Krieg Heil

Um ein Volk kriegstüchtig zu machen, trainieren ihm die Mächtigen einen Hass auf den Feind an, der wie ein pawlowscher Reflex automatisch abläuft.

Eine Organisation schlägt Ihnen vor, Ihre Wohnung, die Familie und den Beruf zu verlassen, in ein fremdes Land zu reisen und dort Ihnen völlig unbekannte Menschen zu töten. Dabei besteht für Sie selbst die Gefahr, ebenfalls getötet oder verstümmelt — zumindest aber schwer traumatisiert zu werden. Was würden Sie von einer solchen Organisation halten? Wäre ein solches Ansinnen nicht die ultimative Zumutung — etwas, gegen das sich jeder gesund und human empfindende Mensch mit all seiner Kraft auflehnen müsste? Nun, wenn diese Organisation „Staat“ heißt, beschreibt die hier skizzierte Situation eher den Normalfall — etwas, das in sehr vielen Ländern in der Geschichte tatsächlich von Bürgern verlangt wurde und was diese mit erstaunlicher Duldsamkeit wieder und wieder hingenommen haben. Wie die Kriegsprofiteure dies erreichen? Die Antwort liegt in einem bestimmten Framing, mit dem das Töten potenziellen Soldaten gegenüber gerechtfertigt wird. Dazu gehört auch die Fiktion eines abgrundtief bösen Feinds, der das Land bedroht, sowie die gesellschaftliche Ächtung und grausame Bestrafung — nicht etwa derer, die zum Töten bereit sind, sondern derer, die sich dem Töten verweigern. Für den Autor ist klar, dass diese verhängnisvolle Logik durchbrochen werden muss. „Kein Frieden, keine Zukunft“ heißt sein Buch, aus dem wir hier einen Auszug veröffentlichen.

Vor einigen Jahren kamen meine Frau und ich am Frühstückstisch eines Hotels in Bad Sobernheim mit einem alten Herrn ins Gespräch. Wir waren mit den Rädern von Bingen gekommen; er war zu einem Ehemaligentreffen verabredet. „Bingen“, sagte er. „Als Kinder mussten wir dort nach einem schweren Bombenangriff die Trümmer beseitigen. Wenn wir Leichen gefunden hatten, haben wir die Erwachsenen gerufen; die haben sie dann ausgegraben. Es waren viele Leichen. Sehr viele. In der ganzen Stadt stand der süßliche Geruch nach Leichen, durchdringend, intensiv. Das ist meine Erinnerung an Bingen.“

Stalingrad ist 80 Jahre her. „900.000 waren ausgezogen, 90.000 gerieten in Gefangenschaft, 9.000 kamen zurück“ hieß es damals. 2018 haben wir uns im Schauspiel Frankfurt „Die Perser“ angesehen. Die Finsternis der Niederlage, verstärkt durch wiederkehrende, durchdringende Trommelschläge, die langsamen, rhythmischen Bewegungen der Schar der Gefangenen auf zwei sich immer weiter drehenden Scheiben haben mich tief beeindruckt. So müssen sich die Soldaten der Wehrmacht bei der Kapitulation gefühlt haben. „Aischylos‘ Mahnung an seine Landsleute, wohin Hochmut führen kann, gilt auch (Regisseur) Ulrich Rasche als Aufruf zur Eigeninitiative, erreichte gesellschaftliche Werte zu würdigen und zu erhalten“, schrieb ein „Kulturfreak“ in seinem Blog.

Mit friedlichen Grüßen

„Wir wollen ja nicht weniger als einen Regimewechsel in Russland“, stellte im Februar 2021 der damalige Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft fest. Ich war wütend. Was hatten wir da zu wollen? In der Zeitschrift Zeitgeschehen im Fokus startete ich die Aktion „Mit friedlichen Grüßen“ und schrieb:

„Wir dürfen unsere Geschichte nicht vergessen, nicht unsere Schuld, nicht das unermessliche Leid, den mit Blut getränkten Boden Europas. ‚Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt‘, sagt der Prophet Jesaja (9,4). Unsere Eltern und Großeltern haben das in jungen Jahren selbst erlebt. Ihnen war klar: Von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen.“

Die Idee war: Zum Zeichen von Frieden und Verständigung unterschreiben in Zukunft alle ihre Briefe und Mails „Mit friedlichen Grüßen“. Die Resonanz war gering.

1969 beendete Willy Brandt seine erste Regierungserklärung mit den Worten: „Ein Volk der guten Nachbarn sein und werden“. Das ist lange her. Heute hetzen Regierung und Medien permanent mit übelster Demagogie gegen Russland, bis selbst gute Freunde das für völlig normal halten. Patrik Baab, Journalist und Berichterstatter aus der Ukraine und dem Donbass, spricht in einem Interview von der „Überheblichkeit des gehobenen Bürgertums“ in den Redaktionen, die zu einer „Infantilisierung der Berichterstattung“ führe. Wir haben keine Empathie mehr für Menschen außerhalb des eigenen Dunstkreises. „Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg“, warnte schon der Prophet Jesaja (53,6).

Als ich vor kurzem George Orwells „1984“ noch einmal gelesen habe, war ich wie vor den Kopf geschlagen über die vielen Parallelen zur heutigen Zeit: Einst informative Nachrichten sind unter dem Deckmantel des Seriösen zu Orwells „Two Minute Hates“ geworden. In „1984“ ist nur England „Airstrip One“ von „Oceania“; heute sind alle Länder der EU nicht viel mehr als Landebahnen der USA.

Wladimir Putin wurde zum beinahe mythischen Inbegriff des Bösen, wie die Figur „Emmanuel Goldstein“, der Gegenspieler von „Ozeanien“ in Orwells Roman.

Sogar ein ganzes Volk wird dämonisiert: So zitierte 2018 der einst ehrwürdige Guardian eine Freundin von Yulia Skripal, der Tochter des verurteilten Doppelagenten Sergej Skripal, die gemeinsam mit ihrem Vater in Salisbury vergiftet wurde, mit den Worten:

„Yulia isn’t a typical Russian. She reminds me more of an Englishwoman or an American. Always smiling and waving.“ (deutsch: Yulia ist keine typische Russin, sie erinnert mich mehr an eine Engländerin oder eine Amerikanerin. Immer lächelnd, immer winkend.)

Rassismus und Antisemitismus haben sich stets mit solch unterschwelligen Klassifizierungen langsam und allmählich ans Publikum herangepirscht.

Stetig immer weiter aufgehetzt, werden wir irgendwann alle auf ein festes Zeichen hin vorhersehbar mit dem gleichen antrainierten Reflex antworten wie Pawlows Hunde: Es wird uns der Speichel laufen, wenn wir bloß das Wort „Russe“ hören. Beim Wort „Putin“ ist das ja schon so.

Wir geraten in eine „permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus schlägt“ , schrieb Frank Schirrmacher 2014 in der FAZ unter der Überschrift „Echtzeitjournalismus: Dr. Seltsam ist heute online“ (vergleiche Abschnitt II.6). Die durch suggestiven Hass der „hate weeks“ blind gewordene Bevölkerung verarmt durch ständige Kriege. So ist es in „1984“, und Ähnliches steht auch uns bevor. Mit einem starken Nachbarn in ständigem Streit zu leben geht selten gut aus. In seinem Buch „Kollaps“ führt Jared Diamond das schnelle Ende der Wikinger in ihrer Kolonie Vinland in Nordamerika darauf zurück, dass sie die Indianer umbrachten, anstatt friedlich mit ihnen zu leben. Als sich Thorwald, der Sohn Eriks des Roten, sterbend den tödlichen Pfeil eines Indianers aus dem Bauch zog, soll er gesagt haben:

„Wir haben hier ein reiches Land gefunden; um meinen Bauch ist viel Fett. Wir haben ein Land mit vielen Rohstoffen gefunden, aber wir werden wohl nicht viel Freude daran haben.“

Seht ihr nicht, dass da Leut‘ herumlaufen?

Mithilfe von „Framing“ (Einrahmen) wird der Kontext eines Narrativs vorgegeben.

So werden wir geschickt dazu gebracht, den Krieg nicht als unverschämte, ultimative Übergriffigkeit eines außer Kontrolle geratenen Staates gegenüber seinen Bürgern wahrzunehmen, sondern als staats- und ordnungserhaltende Notwendigkeit.

Wer den Rahmen setzt, hat die Kontrolle und ist in der Lage, den Raum für mögliche Lösungen nach eigenem Gutdünken einzuengen. Begünstigt wird das durch die angeborene oder anerzogene Neigung des Menschen, sich seiner jeweiligen Umgebung anzupassen. Im Karneval wird Lachen befohlen; bei der Beerdigung von Diana wird einmal „Heulen für alle“ bestellt. Und wir machen mit.

Ein Bild, das mich bis heute verfolgt, ist das Foto von 12 jungen Frauen in weißen Blusen und dunklen, knielangen Röcken, die fröhlich und unbeschwert auf einer Brüstung sitzen. Am Rand sieht man einen Mann mit einem Akkordeon, ein weiterer hat ein Tablett in der Hand, vermutlich serviert er gerade einen Imbiss. Ein gelungener Schnappschuss. Er stammt aus einer Schachtel mit Fotos, die einer höheren Charge des KZ Auschwitz gehörte. Die Frankfurter Rundschau hat 2007 darüber berichtet. Die jungen Frauen sind KZ-Wärterinnen. Unter dem Bild steht: „Wir wissen nicht, was ihnen so viel Freude macht.“

Wir müssen begreifen, zu welchen Grausamkeiten wir verleitet werden können. Eine Möglichkeit, den von oben gegebenen Denk- und Gefühlsrahmen zu sprengen, war zu allen Zeiten der Witz, wie der folgende aus der Zeit des ersten Weltkriegs:

„Ein Jude kommt frisch in den Schützengraben. Eben ist im Vorfeld eine feindliche Patrouille. Es beginnt eine wüste Schießerei. Der Jude ruft entsetzt: „Hört doch auf zu schießen! Seht ihr nicht, dass dort Leut‘ herumlaufen?!‘.“

Gegen den Strom

Im Herbst 2019, auf einer Urlaubsreise nach Wien, saßen wir im Zug einem großen, weißhaarigen Herrn gegenüber, der mich entfernt an Ephraim Kishon erinnerte. Wir kamen ins Gespräch. Es war der Friedensforscher Egbert Jahn aus Frankfurt, der nach Linz zu einem Kongress über Mahatma Gandhi unterwegs war. Wir plauderten über dies und das, kamen irgendwann auf die Käuflichkeit der Wissenschaft zu sprechen. Er lächelte:

„Jemand hat mal gesagt: Professoren, Huren und Tänzerinnen kann man überall für Geld wieder haben.“

Der Hintergrund: Sieben Göttinger Professoren hatten 1837 dagegen protestiert, dass ihr Landesfürst die liberale Verfassung außer Kraft gesetzt hatte. Dafür wurden sie entlassen, drei von ihnen des Landes verwiesen, verfolgt von dem derben Spruch ihres Brotgebers. Diese „aufrechten Sieben“ haben sich nicht kaufen lassen.

Mit Egbert Jahn habe ich mich danach noch per Mail eine Zeitlang ausgetauscht. Er schickte mir unter anderem das Skript einer seiner „Frankfurter Montagsvorlesungen“ zu „Putin-Verstehern und Putin-Kritikern“. Es war erschreckend eindimensional. Russland sei auf einem „ständig autokratischer werdenden“ Weg. Die Floskel „autokratisch“ wird permanent wiederholt, ohne einen Beleg; der historische Kontext, so wie er zum Beispiel von Solschenizyn erläutert worden ist (vgl. Kapitel II.7), wird komplett ausgeblendet. Da verspielt ein freundlicher, renommierter Emeritus seinen guten Namen durch Agitprop mit Fußnoten. Oder liege ich daneben?

Im November 2023 ist in Russland eine junge Frau, Alexandra Skotschilenko, zu sieben Jahre Haft verurteilt worden, weil sie in einem Supermarkt eine Handvoll Preisschilder durch Friedensbotschaften ersetzt hatte. Den Paragrafen, nach dem sie verurteilt worden ist, gibt es auch bei uns: „Störpropaganda gegen die Bundeswehr“ wird nach Strafgesetzbuch (StGB) §109d mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe geahndet. Ist Russland doch „autokratisch“? Im Kapitel „Die schwierige Suche nach der Wahrheit“ (II.6) versuche ich, soweit dies aus der Ferne möglich ist, eine Antwort zu finden.

Diese nach allen Seiten kritische Denkweise geht immer mehr verloren. Die meisten haben sich längst bedingungslos einer Macht unterworfen, die stets damit droht: „Da stehst du — wir können auch anders.“

Zum Glück bin ich unabhängig, kann Dinge „klären“, allein in der Stille einer schon von den Eltern begonnenen, über Jahrzehnte sorgsam aufgebauten Bibliothek. Wer allein unterwegs ist, muss seine Quellen um so sorgfältiger prüfen. Zwar bekommt man immer wieder wohltuende Rückmeldungen, jedoch fehlt der Plausch mit Kollegen. Aber so entsteht ein Weg, der nicht den eingefahrenen Spuren des immer gleichen Geratters der Argumente folgt, sondern zu einer anderen, eigenen Sicht der Dinge führt.

Die Stimme des Menschen

Als wir 2021 mit einem befreundeten Ehepaar die Elbe von Dresden bis Magdeburg hinab geradelt sind, mussten die anderen ständig auf mich warten, weil ich zwischendurch immer wieder auf Menschen gestoßen bin, die etwas Interessantes zu erzählen hatten. Meine Tante Hansi, die Schwester meines Vaters, sagte kurz vor ihrem Tod:

„Ich bin alt und kaputt, aber was man mir nicht hat nehmen können, ist mein Interesse für meine Mitmenschen.“

Von ihr habe ich das Buch geerbt: „Die Stimme des Menschen. Briefe und Aufzeichnungen aus der ganzen Welt. 1939 — 1945“. Es „enthält nur Texte von Verfassern, die den Krieg oder die erste Nachkriegszeit nicht überlebt haben, und erinnert in ausgewählten, einzelnen Stimmen weltweit an die Schicksale der Menschen, die in den Kämpfen, in den Verfolgungen, in den Angriffen, in äußerer und innerer Not ihr Leben im Krieg dahingaben“.

Die Idee dazu entstand bei einem Tischgespräch im September 1955 zwischen Walter Bähr, dem Herausgeber, und Albert Schweitzer. Dabei legte Schweitzer „die Bedeutung von Briefen der Opfer des Krieges für das Friedensbewusstsein der Völker dar und erklärte, in der Verbreitung solcher Niederschriften liege eine Möglichkeit, dem Frieden zu dienen“. Heute, wo die Diskussionen der Selbstdarsteller in den Leitartikeln und Talkshows nur noch um Geostrategie, Macht und wirtschaftliche Interessen kreisen, wird die Stimme des Menschen nicht mehr gehört.

„Und wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts“, schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Korinth (1. Korinther 13, 2). Nur wenn wir den Blick weg von den Mächtigen wieder in verstehender Liebe und Anteilnahme auf die Menschen richten, werden wir Frieden finden. Natürlich braucht es auch praktische Vorschläge; dieser Text enthält im letzten Teil mehrere davon. Vor allem aber müssen wir unseren Denkrahmen neu setzen und uns wieder ganz auf den Menschen konzentrieren.


Redaktionelle Anmerkung: Der Text ist ein Auszug aus dem Buch „Kein Frieden, keine Zukunft“ von Stefan Nold. Es ist unter folgendem Link frei als PDF herunterzuladen: Stefan Nold: Kein Frieden keine Zukunft.