Krieg gegen Afrîn
Am großen Tisch des Syrien-Pokers.
Den Kurden in Syrien bleibt nichts erspart. Den Angriff des IS auf Kobanî mit der materiellen und logistischen Unterstützung der Türken 2014 konnten sie unter unsäglichen Opfern noch abwehren. Bis heute ist die Stadt von den enormen Zerstörungen gezeichnet. Ein Angriff der Türken aus der Luft und zu Lande auf Afrîn ist jedoch angesichts ihrer NATO-Ausrüstungen von ganz anderer Qualität.
Hinzukommt, dass sie die Milizen der Free Syrien Army als Vorhut nach Afrîn kommandieren können und die beiden örtlichen Großmächte USA und Russland offensichtlich diskret das Terrain geräumt haben und aus durchaus unterschiedlichen Interessen über den Feldzug aus dem Norden hinwegschauen. Syrien – offenes Land. Dies ist schon lange kein Bürgerkrieg mehr- wenn er es überhaupt einmal war. Hier zählt die Souveränität Syriens genauso wenig wie das Völkerrecht, welches die Grenzen territorialer Integrität wahren möchte und die Intervention nach Gutdünken untersagt.
Die Türkei hatte niemals Zweifel daran gelassen, eine Autonomie der Kurden an ihrer Südgrenze nicht zu akzeptieren. Sie wird zwar durch keine Intervention bedroht – die einzige Situation, die sie zu den jetzigen Schritten berechtigt hätte –, sie fürchtet jedoch die psychologische Auswirkung eines demokratischen Rojava auf die Autonomie- und Selbstverwaltungsansprüche ihrer eigenen Kurden. Offiziell möchte man eine 30 Km „Sicherheitszone“ an der Südgrenze. In Wahrheit zielt der Feldzug auf das gesellschaftliche Modell einer selbstbestimmten basisdemokratischen Verfassung, deren Ausstrahlung alle benachbarten Regime und nicht nur die Diktatur Erdogans zu befürchten haben.
Die Kurden waren also vorbereitet und versuchten das einzige, was ihnen evtl. Schutz vor dem aggressiven und kriegslüsternen nördlichen Nachbarn versprechen konnte. Sie gingen Partnerschaften mit den größten Mächten vor Ort, USA und Russland, ein, deren Labilität sie durchaus nüchtern einschätzten. Sie räumten ihnen Luftstützpunkte und Materialbasen ein – in Afrîn den Russen, in Cizîrê den USA. Den Russen war die Nähe zu ihrem einzigen Mittelmeerstützpunkt Tartus und dem Luftwaffenstützpunkt in Hmeimim in der Provinz Latakia das Motiv. Die USA brauchten die Kurden der YPG für ihren Kampf um Rakka, Deir Al-Sor und schließlich gegen Damaskus, wo sie sich wieder mit den Türken treffen wollten.
Hunderttausende von Flüchtlingen aus Aleppo und anderen Kampfgebieten hatten in Afrîn eine sichere Zuflucht vor dem IS und der Nusrah Front gefunden. Es war eine von wenigen bisher vom Krieg verschonten Regionen in Syrien, dort hatten diese Terrorbanden keinen Zutritt. Nun beginnt der Verteidigungskampf erneut, nachdem Russland offensichtlich den Luftraum für die türkischen Bomber freigegeben hat. Ein fragwürdiger Deal, der nur damit zu erklären ist, dass die Russen in ihrer Rivalität mit den USA die Tür für die Türken wieder öffnen wollen, um sie aus dem westlichen Lager zu ziehen. Hatten sie bisher immer wieder die Völkerrechtswidrigkeit der US-amerikanischen Intervention gerügt, schließen sie nun die Augen vor dem offenen Völkerrechtsverstoß der Türken. Und diesmal lassen sie auch Damaskus im Stich, denn das syrische Außenministerium hatte die Militäroperation bereits als Verletzung der syrischen Souveränität kritisiert.
Es sollte niemand verwundern, dass die USA in dieser Konstellation ihre Allianz mit den Kurden östlich des Euphrats zur Disposition stellen. Schon aktuell haben sie gegen den Vormarsch der Türken im Westen nichts einzuwenden. Ihr Plan hingegen, die Kurden in Nord-Syrien in der Aufstellung einer 30 000 Frauen und Männer starken Kampftruppe zu unterstützen, war einer der Reizpunkte für Erdogan. Er hat bereits angekündigt, auch weiter nach Osten bis an den Tigris vorzurücken, um dem gesellschaftlichen Projekt der Kurden in Rojava ein Ende zu setzen. Das allerdings würde einen Krieg entfachen, der nicht nur das Dreiländereck Syrien, Türkei und Irak in Flammen setzen würde. Auf jeden Fall sollten die Kurden ihre Lehren aus den Niederlagen ihrer Geschichte gezogen haben, in der ihnen nie die Unterstützung einer Kriegspartei gelohnt wurde. Sie waren immer Spielball der Mächte und sind es auch heute wieder. Wie wenig sie sich übrigens in die Terrorfront gegen Präsident Assad einreihen lassen, zeigt seine Erklärung, dass er hoffe, dass sich die syrische Regierung und die Kurdenpartei PYD darüber einigen könnten, „die nördliche Region vom US-amerikanischen Einfluss und den Unterstützern des Terrors zu befreien“.
Die Bundesregierung bleibt mit ihrer „Bündnisverpflichtung“ im imperialistischen Syrien-Poker stecken: Außenminister Gabriel hatte schon den Raketenangriff der USA auf den Luftwaffenstützpunkt Al Shayrat, ein klares Kriegsverbrechen, für “nachvollziehbar“ erklärt. Zu der nicht minder völkerrechtswidrigen „Operation Olivenzweig“ der Türken hat er nicht mehr zu sagen, als dass sie „unkalkulierbare Risiken mit sich bringe.“ Nicht einmal eine Anrufung des UNO-Sicherheitsrats kommt diesem kleinen Mann, der so gerne ständiges Mitglied am großen Tisch werden möchte, in den Sinn. Dies wird garantiert kein strittiges Thema in den kommenden Koalitionsverhandlungen, denn über die unbedingte Teilnahme an der großen Neuordnung des Mittleren Ostens besteht unter diesen Partnern kein Streit. Kobanî und Afrîn spielen dabei keine Rolle, wenn es um Rüstungsdeals und die Abwehr von Flüchtlingen geht. Das Spiel ist zynisch und der Tisch für die Kurden zu groß, an dem die Karten für das „gamble for Syria“ verteilt werden. Das Spiel ist uralt und wird immer noch mit den Regeln von Verrat, Verkauf und Verbrechen gespielt. Bleibt auch der Sicherheitsrat weiter sprachlos, bleibt nur die Hoffnung auf die internationale Solidarität der Zivilgesellschaft mit den Menschen um ihr Leben und ihre Selbstbestimmung in Afrîn.