Kritik als Propaganda
Richard David Precht und Harald Welzer haben die Grenzen der zulässigen Medienschelte markiert.
Von null auf eins in drei Sekunden: Das Thema Journalismus ist inzwischen bestsellertauglich — erst recht, wenn auf dem Cover zwei prominente Namen stehen und eine These, die selbst bei den härtesten Kritikern anschlussfähig ist. „Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist.“ Das Buch „Die vierte Gewalt“ schont die Leitmedien nicht und ist dort ganz folgerichtig mit Kopfschütteln quittiert worden. Den Elefant im Raum wollen Precht und Welzer aber nicht sehen. Schlimmer noch: Sie sagen ausdrücklich, dass es ihn nicht gibt, und decken so einen Journalismus, der längst zum Sprachrohr der Regierung geworden ist. Eine Rezension von Michael Meyen, Autor des Spiegel-Bestsellers „Die Propaganda-Matrix“.
Dieser Text kommt eigentlich zu spät. Über ein Buch wird heute diskutiert, wenn es erscheint. Am ersten Tag, bitteschön. Die Redaktionen haben ihre Exemplare vorher und können dann über etwas sprechen, was außer ihnen niemand kennt. Manchmal interviewen sie die Autoren lieber. Das kostet weniger Vorbereitungszeit. Der kurze Hype hat Vorteile für alle Beteiligten. Die Verlage bekommen die Aufmerksamkeit, die für den Sprung auf die Spiegel-Liste und damit in die Auslage der Buchläden nötig ist, und die Rezensenten können den Leuten sagen, was sie zu denken haben.
Ich gebe zu: Ich habe gezögert, über dieses Thema zu schreiben. Das Buch von Richard David Precht und Harald Welzer ist seit mehr als drei Wochen im Handel und war schon überall — selbst im Portal Übermedien (Nils Minkmar: „Hätten Precht und Welzer doch einfach mal jemanden gefragt!“), bei Markus Lanz und auf der persönlichen Seite von ORF-Aushängeschild Armin Wolf:
„Die Kernthese von den sich ‚selbstangleichenden‘ Leitmedien ist schlicht unsinnig und die Argumentation voller Widersprüche.“
Die Medienrundschau des Magazins Hintergrund hat die wichtigsten Stimmen gesammelt und sich auf die Seite eines Kollegen geschlagen, der das Buch mit einem Achselzucken ins Regal gestellt hat. „Wenig Neues“, aber „alles nicht verkehrt“.
Das stimmt — wenn man das Wort „alles“ streicht.
Das Problem beginnt schon mit dem ersten Satz. „Deutschland, eines der freiesten Länder Welt“. Ich meine hier nicht den Fehler im Lektorat. Precht und Welzer gehen auf Nummer sicher. Auf der gleichen Seite heißt es wenig später: „Deutschland, das Land der Qualitätspresse und eines im internationalen Vergleich vorbildlichen öffentlich-rechtlichen Rundfunks“ (1).
Das Buch ist im Sommer 2022 geschrieben worden. RBB, Patricia Schlesinger, NDR-Landesfunkhaus Kiel und so weiter und so fort. Da war doch was. Aber vielleicht haben wir das nur geträumt.
Ich lerne: Auf den Rahmen kommt es an. Auf das Bekenntnis zu den Glaubenssätzen der herrschenden Mitte. Noch in der Einleitung rechnen Precht und Welzer gewissermaßen im Vorübergehen erst mit der Bild-Zeitung ab und dann mit den Schmuddelkindern in der Türkei, in Russland, in China, in der arabischen Welt. Motto: bei uns doch nicht. „Völlig falsch“ sei der Eindruck, die Regierung oder gar der Staat würden die Leitmedien manipulieren. Auch hier folgt die Wiederholung auf dem Fuße. Dass die „veröffentlichte Meinung von der öffentlichen“ auch in Deutschland „derzeit“ abweiche, habe „mit einer gelenkten Manipulation überhaupt nichts zu tun“ (2).
So ein kursiv gesetztes „nichts“ hat etwas. Ich sehe sofort den Rufer im Walde. Bitte glaubt uns, liebe Leute. Ihr seid auf dem Holzweg. Damit das nicht untergeht, wird auch später immer wieder gerufen. „Ein externer Schurke, sei es der Staat, ein Gremium, ein Club oder eine Privatperson, soviel ist sicher, fallen aus“ (3). Und noch ein bisschen dicker: In „unserer heutigen Zeit“ sei „jede Art verordnete Lüge großen Stils dauerhaft unmöglich“ (4). Wahrscheinlich gehört 9/11 schon nicht mehr in „unsere heutige Zeit“ — oder die Trennung der akademischen Disziplinen verhindert einfach, dass ein Philosoph und ein Soziologe die Bücher des Physikers Ansgar Schneider lesen (5).
Um den Staat und alle anderen möglichen Unholde freizusprechen, brauchen Precht und Welzer einen Taschenspielertrick. Genau genommen sogar zwei. Zum einen lassen sie die entsprechende Literatur weg und behaupten dreist, dass „die selbsternannten Aufrechten und Kritiker“ der „Lügenpresse“ nie die Frage beantwortet hätten, wie es denn „logistisch möglich sein soll“, die „Leitmedien zu einer bestimmten Lesart“ zu verpflichten (6). Dazu gleich mehr. Und zum anderen schieben sie den Journalisten einfach selbst die Schuld in die Schuhe. Dieser Hang zum Polarisieren, zum Vereinfachen und zum Zuspitzen, zum Personalisieren und zum Moralisieren, zum Diffamieren. Das „Selbstgespräch, das Politik und Leitmedien miteinander“ führen (7). Die Jagd nach Klicks, Likes, Shares, nach irgendetwas Messbarem. Der Hang zum Teamsport, in dem „das Spiel heißt: WIR gegen DIE“ (8).
Das ist gut beobachtet und schön formuliert — wie vieles in diesem Buch. Dazu gehören Begriffe, die hängenbleiben. Direktmedien. Amtierende Medien. Beides trifft es nicht ganz, aber immerhin. Vielleicht hatten Precht und Welzer den amtierenden deutschen Fußballmeister im Kopf, der auch nie abtreten wird. Den Unterscheid zwischen den Leitmedien und allen anderen Kanälen haben sie wie viele andere, die sich auf diesem Feld tummeln, nicht wirklich verstanden. Deshalb hier noch einmal (9): Bei den einen kann und muss man unterstellen, dass alle anderen wissen, was berichtet worden ist, und ihr Verhalten daran ausrichten. Bei Telegram und Co. gilt das nicht. Ein YouTube-Video wird für die Gesellschaft und ihre Entscheider erst dann relevant, wenn die Presse darüber schreibt oder es gar im Ersten läuft.
Twitter habe ich eben bewusst ausgelassen. Richard David Precht und Harald Welzer kennen „das neue Machtmittel des politischen Journalismus“ sowie die Zitationskartelle von Parteien, Ministern und Redaktionen und beklagen zu Recht, „dass die toxische Qualität dieser neuen kommunikativ-politischen Figuration“ kein Debattenthema ist (10). Precht und Welzer wissen auch, was Twitter aus jeder Debatte macht: „Tweets dienen nicht der Entwicklung und Prüfung eines Arguments, sondern dem sozialen Design des Absenders“ (11). Hier hat das eine Wurzel, was oft Haltungsjournalismus genannt wird, obwohl es eigentlich um Gesinnung geht.
Precht und Welzer sagen: Cursor-Journalismus. Das muss man so machen als Wissenschaftler. Zitiert wird nur, wer eine eigene Sprache kreiert. So ein Cursor zappelt, aber er zeigt jedem an, wo es gerade langgeht. Maß und Anstand. Bloß nicht abweichen. Schau nach auf Twitter, obwohl du weißt, dass sich da nur deinesgleichen tummelt.
Wenn wir das Gefühl haben, dass alle Leitmedien in das gleiche Horn blasen: Das ist die Erklärung. Der „Cursor der gefühlten Mitte“ (12). Sagen zumindest Precht und Welzer und werfen Twitter auch noch vor, für den Verlust von „Kontext“ und „Respekt“ in der öffentlichen Kommunikation verantwortlich zu sein (13), da die Redaktionen die Logik dieses Kanals einfach in ihr eigentliches Arbeitsgebiet übertragen hätten.
Ich will nicht zu hart mit den beiden Kollegen sein. Sie haben dieses Buch geschrieben, weil sie im Frühjahr 2022 den Kompass für den Cursor verloren haben oder dachten, über Krieg und Frieden müsse man doch reden können, ganz ohne Cursor. Sie haben sich von Michael Haller beraten lassen, einst gestandener Redakteur und dann lange an der Universität Leipzig Journalistenausbilder, und sicher auch mit seiner Hilfe wichtige Studien und Stimmen aus der akademischen Disziplin zusammengetragen, die ich vertrete — meinen Stellenvorgänger Hans Wagner zum Beispiel, Inhaltsanalysen von Marcus Maurer oder die Untersuchung transatlantischer Netzwerke von Uwe Krüger (14). Sie haben eine köstliche Miniatur über Welt-Starreporter Robin Alexander verfasst, der 2018 via Twitter an einem Würstchenstand die Unionsfraktion gerettet haben will, und das Journalismus-Manifest von David Randall für ein breites Publikum übersetzt (15).
Das große Aber: Sie hätten spätestens hier sehen müssen, dass ihr Axiom nicht stimmt. In David Randalls Liste für den guten Reporter steht ganz weit oben, gleich nach der Veröffentlichung von Informationen, die Gerüchte und Spekulationen beenden: „Resist or evade government controls“ (16).
Seit dieser Satz vor einem Vierteljahrhundert geschrieben wurde, haben Regierungen, Behörden, Parteien und Politiker ihre Medienapparate auf abenteuerliche Weise aufgerüstet. Allein das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung hat inzwischen knapp 500 Planstellen (Stand 2019) — 500 Menschen, die nichts weiter zu tun haben, als die Arbeit des Kanzlers und seiner Ministerriege in ein gutes Licht zu tauchen.
Und das ist nur ein Puzzlestein in dem großen Bild der Sprach- und Themenfabriken, zu dem die Social-Media-Verantwortlichen im Stab jedes Abgeordneten genauso gehören wie die PR-Abteilungen der Ministerien oder Budgets für Agenturaufträge. Von der keineswegs nur sprichwörtlichen Nähe zwischen den Spitzen aus Politik und Medien war da noch gar nicht die Rede. Richard David Precht und Harald Welzer wundern sich, dass es nur „Minuten“ gedauert hat, bis die Scholz-Rede vom 27. Februar 2022 leitmedienöffentlich als „historisch“ eingeordnet wurde, „obwohl sich derlei in der Regel erst nach Jahren, mitunter nach Jahrzehnten erweist“ (17). Was soll man dazu sagen?
Vielleicht noch ein Wort zu dem Magneten, der die Leitmedien auch dann ausrichtet, wenn die Drähte nach oben gerade kalt sein sollten und auch der Cursor versagt. In Kurzform: Zensur. Propaganda und Zensur sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Wer „eine bestimmte, eindeutig gefärbte Sichtweise der Dinge“ vermitteln „und damit die öffentliche Diskussion in die gewünschte Richtung“ manövrieren will (18), muss zwangsläufig alles unterdrücken, was „das herrschende Narrativ in Frage“ stellt „und gleichzeitig das Potenzial einer weiten Verbreitung“ besitzt (19).
Wie das heute geht, habe ich im Rubikon mehrfach beschrieben. Trusted News Initiative, Internetpolizei, Netzwerkdurchsetzungsgesetz, der EU-Verhaltenskodex gegen Desinformation, dazu die Landesmedienanstalten, die seit November 2020 laut Medienstaatsvertrag alle Blogger verfolgen können, die sich nicht an die „anerkannten journalistischen Grundsätze“ halten.
Jeder Staat hat ein Interesse, das zu kontrollieren, was über ihn in der Öffentlichkeit gesagt wird. Und dieser Staat hat ganz offensichtlich die Mittel dazu. Das sollte sich endlich auch jenseits des Rubikon herumsprechen.
Das Buch können Sie hier bestellen: als Taschenbuch, E-Book oder Hörbuch.
Quellen und Anmerkungen:
(1) Richard David Precht, Harald Welzer: Die vierte Gewalt. Wie Mehrheitsmeinung gemacht wird, auch wenn sie keine ist, S. Fischer, Frankfurt am Main 2022, Seite 7
(2) Ebenda, Seite 11
(3) Ebenda, Seite 139
(4) Ebenda, Seite 158
(5) Vergleiche Ansgar Schneider, Klaus-Dieter Kolenda: Generation 9/11. Die verhinderte Aufklärung des 11. September im Zeitalter der Desinformation. Mit einem Vorwort von Dirk Pohlmann, fifty-fifty, Frankfurt/Main 2021
(6) Precht/Welzer, Vierte Gewalt, Seite 139
(7) Ebenda, Seite 82
(8) Ebenda, Seite 110
(9) Vergleiche Michael Meyen: Die Propaganda-Matrix. Der Kampf für freie Medien entscheidet über unsere Zukunft, Rubikon, München 2021
(10) Precht/Welzer, Vierte Gewalt, Seite 117
(11) Ebenda, Seite 220
(12) Ebenda, Seite 150
(13) Ebenda, Seite 229
(14) Vergleiche Uwe Krüger: Meinungsmacht. Der Einfluss von Eliten auf Leitmedien und Alpha-Journalisten — eine kritische Netzwerkanalyse. 2. Auflage, Herbert von Halem, Köln 2019
(15) Precht/Welzer, Vierte Gewalt, Seiten 58 bis 59
(16) David Randall: The Universal Journalist, Pluto Press, London 1996, Seite 3
(17) Precht/Welzer, Vierte Gewalt, Seiten 23 bis 24
(18) Andreas Elter: Die Kriegsverkäufer. Geschichte der US-Propaganda 1917 - 2005, Suhrkamp, Frankfurt am Main, Seiten 19 bis 20
(19) Hannes Hofbauer: Zensur. Publikationsverbote im Spiegel der Geschichte. Vom kirchlichen Index zur YouTube-Löschung, Promedia, Wien 2022, Seite 7