Kopflos in Europa

Emmanuel Macrons Absicht, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden, folgt der Logik der bisherigen westlichen Kriegspolitik — aber längst nicht alle wollen mitziehen.

Angesichts der russischen Erfolge in der Ukraine und des drohenden Wahlsiegs von Donald Trump in den USA spielen europäische Politiker verrückt. Emmanuel Macron faselt über Truppen für die Ukraine. CDU, Grüne und Liberale wollen weitreichende Marschflugkörper gegen Russland einsetzen. Immer neue Geldinfusionen sollen die Kampfkraft der Ukraine erhalten. Aber Geld und Waffen werden immer knapper, anscheinend auch der gesunde Menschenverstand.

Vergaloppiert

Was hat denn diesen Macron geritten? Geht mit ihm die Großmannssucht durch? Absolvent einer Eliteschule zu sein, scheint die beste Voraussetzung für Realitätsferne und Überheblichkeit. Es ist nicht klar und auch nicht zu erklären, was Macron dazu veranlasst hat, Russland mit dem Einsatz von europäischen Bodentruppen zu drohen. Doch schon früher hat er durch Vollmundigkeit von sich reden gemacht. Noch vor Jahren hielt er die NATO für „hirntot“.

Aber man muss ihm auch zugute halten, dass er als Vermittler auftrat, als die Spannungen mit Russland um die Ukraine wuchsen. Er scheute sich zudem nicht, sich der Kritik der anderen NATO-Partner auszusetzen, als er Ende 2022, also bereits während des Krieges, mahnte, Russlands Befürchtungen ernst zu nehmen, „dass die NATO an die Türen Russlands heranrückt, und die Stationierung von Waffen, die Russland bedrohen könnten“ (1).

Im Sommer 2023 warf Macron aus unerfindlichen Gründen die Rolle des Vermittlers über Bord. Zusammen mit Großbritannien lieferte er Marschflugkörpern (Scalp/Strom-Shadow) an die Ukraine. Diese haben die erhoffte strategische Wende nicht gebracht, sondern den Konflikt nur weiter verschärft. Nun also seine nächste Drehung an der Eskalationsschraube. „Macron von der Taube zum Falken“ (2) charakterisierte die Mailänder Zeitung Corriere della Sera den Auftritt des Franzosen.

Sehr kurzfristig hatte er die Führer der NATO-Staaten zu einer Konferenz nach Paris eingeladen. Denn Eile schien geboten. Seit Mitte Februar 2024 hatte sich mit dem Tod Nawalnys, dem Fall der ukrainischen Stadt Awdejewka und der laschen Münchner Sicherheitskonferenz die Lage der Gegner Russlands deutlich verschlechtert. Darauf musste reagiert werden, Ausblick musste gesucht, Hoffnung gefunden werden.

Aber ist es nicht vielleicht doch zu kurz gesprungen, Macrons Ankündigung über die Aufstellung von NATO-Bodentruppen für die Ukraine alleine auf seine „offensichtliche Lust an intellektuellen Provokationen“ (3) zurückzuführen? Ist es wahrscheinlich, dass nach stundenlangen gemeinsamen Diskussionen Macron ans Mikrofon tritt und eine Ankündigung macht, die nicht auch Thema bei den Gesprächen der Pariser Konferenz gewesen sein soll?

Angesichts der katastrophalen Entwicklung in der Ukraine ist seine Forderung nach Kampftruppen aus NATO-Staaten nachvollziehbar.

Dass Macron diese Überlegungen öffentlich machte, war sicher nicht auf Eigenmächtigkeit zurückzuführen oder eine plötzliche Eingebung, die vollkommen losgelöst war vom Verlauf der Diskussionen in Paris. Vermutlich sind die Überlegungen bezüglich der Truppenstellungen schon weiter vorangeschritten, als die Öffentlichkeit erfahren soll.

Aufgesetzte Siegesgewissheit

Die Lage der Ukraine und ihrer westlichen Unterstützer ist ernst. Die anfängliche Solidarität der europäischen Völker ist weitestgehend verflogen. Eine Umfrage des Ipsos-Instituts hat unlängst ergeben: Nur jeder „vierte Deutsche glaubt, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland noch gewinnen kann [und nur noch] zwei von fünf Deutschen befürworten weitere Waffenlieferungen“ (4). Abschließend stellt die Untersuchung fest: „Die Kriegsmüdigkeit unter den Deutschen lässt sich nicht mehr leugnen“ (5).

In den meisten Ländern des politischen Westens sieht es nicht besser aus. Besonders beim bisher größten Geld- und Waffensteller, den USA, lässt die Bereitschaft nach, die Ukraine weiterhin zu unterstützen. Und sollte Trump die Wahlen am Ende dieses Jahres gewinnen, rechnen die meisten Beobachter damit, dass die USA sich noch weiter aus dem Konflikt zurückziehen. Die Europäer sehen sich zunehmend in der Lage, die Kosten und Lasten für die Unterstützung der Ukraine alleine tragen zu müssen.

Angesichts der bereits erwähnten Kriegsmüdigkeit der Völker, der Schwierigkeiten in der Waffen- und Munitionsbeschaffung, aber auch der zunehmenden finanziellen Sorgen der Bündnis-Staaten scheint nun Eile geboten. So lagen für die Pariser Konferenz zwei Aufträge vor:

„Der Schwarzmalerei müsse entgegengewirkt werden. Das Gefühl der Unterlegenheit und die Neigung zu defätistischen Szenarien in Europa sollten entschlossen bekämpft werden“ (6).

Zudem sollte von ihr „ein klares Signal an Wladimir Putin ausgehen. Den Krieg könne Russland nicht gewinnen, [denn] Europa habe alle Möglichkeiten, der Ukraine zum Sieg zu verhelfen“ (7). Das ist die Fortsetzung der bisherigen Realitätsferne, durch die sich der politische Westen in der letzten Zeit ausgezeichnet hatte. Denn alle bisher eingesetzten Möglichkeiten hatten nicht den vorausgesagten Erfolg gebracht, selbst als die USA noch volle Taschen hatten.

Köpfe leer, Hosen voll

Den Verlautbarungen der Pariser Konferenz zufolge waren zwar keine konkreten Beschlüsse geplant gewesen, wohl aber „ein europäischer Schulterschluss, um Putin zu zeigen, dass er sich keine Illusionen machen sollte. Es gebe keine Kriegsmüdigkeit in Europa, sondern eine starke Entschlossenheit, die Ukraine zu unterstützen“ (8). Die Umfrageergebnisse des Ipsos-Instituts über die nachlassende Unterstützung des Krieges dürften den Vertretern der versammelten NATO-Staaten bekannt gewesen sein. Dennoch scheinen sie, ihre Beurteilung der Lage nicht beeinflusst zu haben.

Dass sie sich trotzdem zu solchen beschönigenden Aussagen hinreißen lassen, die im Widerspruch stehen zu den Fakten, macht deutlich, dass im Denken des politischen Westens die Tatsachen eine immer geringere Rolle spielen.

Das Denken der westlichen Führer und Meinungsmacher ist bestimmt von gefälligen Theorien, eigenen Fantasien und Wunschträumen, nicht aber von der Anerkennung der Tatsachen. Die eigenen Hirngespinste bestimmen die Beurteilung der Lage. In Paris sollten gegenseitiges Schulterklopfen und die Schönfärberei der Lage für Aufbruch sorgen.

Doch die vermittelte Zuversicht wirkt aufgesetzt.

Wie man in diesem Falle die eigenen Möglichkeiten völlig falsch einschätzt, so unterschätzt man auf der anderen Seite die drohenden Gefahren. Das mediale Lauffeuer, dass Russland andere NATO-Staaten angreifen will, wenn es die Ukraine besiegt hat, beruht auf eben derselben Selbsttäuschung wie die Pariser Kraftmeierei. Die vorgetragenen Bedrohungsszenarien sind Ergebnis derselben Realitätsverweigerung wie die Vorstellung, dass die Ukraine in der Lage ist, den Krieg zu gewinnen, und dass Russland ihn verlieren muss.

All dieses Denken ist Ausfluss von Selbsttäuschung und Selbstüberschätzung in Bezug auf eine Wirklichkeit, die man ablehnt, weil man sie nicht wahr haben will. Doch je öfter man die Auseinandersetzung mit ihr verweigert, um so mehr schwindet die Fähigkeit, die Zustände und Entwicklungen in der Welt sachgerecht zu analysieren. Das Wunschdenken wird zur Grundlage von Beurteilungen, Aufrufe und Aufforderungen werden zu Handlungsanleitungen, Moral und Werteorientierung zum Kompass.

Die Führungskräfte des politischen Westens sind getrieben von der Vorstellung der eigenen Überlegenheit. Diese hatte ihre Grundlagen in seiner Jahrzehnte langen technologischen, wirtschaftlichen und militärischen Vormachtstellung. Zu seinen Vertretern scheint aber nicht durchgedrungen zu sein, dass die Welt sich gedreht hat. China ist technologisch und wirtschaftlich zumindest ebenbürtig, Russland militärisch in vielen Bereichen sogar überlegen.

Nur widerwillig nehmen sie wahr, dass das eigene Überlegenheitsgefühl keine Grundlagen mehr hat. Jetzt, da man die Augen immer weniger davor verschließen kann, wissen sie nicht, wie diese Entwicklung aufzuhalten wäre.

Sie versuchen es mit den altbekannten Methoden, indem sie Völker oder gesellschaftlichen Gruppen aufwiegeln, Sanktionen verhängen oder militärische Gewalt androhen und anwenden. Da diese Mittel aber immer weniger Erfolg haben, was Russlands Vormarsch offenlegt, bricht kopflose Panik aus, gepaart mit trotziger Uneinsichtigkeit.

Brüchiger Schulterschluss

Macrons eilig einberufene Konferenz ist der Versuch, die Scherben zusammenzukehren, die die Ereignisse der letzten Wochen hinterlassen haben. Wiederholt hat er in jüngster Zeit Russland als Bedrohung für Frankreich dargestellt, obwohl zwischen den beiden Ländern noch mehrere Staaten liegen und Hunderte von Kilometern. Es scheint ihm — wie auch seinen Kollegen aus den anderen NATO-Staaten — gar nicht bewusst zu sein, dass man seinerseits die Bedrohung für Russlands Sicherheit nicht akzeptieren wollte, obwohl die Armeen des Westens direkt an dessen Grenzen stehen.

Wie sollen die Europäer jetzt mit dieser in ihren Augen bedrohlichen Lage umgehen? Die Amerikaner sind fein raus, sie fühlen sich auf der anderen Seite des Atlantiks sicher, zumindest vor den russischen Bodentruppen. Wenn sie auch viel Material geliefert hatten, so war es doch qualitativ wenig im Vergleich zu dem, was Russland als Überschreiten seiner roten Linien ansehen konnte. Deshalb hat die USA die Europäer ermuntert, Panzer, Marschflugkörper und die in Aussicht gestellten F-16-Maschinen zu liefern, sich selbst aber damit zurückgehalten. Dennoch konnten diese gewaltigen Mengen an Material die Ukraine nicht ihrem Kriegsziel näherbringen, der Wiederherstellung des Staatsgebietes in den Grenzen von 1991.

Während die westlichen Arsenale sich leeren und die Industrie nicht mit der Produktion von Waffen und Munition hinterherkommt, feuern Russlands Waffenschmieden aus allen Rohren. Aber nicht nur die Lage des Nachschubs ist katastrophal, auch der Blutzoll ist gewaltig, den die Soldaten der Ukraine zahlen. Zwar sollen nach Selenskyjs neuesten Daten nur 31.000 Ukrainer gefallen sein, wie aber erklärt sich dann der Personalmangel der Armee. Wieso fordert die Ukraine dann die europäischen Staaten auf, die geflüchteten wehrfähigen Männer zurück in den Krieg zu schicken, wenn doch die Verluste so gering sind? Es wäre schön für die ukrainischen Soldaten, wenn es so wäre.

Angesichts des Aderlasses der ukrainischen Armee und der Wirkungslosigkeit der bisherigen ukrainischen Kriegsführung ist die Überlegung Macrons in sich schlüssig, NATO-Bodentruppen in die Ukraine zu schicken. Dafür spricht auch die bisherige Dynamik des Krieges und des westlichen Engagements.

Zu Recht verweist Macron darauf, dass man erst die Lieferung von Panzern abgelehnt hatte, dann aber doch lieferte. Dann ging es um die Raketen, später um Kampfflugzeuge, die man erst sich scheute, zur Verfügung zu stellen, es dann aber doch tat. Die Überlegungen zur Entsendung eigener Bodentruppen ist nur der nächste folgerichtige Schritt in dieser Konfrontationslogik.

Den gewünschten oder beabsichtigten Schulterschluss haben diese Diskussionen aber nicht gebracht, zumindest fürs Erste nicht. Denn mittlerweile hagelt es Absagen aus allen wichtigen NATO-Staaten. Selbst jene, die sich bisher als die aggressivsten Kriegstreiber hervorgetan haben wie die Polen und Briten, haben postwendend diesen Plänen eine Absage erteilt. Verwunderlich sind diese Reaktionen, denn schließlich haben die Vertreter genau jener Staaten in Paris mitdiskutiert, die jetzt so überrascht tun. Haben sie geschlafen und sind nun erst erwacht oder lag es eher daran, dass diese Pläne früher als vorgesehen an die Öffentlichkeit kamen?

Die Lage der NATO als Bündnis ist dadurch nicht besser geworden. Es wachsen die Spannungen zwischen jenen, die das Vorhaben befürworten, und jenen, die einer Entsendung eigener Soldaten ablehnend gegenüberstehen. Einen Ausweg aus einer drohenden Spaltung bieten die bilateralen Sicherheitsabkommen, die in den letzten Wochen zwischen einzelnen NATO-Mitgliedern und der Ukraine abgeschlossen worden waren. Diese würden es jetzt ermöglich, dass einzelne NATO-Staaten nun eigene Bodentruppen in die Ukraine schicken könnten, ohne dass das Bündnis insgesamt damit zur Kriegspartei würde.

Staaten wie die USA oder auch Deutschland, die keine Kampftruppen stellen wollen, wären dann nicht zur Bündnistreue im Falle einer russischen Reaktion verpflichtet. Vielleicht liegt gerade darin der Sinn dieser bilateralen Abkommen, dass mit ihnen der Weg frei gemacht wird für den Einsatz westlicher Bodentruppen unter der Schwelle der Beistandspflicht. Unter diesen Umständen würden die beidseitigen Abkommen Sinn machen, der ansonsten bisher nicht zu erkennen war.