Kriegsspiele

Zeitungen des Madsack-Konzerns attackieren Wladimir Putin, um Russland zu treffen.

Zum Tag des WM-Starts veröffentlichte die Madsack-Mediengruppe in ihren Zeitungen ein polemisches Würfelspiel, das neben dem Fußball-Weltverband FIFA vor allem den russischen Präsidenten Wladimir Putin kritisiert. Doch bei näherer Betrachtung wird deutlich: Was sich vordergründig gegen Putin richtet, zielt eigentlich gegen Russland als Staat und Gesellschaft im Ganzen.

Zeitungsleser in Deutschland sind beim Thema Russland ja schon einiges gewohnt. Unversöhnliche Fundamentalkritik an Wladimir Putin wechselt sich ab mit meist unbelegten Vorwürfen gegen ihn und seine Regierung. Normalerweise bemühen sich die Blätter dabei zumindest noch, die journalistische Form der Kritik zu wahren – auch wenn Meinung und Kommentar nicht selten ineinander übergehen und sich auffällig häufig mit PR-Kampagnen westlicher Regierungen und Interessenorganisationen decken. Doch was sich die Madsack-Mediengruppe am Tage der WM-Eröffnung geleistet hat, ist selbst formal kaum noch mit Journalismus vereinbar.

An prominenter Stelle in ihren 15 Tageszeitungen hatte die Mediengruppe (1) eine Art polemisches Würfelspiel gedruckt. In der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (HAZ) beispielsweise erstreckte sich „Putins Spiel“, so der Titel, über die Seiten 2 und 3. Auf einer Russlandkarte soll sich der werte Leser dort entlang einer Schlangenlinie vom Nordkaukasus bis in den äußersten Nordostens Sibiriens würfeln. Unterwegs warten neun Ereignisfelder, die die Reise abbremsen oder beschleunigen können. „Sie haben gedopt. Ziehen Sie 17 Felder weiter“, heißt es da etwa. Oder: „Sie haben sich bei Facebook über Putin lustig gemacht. Setzen Sie zwei Runden aus.“

Klamauk, Stereotypen und Personalisierung

Das Ziel des Spiels soll es sein, Gastgeber einer Fußball-WM zu werden. Nimmt man die Ereignisfelder ernst, so hätte man als gedopter, mit Gazprom heizender und Coca-Cola trinkender Gerhard Schröder die besten Chancen auf eine WM. Schon die innere Logik des Spiels ist offenkundig wirr.

Entscheidender Teil des Beitrags sollte aber wohl nicht dieser misslungene Gimmick (illustriert mit russischen Stereotypen wie Schneeflocken, Bären und Balalaikas) sein, sondern die neben dem Spielfeld dargestellten Ereigniskarten. Die dort aufgeführten Texte sollen die politische Bedeutung des Großereignisses erläutern, hieß es auf der HAZ-Titelseite.

Tatsächlich findet sich aber zu dieser ernsten Ankündigung von Seite 1 in den Kartentexten der klamaukigen Doppelseite wenig bis nichts. Man könnte sich ja durchaus ernsthafte politische Fragen und Erläuterungen zur WM vorstellen. Etwa lokalpolitisch: Wie sieht es mit der nachhaltigen Nutzung der Stadien und der Infrastruktur nach dem Turnier aus? Oder sportpolitisch: Inwiefern mussten andere Sportarten in Russland strukturell unter der Abzweigung hoher Budgetsummen für die WM leiden? Oder wirtschaftspolitisch: Welche finanziellen Effekte hat das Turnier für die entsprechenden Regionen oder das ganze Land? Gern auch sicherheitspolitisch: Wurden Gesetze verschärft, um vielleicht nur vorgeblich die Sicherheit der ausländischen WM-Gäste zu schützen? Wurden im Windschatten der WM-Euphorie in Russland vielleicht unpopuläre Gesetze verabschiedet, die sonst auf starken Protest gestoßen wären?

Nachrichtenwert gleich Null

Doch solche Fragen thematisiert die Doppelseite nicht. Stattdessen geht es um personalisierten Protest gegen Putin, um Staatsdoping oder um Kämpfe in der Ostukraine. Zudem werden die FIFA, Gerhard Schröder und russische Hooligans kritisiert. Alle genannten Vorwürfe sind weder neu noch haben sie in ihrer Mehrzahl mit der WM zu tun. Der effektive Nachrichtenwert des Beitrages ist gleich null.

Schon aus journalistisch-handwerklicher Sicht ist es verwunderlich, dass solch ein, in Form und Inhalt unseriöser, Beitrag redaktionell abgesegnet – und zudem noch an höchst prominenter Stelle in den Zeitungen platziert wurde.

Die einseitig negative Themenwahl und inhaltlich ebenso einseitige Aufbereitung wundert hingegen nicht, wenn man auf den Namen des Autors blickt: Boris Reitschuster, einer der unversöhnlichsten Putingegner hierzulande. Wer Beiträge von Reitschuster einkauft, weiß vorher genau, was er bekommt.

Redaktionell zu verantworten hat das Stück Madsacks journalistische Zentrale: das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), das allen Madsack-Lokalzeitungen den überregionalen „Mantelteil“ überstülpt. RND-Chef Wolfgang Büchner, ein etablierter Alpha-Journalist, der auch schon beim Spiegel und bei der Deutschen Presseagentur (dpa) tätig war, bewarb das polemische Spiel bei Twitter:

Bild

Bild: Screenshot vom Twitter-Profil Wolfgang Büchners (RND-Chefredakteur)

Pressestelle hat keine Zeit

Aufklärung von der Mediengruppe gibt es erstmal nicht. Journalistische Nachfragen zu dem Würfelspiel an die Madsack-Kommunikationsabteilung verlaufen im Sande. Der Konzern feierte am ersten WM-Wochenende 125-jähriges Jubiläum, erst elitär mit Festakt in der Oper, dann volksnah mit Konzertparty und Stars. Die Presseabteilung feierte offenbar das ganze Wochenende mit, denn niemand sah sich von Freitagvormittag bis Dienstagnachmittag in der Lage auf meine Presseanfrage (2) zu antworten.

Übrigens, bei der großen Jubiläums-Show in Hannover sagte Thomas Düffert, Vorsitzender der Konzerngeschäftsführung der Madsack-Mediengruppe:

„Zu unserem 125. Geburtstag sind wir mehr denn je ein starker Verbund und stehen für Qualitätsjournalismus. Unsere Zeitungen bieten Orientierung, sie gehören zum Stadtleben und berichten darüber – sie sind der Herzschlag unserer Heimat.“

Orientierung statt Journalismus

Tatsächlich beweist Madsack mit dem polemischen Würfelspiel seine qualitative und politische Orientierung. Der Konzern zeigt sich fest im deutschen Medien-Mainstream verankert: kostengünstig, oberflächlich, transatlantisch. Doch was auf den ersten Blick nur wie ein geschmackloser, deplatzierter Anti-Putin-Beitrag aussieht, entpuppt sich bei genauem Hinsehen auch als russlandfeindlich in Gänze.

Zwar ist alibimäßig von russischen Oppositionellen wie Alexej Nawalny oder Boris Nemzow die Rede. Doch diese tauchen nur am Rande auf und sind lediglich instrumentalisierte Statisten. Wer dies bezweifelt, bedenke bitte, wie oft deutsche Medien über Nadija Sawtschenko berichteten, als diese in einem russischen Gefängnis saß und wie oft sie dies getan haben, seitdem die ukrainische Nationalistin im März in der Ukraine verhaftet wurde (3).

Nur negative Russlandbilder

Tatsächlich fällt schnell auf, dass das Würfelspiel generell und ausschließlich negative Russlandbilder transportiert. Es wäre ja durchaus möglich gewesen – auch innerhalb des Anti-Putin-Spielschemas – positive oder zumindest neutral-informative Russlandbilder einzubauen. Mehr als ein wenig Kreativität bedürfte es dazu nicht (4). An möglichen Lücken in der Spiellogik kann das Fehlen positiver Russlandbilder nicht liegen. Der wirre Spielinhalt lässt sich nicht verschlimmern.

Neben Putin sind auch viele andere, normale Russen Verleumdungsziele des Spiels – nicht nur implizit durch die primitiv-russophobe Spielanlage, sondern auch explizit: So werden russische Journalisten mehrheitlich als „Informationskämpfer“ angegriffen, russische Polizisten tauchen ausschließlich als prügelnde Brutalos auf, russische Beamte lediglich als bestechliche Charaktere. Nützlich für Reitschuster sind Russen offenbar nur als Putinkritiker. Oder wenn sie sich zumindest indirekt als solche benutzen lassen.

Reitschuster instrumentalisiert sogar Hooligans

Dies erkennt man besonders gut beim Thema gewaltbereite Fußballfans. Reitschuster hat unter dem Titel „Russische Hooligans: nationalistisch und brutal“ einen Begleittext verfasst. Behält die russische Polizei die russischen Hooligans im Auge und hindert sie an Schlägereien (wie beim Confed Cup 2017), so nennt Reitschuster dies „Schikanen von Fans“. Entziehen sich diese Hooligans jedoch der Polizei und verprügeln jemanden, so werden aus den gerade noch „schikanierten Fans“ plötzlich russische Hooligans.

Selbst wenn diese russischen Hooligans sich mit anderen, beispielsweise englischen, Hooligans die Köpfe einschlagen (wie 2016 in Marseille), so bezeichnet Reitschuster Letztere gleich unbeteiligten Opfern als „Fans aus England“. Noch offensichtlicher kann man mit Sprache kaum manipulieren, noch selektiver kann man Menschen kaum instrumentalisieren.

Zudem stellt sich die Frage: Sind deutsche Hooligans nicht auch „nationalistisch und brutal“? Doch, das sind sie. Deutsche Hooligans prügelten auch schon bei Weltmeisterschaften – so 1998 in Frankreich. Der damals 43-jährige Polizist David Nivel lag danach sechs Wochen im Koma und ist bis heute halbseitig gelähmt. Doch Reitschuster warnt nicht vor deutschen, englischen, polnischen und allen anderen Hooligans gleichermaßen, sondern nur vor den russischen.

Putin = Russland, Russland = Putin

Für Reitschusters selektive Beschreibungen ließen sich noch weitere Beispiele auf der Doppelseite finden. Deutlich wird: Die vorgeblich putinkritischen Texte des vorgeblich putinkritischen Würfelspiels machen die russische Gesellschaft als Ganze schlecht – teils implizit, teils offen. Für viele deutsche Mainstream-Journalisten ist die Gleichsetzung von Wladimir Putin mit Russland vielleicht nur eine unterbewusste Assoziierung (5), für Boris Reitschuster jedoch, der dem Atlantic Council als „Experte“ dient, müssen andere Bewertungsmaßstäbe gelten.

Es geht bei dem Würfelspiel offensichtlich nicht um die Verteidigung bestimmter Werte – wie Gewaltlosigkeit, Meinungsfreiheit oder sauberen Sport – sondern um die Instrumentalisierung dieser Werte gegen Russland. Schon gar nicht geht es um Demokratie. Denn die große Mehrheit der Russen hat Putin gewählt. Hier geht es um die Aufrechterhaltung eines Feindbildes. Gerade jetzt, wo viel mehr Menschen sich vor Ort oder am Fernsehbildschirm ein Bild von Russland machen als sonst, ist die Aufrechterhaltung des Feindbildes für transatlantische Akteure wichtig.

Reitschuster und andere eingekaufte „Experten“ seines Kalibers arbeiten teilweise offen, oft aber unterschwellig mit der Unterstellung: Ein Mann allein (Putin) kann so ein System nicht aufrechterhalten. Dazu gehören ein Staatsapparat (Staatsdoping, Staatsmedien), eine willige Wirtschaft (Vetternwirtschaft, Oligarchen) und letztlich ein Großteil der Gesellschaft. Mit jeder journalistischen Putinkritik schwingt darum auch der Vorwurf an die Russen mit: „Wie könnt ihr so jemanden nur immer wieder wählen?“.

22. Juni: die nächste Chance

Wer diese pauschale Negativhaltung gegen den russischen Präsidenten und gegen die russische Gesellschaft konsequent weiterdenkt, landet bald bei gefährlichen stereotypen Beschreibungen von Russen. Wer solche Stereotypen erzeugt, aufrechterhält und verfestigt, betreibt das Gegenteil von Völkerverständigung und Friedenssicherung – der betreibt Feindbildaufbau. Solch ein Prinzip hat vor fast 80 Jahren den mentalen Weg in einen Rasse- und Vernichtungskrieg bereitet: in den „brutalsten und ungeheuerlichsten“ Angriffskrieg der Menschheitsgeschichte, wie der Historiker Dieter Pohl den deutschen Überfall auf die Sowjetunion umschreibt (6).

Und so bekommt das Würfelspiel vom 14. Juni, dem Tag des WM-Starts, noch einen ganz besonders widerlichen Beigeschmack. Denn nur acht Tage danach, am 22. Juni, steht der 77. Jahrestag eben jenes Überfalls an. Dieser würde gerade von deutschen Journalisten ein wenig mehr Zurückhaltung mit moralisierender Kritik und ein wenig mehr Demut vor Russland und seinen Menschen erfordern. Man darf durchaus noch davon träumen, dass geschichtsbewusste Journalisten der Madsack-Mediengruppe, denen Völkerverständigung und Frieden noch etwas bedeuten, am 22. Juni ein anderes, ein besseres Bild ihrer Zeitungen vermitteln.


Quellen und Anmerkungen

(1) Die Madsack-Mediengruppe gibt 15 Tageszeitungen in acht Bundesländern heraus, darunter mit der HAZ und mit der Neuen Presse (NP) die beiden großen Lokalzeitungen Hannovers, die Ostseezeitung (Rostock), die Leipziger Volkszeitung, die Märkische Allgemeine (Potsdam) oder die Lübecker Nachrichten. Insgesamt erreicht Madsack nach eigenen Angaben mehr als 700.000 Abonnenten deutschlandweit. All diese Tageszeitungen erhalten ihre überregionalen Inhalte vom Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) – einer redaktionellen Zentrale in Hannover, die auch ein Hauptstadtstudio in Berlin unterhält. Wo 15 Titel drüberstehen ist also letztlich überall, mit Ausnahme der Lokalteile, größtenteils RND-Inhalt drin. Das spart Produktionskosten und täuscht Vielfalt vor, wo keine ist.
(2) Folgende Fragen sandte ich an Pressesprecher Markus Hauke:
1. Auf der Titelseite wird angekündigt, dass die Doppelseite über die politische Bedeutung der WM in Russland informieren werde. Tatsächlich findet sich dort zu diesem Thema aber wenig bis nichts. Neben Kritik an der FIFA werden vor allem Kritikpunkte an Russland wiederholt, die auf ganz andere Ereignisse (wie etwa den Ukraine-Konflikt) abzielen und lang bekannt sind. Worin besteht also der journalistische Nachrichtenwert dieser Doppelseite zur WM?
2. Was ist Sinn und Ziel dieses "Spiels"?
3. Halten Sie es für journalistisch angemessen ein solches Thema in der polemisch-satirischen Form eines Würfelspiels aufzumachen?
4. Halten Sie es für journalistisch angemessen die WM und das Gastgeberland mit seinen rund 140 Millionen Einwohnern so sehr auf die Person Wladimir Putins zu reduzieren?
5. Warum wurde mit Boris Reitschuster ein ausgewiesener Putingegner und kein unbefangener Autor beauftragt?
6. Warum werden mit dem "Spiel" ausschließlich negative Sichtweisen auf Russland transportiert?
7. In wie vielen Zeitungen der Madsackgruppe wurde "Putins Spiel" ebenfalls abgedruckt? Wie viele Abonnenten wurden damit schätzungsweise erreicht?
Hauke antwortete mir, wegen des Festakts habe er erst in der folgenden Woche Zeit zu antworten. Dies geschah bislang nicht.
(3) Die ukrainische Nationalistin wird weder im Würfelspiel noch in den Begleittexten erwähnt, denn sie sitzt ja nicht mehr in Russland im Gefängnis. Als Instrument transatlantischer Anti-Russland-Kampagnen ist sie damit wertlos. Nun jedoch sitzt sie seit drei Monaten in der Ukraine im Gefängnis. Kampagnen deutscher Journalisten á la „#Free Savchenko“ sind bislang ausgeblieben.
(4) Vier Textbeispiele für Ereigniskarten aus einem spontanen Brainstorming: „Sie schützen einen durch Putin persönlich verfolgten russischen Homosexuellen: Das FIFA-Ethik-Komitee spricht sich für Sie als Gastgeber aus. Sie dürfen nochmal würfeln.“ Oder: „Sie sprechen mit einem von Putin persönlich unterdrückten russischen Oppositionellen und dessen riesiger Anhängerschar. Der FSB hört Sie dabei ab. Gehen Sie zwei Felder zurück.“ Oder: „Sie überzeugen den Kremlchef von seinem autokratischen Recht auf Begnadigung Gebrauch zu machen und sorgen so für die Freilassung eines putinkritischen Künstlers. Das kulturelle Begleitprogramm Ihrer WM ist damit gesichert. Gehen Sie zehn Felder vor.“ Oder „Sie unterstützen eine von Putin persönlich brutal enteignete Babuschka bei ihrem Protest gegen die Errichtung eines Stadions auf dem Gelände ihrer Datscha. Die Nachtwölfe verfolgen sie dafür. Doch die riesige subversive russische Oppositionsbewegung hilft Ihnen. Sie können weiterspielen, müssen aber eine Runde aussetzen.“
(5) Durch seine fortwährende Personalisierung (Russland = Putin, Putin = Russland) hat sich der Medien-Mainstream selbst in diese Wahrnehmungsfalle hineinmanövriert. Motto: „Putin ist durchgängig schlecht, egal was er tut. Da kann es mit seinem Land auch nicht weit her sein.“ Historische, sprachliche und kulturelle Unkenntnis sowie altbekannte Vorurteile tun ihr Übriges bei der journalistischen Bewertung des Landes. Viele Journalisten werden nun während der WM vielleicht ehrlich überrascht sein, dass in Russland nicht immer Schnee liegt.
(6) Dieter Pohl: Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941 – 1944. Frankfurt am Main, 2011.