Kraft erzeugt Gegenkraft

Wer Widerstand leistet, spielt das Spiel des Gegners und kann bestenfalls eine Niederlage verhindern.

Anstatt uns sinnlos zu erschöpfen, werden wir neue Wege finden müssen, Widerstand ohne Gegenkraft zu leisten. So paradox es klingen mag: Es gibt sie. Christoph Pfluger beleuchtet die Nachteile des Widerstands, macht Vorschläge zur Änderung der Perspektive und bringt Beispiele, wie die Fokussierung auf konstruktive Ziele Erfolg bringt. Eine Inspiration in anspruchsvollen Zeiten.

Beginnen wir ganz unverfänglich: Im letzten Winter verbreitete MeteoSchweiz eine „Schneewarnung“. Es schneite dann vielleicht fünf Zentimeter, die nach kurzer Zeit wegschmolzen. War das wirklich eine Warnung wert? Ja!

Opfer haben eine privilegierte Stellung in der Gesellschaft. Deshalb möchten wir alle gerne Opfer sein, und sei es nur von fünf Zentimetern Schnee, über die wir uns angesichts der Klimaerwärmung doch freuen sollten.

Weil der Status des Opfers so beliebt ist — man erhält Beachtung und darf ungestraft Täter werden —, wird heute dauernd gewarnt: vor Parteien und Politikern, Krankheiten, Staaten, Ideen – vor dem Menschen an sich.

Opfer haben drei grundlegende, miteinander verbundene Charakteristiken: Sie kämpfen erstens gegen eine Ungerechtigkeit oder ein hartes Schicksal real oder vermeintlich, sie haben zweitens keine Kraft — mehr — zur Gegenwehr und versuchen drittens, andere für ihren Kampf zu gewinnen.

Wenn die Opfer-Konjunktur anhält, stecken wir bald alle in einem aussichtslosen Widerstandskampf gegen irgendeine, durchaus auch reale, Ungerechtigkeit. Ob wir dann den Widerstand als problematische Einstellung erkennen werden, ist zweifelhaft. Lieber gehen wir im heldenhaften Widerstand unter, als uns eine andere Strategie auszudenken.

Es gibt auch eine simplere, empirische Sicht auf den Widerstand, die ebenfalls zu einem kritischen Urteil führt. In meiner öko-sozialen, spirituell-individualistischen Blase — das moderne Wort für „Umfeld“ — kämpfen viele bevorzugt gegen Ausbeutung, Umweltzerstörung, Globalisierung, Spießertum, Konsumismus, Elektrosmog, Willkür, Lobbyismus, Zentralismus und Entmenschlichung, gegen Kapital- und Großmachtinteressen, gegen Kriegstreiberei, Lügen und Dummköpfe, gegen Bürokratie, Ideologien und gegen eine lange Liste weiterer Zivilisationskrankheiten. In einigen Bereichen gibt es marginale Verbesserungen.

Unterm Strich ist das Ergebnis mehr oder weniger vernichtend: Der Widerstand gegen all diese Missstände hat unsere Kräfte aufgezehrt, aber kaum etwas gebracht, außer vielleicht die nicht zu verachtende Genugtuung, wenigstens etwas getan zu haben.

Aber tröstlich ist das nicht, es sei denn, wir kommen zu der Erkenntnis, dass es Zeit ist, die Strategie zu ändern. Es geht dabei nicht einfach darum, nachhaltiger Widerstand zu leisten, zwischendurch ein bisschen zu meditieren, sich besser zu vernetzen oder den Gegner zu respektieren. Es geht darum, die Idee des Widerstands grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen.

Wir sind uns alle einig, dass es eine Fülle unheilvoller, sogar hochdramatischer Entwicklungen gibt, die gestoppt oder neutralisiert werden müssen. Viele dieser Prozesse werden von etwas undurchsichtigen globalen Akteuren mit großer Kapitalausstattung und enormer Medienmacht vorangetrieben.

Der verbreitete Pessimismus hat gute Gründe und ist nicht nur das Ergebnis der Angstmacherei, mit der Weltpolitik, Energiepolitik, Gesundheitspolitik und überhaupt damit, wie Politik gemacht wird. Die Mutlosigkeit beschränkt sich auch nicht auf Menschen, die das Schöne und Gute nicht sehen können und überall Widrigkeiten ahnen.

Die Niedergeschlagenheit gründet in der diffusen Erkenntnis, dass es so nicht mehr weitergeht, wenn es so weitergeht, wie sich Erich Kästner ausgedrückt hat, und dass wir nicht wissen, wie es denn weitergehen könnte. Es fehlt angesichts der vielen miteinander verknüpften Schwierigkeiten an der großen Vision einer nächsten Welt.

Es ist also angezeigt, unseren Umgang mit diesem unheimlichen, zivilisatorischen Sog in das Verderben auf den Prüfstand zu stellen. Wer sich in seinem Kokon in schmerzfreier Sicherheit wähnt, braucht nicht weiterzulesen. Aber alle anderen sollten sich die Frage stellen:

Ist es sinnvoll oder gar Pflicht, gegen all das Unerwünschte oder Gefährliche Widerstand zu leisten? Er hat ja bis jetzt nicht das gewünschte Ergebnis erzielt. Wird die Welt gut, wenn wir das Schlechte bekämpfen? Die Geschichte liefert eine deutliche Antwort in der Gestalt von Saubermännern mit blutverschmierten Händen.

Ich möchte Ihnen ein paar Nachteile des Widerstands aufzählen:

  • Wer Widerstand leistet, spielt nicht sein eigenes Spiel, sondern das des Gegners. Da gibt es nichts zu gewinnen, höchstens eine Niederlage zu verhindern.
  • Im Widerstand ist man Gefangener des physikalischen Gesetzes „actio=reactio“ — Kraft erzeugt Gegenkraft. Während in der Physik die Systeme stabil sind beziehungsweise nach immer neuem Gleichgewicht suchen, schaukeln sich in der menschlichen Sphäre Kraft und Gegenkraft bis zur Erschöpfung hoch. Eskalation!
  • In Gruppen, die sich über den Widerstand definieren, spült es die Lauten, die Fiesen oder die Brachialen an die Spitze. Nochmals Eskalation!
  • Der Lärm des Streits übertönt die Friedfertigen und Liebevollen. Sie können die kritische Masse nicht erreichen.

Ich würde sagen: Das sind Gründe genug, über Alternativen zum Widerstand nachzudenken oder sich zu überlegen, wie Widerstand ohne Gegenkraft funktionieren könnte. Das ist natürlich ein Paradox. Aber alle großen Geheimnisse des Lebens sind paradox: Liebe bekommt, wer gibt; Freiheit hat, wer sie einschränkt; reich ist, wer nichts braucht. Widerstand ohne Gegenkraft scheint theoretisch also durchaus möglich. Und in der Praxis?

Wir alle haben Ziele, etwas, das unserem Leben Sinn gibt. Wir wollen etwas, das uns, unsere Nächsten, die Gruppe, das Land und meinetwegen die Menschheit weiterbringt, bereichert, glücklich macht.

Wer seinen Sinn entdeckt und ihm folgt, stößt unweigerlich auf Hindernisse, auf Widerstand. Wer dann nicht aufgibt und sich treu bleibt, überwindet den Widerstand — ohne Gegenkraft, sondern in der beharrlichen Verfolgung eines konstruktiven Ziels!

Er zermürbt sich nicht, denn der Sinn ist eine unerschöpfliche Kraftquelle, wie der Wiener Psychiater Viktor Frankl erfahren hat. Es war der Sinn, der ihn drei Konzentrationslager überleben ließ. Daraus entwickelte er die Logotherapie, von griechisch lógos, Sinn.

Die Therapie ist einfach: Finde deinen Sinn und bleib dir treu. Dann leistest du Widerstand ohne Gegenkraft, ohne es zu merken. Denn deine Kraft richtet sich nicht gegen etwas, sondern für das, was dir Sinn gibt im Leben. Und Sinn im Leben ist nicht ein Hobby, ein Vergnügen oder ein vergänglicher Besitz. Er ist das, was uns ganz zuletzt mit Befriedigung auf das Leben zurückblicken lässt, selbst wenn es nicht besonders „erfolgreich“ war.


Beispiele und Anregungen, wie Widerstand ohne Gegenkraft funktioniert, sind zu finden in der neusten Ausgabe des Zeitpunkt.

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