Krieg entlang der Bruchlinien

Die machtpolitische Instrumentalisierung religiöser Konflikte soll die syrische Gesellschaft zerstören.

Schon im Oktober 2011 hat der syrische Präsident Bashar al Assad in einem Interview mit dem Londoner „Telegraph“ vor einem Flächenbrand im Mittleren Osten gewarnt. Ein Krieg gegen Syrien könne ein „neues Afghanistan“ zur Folge haben, sagte Assad dem Reporter Andrew Gilligan in Damaskus (1). Syrien liege an einer Bruchlinie und jeder — militärische — Eingriff in dem Land werde „ein Erdbeben auslösen“, so Assad. Syrien sei mit Ägypten, Tunesien oder dem Jemen nicht zu vergleichen, wo zu Beginn des Jahres 2011 Massenproteste Regierungswechsel ausgelöst hatten. „Jedes Problem in Syrien wird die ganze Region verbrennen.“

Syrien liegt nicht nur an einer geostrategischen Bruchlinie zwischen Nord und Süd, Ost und West, wo es um Zugang und Kontrolle von Ressourcen, Märkten und Transportwegen geht. In Syrien gibt es innerhalb des Landes weitere Bruchlinien entlang religiöser und ethnischer Verschiedenheiten. Es gibt Dutzende religiöser Strömungen unter den Muslimen und Christen im Land, es gibt Dutzende Volksgruppen, die im Laufe der Jahrhunderte in Syrien ein neues Zuhause fanden.

Eine solche Gruppe sind die Drusen, die in zwei Auswanderungswellen im 17. und 18. Jahrhundert aus dem Libanon nach Syrien kamen. Sie zogen jenseits des Berges Hermon über die fruchtbaren Golanhöhen, wo viele von ihnen sich ansiedelten. Andere zogen weiter über den Hauran und ließen sich östlich der Ebene im Umkreis der Stadt Sweida am Fuße eines Gebirges nieder.

Die Geschichte von Sweida wiederum geht zurück in die vorchristliche Zeit, als die Stadt Handelszentrum der Nabatäer war, ein Nomadenvolk mit dem Herrschaftssitz Petra, einer Felsenstadt im heutigen Jordanien. Unter den Griechen war Sweida als „Dionysias“ bekannt, was auf den Weinanbau in dieser Region hinweist, der schon in der Antike kultiviert worden war. Antike Stätten wie Tempel und ein Theater sind bis heute erhalten. Die ursprünglichen Häuser sind aus dem für diese Region typischen schwarzen Basaltstein gebaut. Die drusischen Neuankömmlinge kultivierten das Land gemeinsam mit den ebenfalls dort lebenden Christen. Konflikte gab und gibt es bis heute mit den Beduinenstämmen, die mit ihren Herden Felder, Plantagen und Gärten durchstreifen, die von Drusen und Christen angelegt worden waren. Sie lagen einfach auf den alten Wegen, von denen die Beduinen bis heute kaum abweichen wollen.

Das Gebirge wurde im Laufe der Zeit zum Jbeil al Druz, dem „Berg der Drusen“. Auf syrischen und arabischen Landkarten wird das Gebirge Jbeil al Arab, „Berg der Araber“ genannt. Von hier ging unter Führung des Drusenscheichs Sultan al Atrasch 1925 der Widerstand gegen die französische Mandatsmacht aus, dem sich rasch Syrer aus dem ganzen Land anschlossen. Hier wurde der Aufstand von den Franzosen schließlich blutig niedergeschlagen.

Der Hauran und die Stadt Deraa wurden 2011 Zentren eines Aufstandes gegen die Regierung in Damaskus, der sich rasch militarisierte und unter der Führung religiöser Gruppen — Salafisten, Muslimbruderschaft, al-Qaida im Irak — über das ganze Land getragen wurde. Die Drusen in Sweida waren ebenso wenig wie die dort lebenden Christen an einer Teilnahme interessiert. Während des Krieges starben Hunderte junger Männer und erfahrene Offiziere aus Sweida in den Reihen der syrischen Armee; um den hohen Blutzoll zu verringern, stellten die Drusen für ihre Region eine eigene Verteidigungsmiliz auf. Tausende Inlandsvertriebene aus dem Norden und Osten Syriens fanden bei den Drusen und Christen der Region Zuflucht. Es blieb weitgehend ruhig in Sweida.

Doch sieben Jahre später, während die syrische Armee mit ihren Verbündeten die südwestlichen Provinzen Deraa und Qunaitra im Juni und Juli 2018 befreite und die bewaffneten Gruppen zum Abzug zwang, wurden die Drusen Ziel eines tragischen Angriffs. An nur einem Tag wurden mehr als 300 Menschen getötet, Frauen und Kinder wurden von Kämpfern des „Islamischen Staates“ entführt. Erst am 8. November 2018 gelang es der syrischen Armee die letzten dieser 30 Geiseln zu befreien. Verschleppt worden waren sie vom „Berg der Drusen“ im Süden des Landes. Befreit wurden sie östlich der Ruinenstadt Palmyra, in einem Wüstenort. Das Drama zeigt, was die Instrumentalisierung religiöser Ideen in dem machtpolitischen Stellvertreterkrieg für die Bevölkerung Syriens bedeutet.

Das Massaker

Der Überfall kam unerwartet. Am 25. Juli 2018 drangen IS-Kämpfer in die Dörfer Al Shabki und Al Matuna ein, die östlich der Provinzhauptstadt Sweida am Drusenberg (Jbeil al Druz) liegen, der von Arabern auch Jbeil al Arab, der Berg der Araber genannt wird. Die Männer kamen mit Beduinen, die den Dorfbewohnern bekannt waren, so dass die Bewohner ihnen arglos ihre Türen öffneten. Dann begann ein Gemetzel, wie es die Dorfbewohner und die ganze Provinz Sweida nicht während der letzten Kriegsjahre und auch nie zuvor erlebt hatten. Mehr als 200 wehrlose Männer, Frauen und Kinder wurden mit Messern ermordet. „Man schlitzte ihnen Kehlen und Brust auf, es fiel kein einziger Schuss“, berichtet Shafik H. der Autorin in Sweida. Dadurch sei man erst spät von wenigen, die entkommen konnten, informiert worden.

Zeitgleich mit dem Massaker explodierten in der Provinzhauptstadt Sweida Autobomben und rissen Dutzende Menschen auf den Straßen und Märkten in den Tod. Innerhalb eines Tages wurden mehr als 300 Menschen, die nichts ahnten und keine Waffen trugen, ermordet.

Drusische Milizen machten sich auf, um die Angreifer aus den Dörfern zurückzudrängen und mögliche Überlebende zu retten. „Viele junge Männer waren unter den Milizen, sie waren unerfahren und wollten nicht abwarten, bis eine erfahrene Führung das Kommando übernehmen konnte“, so Shafik H. Der 80-Jährige war 2013 aus seinem Haus entführt worden, konnte sich aber mit Hilfe der Bevölkerung wieder befreien. Seine Frau wurde bei der Entführung verletzt, die Oliven- und Obstplantagen wurden komplett abgeholzt, das Haus zerstört. Das Massaker an den wehrlosen Menschen hat ihn spürbar erschüttert. Die jungen Leute seien teilweise nur mit einfachen Jagdgewehren losgezogen, erinnert er sich: „130 unserer jungen Männer sind im Kampf mit den Terroristen gefallen, aber die Dörfer konnten befreit werden“. Mehr als 50 der militärisch sehr viel erfahreneren IS-Kämpfer seien getötet worden.

Bei ihrem Rückzug in die schwer zugänglichen Vulkanfelder von As Safa östlich des Drusenberges nahmen die Dschihadisten 30 Frauen und Kinder als Geiseln mit. In den folgenden Wochen und Monaten drohten sie mit deren Ermordung, sollte die syrische Armee ihre Offensive gegen die verbliebenen IS-Kämpfer nicht einstellen und Gefangene freilassen. Unterhändler verhandelten zunächst ohne Erfolg. Einigen der Geiseln gelang die Flucht, fünf wurden von den IS-Kämpfern ermordet. Die verbliebenen vier Frauen und 15 Kinder und Jugendliche wurden bis weit in den Nordosten, in die Wüste verschleppt.

Die Befreiung

Dort konnte die koordinierte Aufklärung der russischen und syrischen Streitkräfte den kleinen Konvoi schließlich ausfindig machen. Nahe des Wüstenortes Humaima, östlich von Palmyra, wurden die IS-Kämpfer getötet, die Geiseln befreit und nach Sweida zu ihren Angehörigen zurückgebracht.

Mehr als drei Monate seien sie von einem Ort zum anderen transportiert worden, erzählten sie nach ihrer Rückkehr. In unterirdischen Höhlen seien sie versteckt worden, hätten kaum zu essen bekommen, Gesundheitsversorgung habe es nicht gegeben.

Sie hätten jederzeit mit der Ermordung gerechnet, die Gesichter waren von den Strapazen deutlich gezeichnet. Sie sei „so glücklich, wieder bei ihrer Familie zu sein“, sagte das Mädchen Manya Abu Ammar Reportern. „Das Gefühl von Sicherheit ist unbeschreiblich.“

Der IS in As Safa, die illegale US-Militärbasis Al Tanf und eine neue Offensive der syrischen Armee

Der IS-Angriff auf die wehrlosen drusischen Dörfer und auf die Provinzhauptstadt Sweida traf ausschließlich Zivilisten. Möglicherweise sollte der Angriff die bewaffneten Gruppen in Deraa und Qunaitra entlasten. Weil die syrische Armee dort mit vielen Kräften gebunden war, konnten erst zwei Tage nach den Angriffen Einheiten nach Sweida verlegt werden. Das nährte Gerüchte, die Armee habe die Drusen im Stich gelassen. Das sei eine Bestrafung dafür, dass die jungen Drusen nicht mehr in der syrischen Armee dienten, sondern in drusischen Milizen.

Andererseits gibt es die Vermutung, dass der IS-Angriff absichtlich gegen die Drusen gerichtet war, um die Gemeinschaft gegen die syrische Regierung und Armee aufzubringen. Es sei eine Operation, um die gesellschaftlichen Bruchlinien in Syrien zu vertiefen, sagt Nabil M., ein pensionierter Agraringenieur, der Autorin in Damaskus. Die rund 1.500 IS-Kämpfer, die sich in den Vulkanfeldern As Safa aufhielten, seien unter Kontrolle der US-Amerikaner auf der Basis Al Tanf, so M. weiter. „Die Amerikaner suchen unsere militärischen, politischen, gesellschaftlichen Schwachstellen, um uns zu treffen.

Die IS-Kämpfer stammen aus Hajar al Aswat und Yarmuk, südliche Vororte von Damaskus. Sie waren dort mit einer Offensive der syrischen Armee und ihrer Verbündeten im Frühjahr 2018 zum Rückzug gezwungen worden. Ein Offizier der syrischen Streitkräfte, der Journalisten damals durch Hajar al Aswat begleitete, erklärte, die IS-Kämpfer seien unter Kontrolle von „syrischen und ausländischen Geheimdiensten“ in Richtung der jordanischen Grenze geführt worden. Mehr wisse er nicht, da es sich um eine Operation der Geheimdienste, nicht der Armee gehandelt habe.

Die Vereinbarung sah vermutlich vor, dass die Kämpfer — viele von ihnen aus anderen Ländern — über Jordanien in die Staaten abtransportiert werden sollten, von denen sie jahrelang unterstützt worden waren. Dazu zählen Saudi Arabien und andere Golfstaaten. Die aber wollen diese Kämpfer nicht aufnehmen, also blieben sie unter Kontrolle der Geheimdienste zunächst an einem Ort in As Safa, den man ihnen für den Weitertransport zugewiesen hatte.

Der Ort ist rund 100 Kilometer von Al Tanf entfernt, einer von den USA völkerrechtswidrig errichteten Militärbasis auf syrischem Territorium im Dreiländereck Syrien-Jordanien-Irak. Um die Basis haben die USA eine 55 Kilometer große Sperrzone gezogen, in die syrische Truppen nicht einrücken können. Aus Berichten von Personen, die auf der Al-Tanf-Basis waren, ist zu entnehmen, dass dort Kämpfer verschiedener Gruppen ausgebildet werden, die in den letzten Jahren gegen die syrische Regierung kämpften. Offiziell heißt es von der US-Armee, die Kämpfer würden ausgebildet, um gegen den „Islamischen Staat“ anzutreten. Tatsächlich befinden sich aber unter den Kämpfern auch solche, die dem IS im Umland von Damaskus angehörten.

Nach der Befreiung der „Sweida-Geiseln“ hat die syrische Armee mit Verbündeten eine neue Offensive gegen die noch immer teilweise schwer bewaffneten IS-Kämpfer in den Vulkanfeldern von As Safa gestartet. Ziel der Armee ist es, die IS-Kämpfer zu vernichten oder zu vertreiben, um die gesamte Grenze zu Jordanien und schließlich auch die gesamte Grenze zum Irak im Osten des Landes zu kontrollieren. Wiederholt hat die syrische Regierung die Auflösung der illegalen US-Basis Al Tanf gefordert.

Die US-Armee hat inzwischen in Al Tanf eine neue „Revolutionäre Kommandoarmee“ (Maghaweir al-Thawra) aufgestellt, wie Generalmajor Christopher Ghika, Sprecher der US-geführten Allianz „Inherent Resolve“ (Innere Entschlossenheit) am 4. November mitteilte. Diese begleitete kürzlich offiziell einen UN-Hilfskonvoi in das Flüchtlingslager Rukban, das innerhalb der von den USA kontrollierten Sperrzone um Al Tanf liegt. Die „Revolutionäre Kommandoarmee“ nannte sich früher „Neue Syrische Armee“ und war zunächst in Jordanien trainiert worden. Die neue Armee „Maghaweir al Thawra“ wurde von dem US-Armeesprecher als „ein Partner“ der internationalen Anti-IS-Allianz bezeichnet.


Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.telegraph.co.uk/news/worldnews/middleeast/syria/8857898/Assad-challenge-Syria-at-your-peril.html)