mann nicht den von ihr erhofften Liebeszauber (den ihr der Kentaur versprochen hatte), sondern den Tod gebracht hat“ (26).
Karl-Heinz Pridik, 1998: „Meine 1. Frage ist also: Wer ist diese Deianeira nach Sophokles’ eigener Darstellung? Was ist für sie typisch? Was charakterisiert sie? Und ich werde Ihnen an einigen Textstellen zeigen, dass Sophokles diese Person als eine ängstliche, als eine von Furcht erfüllte Frau darstellt, geradezu programmatisch gleich im Prolog, in dem Deianeira ihre Situation vorstellt: (…)“ (27).
Peter Riemer, 1997: „(…) die Gewissheit, dass Herakles mit Iole eine Nebenfrau ins Haus hatte bringen lassen, erzeugt Deianeiras verständlichen Wunsch, den Gatten auf irgendeine Weise wiederzugewinnen“ (28).
Hellmut Flashar, 2000: „Die vielen Abenteuer mit anderen Frauen hat sie (Deianeira; K.S.) ertragen; jetzt, wo die Geliebte im eigenen Haus ist, geht es nicht anders. (…) Die älter gewordene Frau will den Mann, der eine junge Geliebte hat, an sich ketten. Sie tut dies mit klarer Überlegung, aber in Ungewissheit über den Erfolg ihres Planes“ (29).
Wilfried Kuckartz, 2013: „Um Rat wendet sie (Deianeira; K.S.) *sich an die vertrauten Frauen des Chors: Sie sei gewillt, es zu versuchen: ‚Wenn als Torheit nicht / mein Tun erscheint, sonst unterlass ich es (586 folgende). Demnach scheint sie willens, durchaus besonnen zu handeln, ja sogar bereit, den Plan aufzugeben, wenn ihr abgeraten würde. In Wahrheit hat ihre Angst, den geliebten Mann und damit den Sinn ihres Lebens zu verlieren, längst die Oberhand gewonnen. Unwiderstehlich treibt es sie in ihr Verhängnis, und zweifellos macht sie sich dabei schuldig. Der Vorwurf unvernünftiger Leichtsinnigkeit und Fahrlässigkeit kann ihr nicht erspart werden, sie hätte es besser wissen können, besser wissen müssen. Und am Ende weiß sie das selber auch besser als manche Interpreten, die mir zu sehr ihre Unschuld beteuern.
Selbstverständlich ist sie nicht von der Art der rachsüchtigen Klytaimestra, die ihren Gatten und seine Kebse, die er ihr ins Haus geschleppt hat, kaltblütig ermordet hatte. (…) Deianeira will, zumindest soweit ihr das bewusst ist — ihr Name bedeutet laut Pauly (Seite 1423): ‚Den Mann vernichtend’, doch gibt es meiner Ansicht nach im Stück keinerlei Anhaltspunkte, etwa unbewussten Hass bei ihr mitschwingen zu lassen —, ihrem Mann nichts Übles antun, genauso wenig wie Iole. Verkrampft ringt sie um ihr kleines Lebensglück und verfängt sich dabei unselig in sich selbst und in ihrer natürlichen Selbstbehauptung, was ihr von niemandem verübelt werden dürfte, weil es menschlich, allzumenschlich ist“ (30).
Zur Ergänzung die holprige Fassung von Wikipedia, 2021: Der „(…) sterbende Kentaur riet Deïaneira, sein mit der Liebe zu ihr erfülltes Blut aufzufangen, als ein Mittel, das ihr die Treue Herakles’ sichern werde. Deïaneira glaubte ihm, doch in Wirklichkeit war sein Blut durch den Pfeil vergiftet. Erst nach Jahren zweifelte Deïaneira an der Treue ihres Mannes und bestrich sein Untergewand mit dem Nessosblut (das sprichwörtliche Nessoshemd). Es ließ sich nicht mehr abtun und bereitete Herakles unerträgliche Schmerzen. Als Deïaneira von dieser unerwarteten Wendung erfuhr, nimmt sie sich aus Schrecken ihr Leben.“
Eine einzige Gegenstimme — aus dem Jahr 1956 — habe ich bei dem Psychiater und Autor Alfred Döblin gefunden: „(…) oder jene Dejanira, die süße heimtückische Gemahlin des Herakles, die, um sich für seine Untreue zu rächen, ihm das tödliche Gewand schickte“ (31).
In den hier zitierten Fachkommentaren wird also durchgängig die Auffassung vertreten, Deianeira habe bei ihrer Aktion den Herakles zurückgewinnen wollen. Die Bewertungen ihres Charakters variieren dabei von „edler Menschlichkeit“ über „treu und geduldig“, „gute Hausfrau“, „unschuldig“, „ahnungslos“ bis hin zu „fahrlässig, aber ohne Vorsatz“, „von Furcht bestimmt“ oder die „richtige Entscheidung verfehlend“. Damit wird verkannt, dass die Deianeira des Sophokles mit einem raffinierten Plan ihren Gatten, einen der unverwüstlichsten Helden der Antike, präzise und mit Vorsatz im letztmöglichen Moment wagemutig, tatkräftig und zielstrebig zur Strecke bringt — und zwar mit den besten Gründen. Und diese Dynamik muss verstanden werden, um sich den Gehalt dieses politischen Gleichnisses zu erschließen.
Bis heute bestimmt jedoch eine auf breiter Basis kultivierte Blindheit für Widersprüche das Denken der Menschen. Die offensichtlichsten Auffälligkeiten werden nicht zum Anlass genommen, auf das zu schließen, was — wie ausführlich dargelegt — auf der Hand liegt. Das lässt nichts Gutes für den Umgang mit weiteren Intrigen und Verschwörungen auf dieser Welt erwarten.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Zur Unterscheidung von Freuds völlig konträrem Ansatz spreche ich bei Breuers stimmigen und erfolgreichen Verfahren von „Psychanalyse“ — tatsächlich ohne „o“. So nennt es auch Freud in einem Aufsatz von 1896 — „L’hérédité et l’étiologie des nevroses“, GW, 1, S. 416. Der Schweizer Ludwig Frank, der sich in seiner Arbeit an Breuer orientiert, publiziert 1910 „Die Psychanalyse“ im Ernst Reinhardt Verlag, München. Derselbe publiziert 1927 „Die psychokathartische Behandlung nervöser Störungen“, Georg Thieme Verlag, Leipzig. Breuers Psychanalyse entspricht ziemlich genau dem Gegenteil von dem, was Sigmund Freud später als „Psychoanalyse“ bekannt gemacht und verkauft hat.
(2) Schiller in einem Brief an Goethe vom 2. Oktober 1797
(3) In den heute ähnlich arbeitenden imaginativen Verfahren — selbstorganisatorische Hypnose oder Imagery Rescripting and Reprocessing Therapy (IRRT) — gibt man aus der Rückschau, in einem sicheren Rahmen, den gesunden Impulsen viel Raum, um angemessene Bewältigungsmöglichkeiten für diese Situationen ausgiebig durchzuspielen. Damit soll für die PatientInnen deutlich erlebbar werden, wie die jeweiligen — nicht abzuändernden — traumatisierenden Begebenheiten damals unter der Wahrung der berechtigten Ansprüche der Betroffenen hätten ablaufen sollen.
(4) Auch in der „Coronakrise“ stellen sich drängende Fragen. Die formulierten Antworten haben weitreichende Folgen: Haben wir wirklich eine Pandemie? Warum genau wurde die Definition einer Pandemie so radikal geändert? Können wir tatsächlich von „steigenden Fallzahlen“ sprechen, die Anlass zur Sorge geben müssen? Warum wurde konstant von „steigenden Zahlen“ gesprochen, obwohl die relative Zahl der positiven Testergebnisse ziemlich konstant blieb? Stehen bei Maskenpflicht für Kinder und Erwachsene Kosten und Nutzen in irgendeinem positiven Verhältnis? Haben Kontaktverbote in Altenheimen und Krankenhäusern größeren Nutzen als Schaden? Sind Werbung und Druck, sich auf unerprobte Impfstoffe einzulassen, in irgendeiner Weise gerechtfertigt? Haben die gravierenden Eingriffe in das Wirtschaftsleben und die demokratischen Freiheitsrechte irgendeinen positiven Effekt, der den angerichteten Schaden überwiegt?
(5) Mathias Bröckers: JFK. Staatsstreich in Amerika. Westend Verlag, 2013
(6) Michael Buback: Der zweite Tod meines Vaters. Knaur Verlag, 2009 beziehungsweise Michael & Elisabeth Buback: „Der General muss weg!“ Siegfried Buback, die RAF und der Staat. Osburg Verlag, 2019
(7) Sophokles, Tragödien und Fragmente. Griechisch und deutsch, übersetzt von Wilhelm Willige, überarbeitet von Karl Bayer. Ernst Heimeran Verlag, München, 1966, V. 604 ff; V. 581 ff; V. 588 ff; V. 705 ff; V. 719 f; V. 734 ff;
(8) Chemiker könnten hier die Frage aufwerfen, ob es sich bei dem angeblichen Zentaurenblut nicht womöglich um eine von Deianeira selbst hergestellte Lösung von rotem Phosphor gehandelt hat.
(9) Ganz ähnlich setzt sich auch die sophokleische Iokaste als Leidtragende in Szene und klagt: „Genug, ich kranke!“ Ganz ähnlich auch der brutale Kreon am Ende der „Antigone“. So stellen sich selbstgefällige, intrigante Verbrecher dieser Welt stets gern als Opfer dar, wenn sie mal in Bedrängnis kommen. Die Umstehenden neigen dann dazu, die Jammernden zu bedauern, anstatt sie klar zu kritisieren.
(10) Sophokles: Die Trachinierinnen. Übersetzung und Nachwort von Walter Kraus. Reclam Verlag, Stuttgart, 1989, V. 903 ff
(11) Hier drängt sich der Vergleich mit Medea auf, die sich ebenfalls mit einem leicht entzündlichen Kleid sehr bewusst an ihrem untreuen Gatten Iason rächt, indem sie ihre Nebenbuhlerin und deren Vater Kreon damit in den Tod schickt.
(12) Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Bd. 2: Die Heroen-Geschichten. dtv, Stuttgart, 1960, 1998, S. 159
(13) https://charlies-names.com/de/deianeira/
(14) Ähnlich verhält es ich bei der Phädra im „Hippolytos“ des Euripides und der Iokaste im „König Ödipus“ des Sophokles: Wohl nicht zuletzt aufgrund ihres Suizids werden sie für unschuldig gehalten.
(15) Karl-Wilhelm Welwei: Das klassische Athen. Demokratie und Machtpolitik im 5. und 4. Jahrhundert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1999, S. 133; etwas anders bei Donald Kagan: Perikles, S. 183 ff
(16) Klaus Schlagmann: Ödipus — komplex betrachtet. Eigenverlag, Saarbrücken, 2005
(17) Friedrich Schiller: Brief an Goethe vom 4. April 1797. In: Beutler, Ernst (Hg.): Johann Wolfgang Goethe. Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche. Bd. 20: Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller. Artemis Verlag, Zürich, 1950
(18) Friedrich Nietzsche: Geschichte der griechischen Literatur, in: Gesammelte Werke (Musarionausgabe), V, Μünchen, 1922, S. 117
(19) Karl Reinhardt: Sophokles. Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M, 1933, 1976
(20) Heinrich Weinstock: Sophokles. Verlag Die Runde, Berlin. Umgearbeitete Neuauflage, 1937
(21) Karl Kerényi: Die Mythologie der Griechen. Bd. 2: Die Heroen-Geschichten. dtv, Stuttgart, 1960, 1998
(22) Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie, Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek, 1960, 1990
(23) Ursula Parlavantza-Friedrich: Täuschungsszenen in den Tragödien des Sophokles. Walter de Gruyter & Co. Berlin, 1969, hier S. 30 f
(24) Eckard Lefèvre: Die Unfähigkeit, sich zu erkennen. Sophokles’ Trachiniai. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft N.F. 16, 1990, S. 43-62, hier S. 47 f & S. 52
(25) Leif Bergson: Herakles, Deianeira und Iole. 1993, hier S. 104 f & S. 108
(26) Heinz-Günther Nesselrath: Herakles als tragischer Held in und seit der Antike, in: H. Flashar (Hrsg.): Tragödie — Idee und Transformation. Colloquium Rauricum 5, Stuttgart — Leipzig, 1997, S. 307—331, hier S. 319
(27) Karl-Heinz Pridik: Das Tragische in den Tragödien des Aischylos, Sophokles und Euripides I-III. Vorlesung im WS 1997/8 und SoSe 1998. Manuskript, hier S. 40
(28) Peter Riemer: Chor und Handlung in den Tragödien des Sophokles. In: Peter Riemer & Bernhard Zimmermann: Der Chor im antiken und modernen Drama. Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 1998
(29) Hellmut Flashar: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen. Verlag C.H. Beck, München, 2000
(30) Wilfried Kuckartz: Das Bild des Menschen im Spiegel der Kunst. Bd. 2: Antikes Griechenland. Berlin, Pro BUSINESS, 2013
(31) Alfred Döblin: Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende. Rütten & Loening. Berlin, 1956, S. 364 f