Kontrollverlust in Nordafrika
Russland baut sein Engagement in Libyen aus — die USA haben das Nachsehen.
2011 gelang den USA in Libyen ein Regime Change, das langjährige Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi wurde getötet. Seither ist die Lage im Land chaotisch. Verschiedene Kräfte versuchen, in das relative Machtvakuum vorzustoßen, darunter wiederum westliche Staaten, die selbst dazu beigetragen haben, dass es zu der desaströsen Lage in dem nordafrikanischen Land kam. Konsequent versucht der Westen seit Langem, Russland jeden Stützpunkt am Mittelmeer zu verwehren. So ist der in Afrika zunehmend glücklos agierenden Weltmacht auch das in jüngerer Zeit erfolgreiche Engagement Russlands in Libyen ein Dorn im Auge. Diesmal allerdings sieht es so aus, als wollten sich weder die von westlicher Doppelzüngigkeit tief enttäuschte russische Führung noch die neuen libyschen Machthaber erneut über den Tisch ziehen lassen. Ein kurzer und hilfreicher Überblick über die jüngere Geschichte des Landes zeigt dieses als Schauplatz eines andauernden kalten Stellvertreterkriegs zwischen Ost und West.
2011: Die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über die Resolution 1973
Zum Verständnis dafür, wie es Russland gelingen konnte, zu der starken Macht in Libyen zu werden, die es heute darstellt, ist ein Rückblick in das Jahr 2011 hilfreich.
Der UN-Sicherheitsrat stimmte am 17. März 2011 über die Resolution 1973 ab, die die Mitgliedsstaaten ermächtigte, eine Flugverbotszone über Libyen einzurichten und „alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen“, um die Zivilbevölkerung zu schützen (1). Schon wenige Stunden nach Verabschiedung der UN-Resolution bombardierten Frankreich und Großbritannien massiv Bodenziele wie Kasernen und Militärkonvois. Das UN-Mandat wurde weit überdehnt und zu einem Regime Change ausgeweitet.
Sowohl China als auch Russland hatten bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat kein Veto eingelegt, sondern sich der Stimme enthalten, so dass die verhängnisvolle Resolution 1973 angenommen wurde. Vielleicht hatte sich Russland darauf verlassen, dass die Resolution auch bei seiner Enthaltung keine Mehrheit bekommen würde, da mindestens zehn Länder dafür stimmen mussten. Doch das Zehnervotum wurde erreicht, da auch drei afrikanische Länder — Nigeria, Gabun und überraschenderweise Südafrika— mit Ja stimmten. Der damalige Präsident Südafrikas hieß Jacob Zuma. Enthalten hatten sich neben China und Russland auch Brasilien und Deutschland.
Es heißt, die UN-Resolution 1973 sei in der US-amerikanischen Administration höchst umstritten gewesen, doch habe sich die damalige Außenministerin Hillary Clinton mit ihrem strikten Anti-Gaddafi-Kurs und Wunsch nach einem Regime Change durchgesetzt. Vielleicht wurde aber auch nur das alte Spielchen „Good cop, bad cop“ zwischen Obama und Clinton gespielt.
Vielleicht gab es aber im Vorfeld auch Absprachen zwischen den USA und Russland, von denen sich das damals noch geschwächte Russland Vorteile versprach. Libyen war bis 2011 ein bedeutendes Mitglied der blockfreien Länder gewesen, stets auf seine Souveränität und Unabhängigkeit bedacht. Allerdings hatte Libyen einen Großteil seines Waffenarsenals aus der ehemaligen Sowjetunion bezogen, und dementsprechend erfolgte auch die Ausbildung seiner Militärangehörigen durch Russland. Nach dem Zusammenbruch der UdSSR im Jahr 1991 war Russland militärisch wie wirtschaftlich so geschwächt, dass es weder seinen ehemaligen Verbündeten noch den Blockfreien Schutz bieten konnte. Libyen wiederum verstärkte – trotz wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit China und Russland – die Hinwendung zu den USA, gerade im Bereich der Abwehr von al-Kaida und anderen radikal-islamistischen Gruppierungen.
Präsident Medwedew und die USA
Im Jahr 2011 hieß der russische Präsident nicht Wladimir Putin, sondern Dmitri Medwedew. Medwedew pflegte ein freundschaftliches Verhältnis zu den USA, insbesondere zum damaligen Präsidenten Barack Obama. Eine Zeitung titelte im Juni 2010 über ein Treffen in Washington: „Obama und Medwedew besiegeln den erfolgreichen 'Reset' ihrer Beziehung mit Burgern und Pommes“, dazu ein Foto, das beide beim herzhaften Biss in einen Burger zeigt (2). Zusammenarbeiten wollte man bei einem Atomwaffenkontrollabkommen, bei Sanktionen gegen den Iran sowie in Sicherheitsfragen und bei der Terrorismusbekämpfung. Medwedew wurden Versprechen über Versprechen gemacht. Ein „Deal“ zwischen den USA und Russland hinsichtlich der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat und des Umgangs mit Libyen wäre ein Jahr später also durchaus denkbar gewesen.
Es leuchtet ein, warum ausgerechnet Dmitri Medwedew heute zu den schärfsten Gegnern der USA zählt. Kaum jemand dürfte sich nach NATO-Ost-Erweiterung, Russland-Einkreisung und anderen geopolitischen Zumutungen so wie Medwedjew von den USA verschaukelt fühlen.
Sollte Russland tatsächlich geglaubt haben, die USA ließe es auf der weltpolitischen Bühne mitspielen? Das wäre mehr als naiv gewesen. Genauso naiv wie von den USA, anzunehmen, Russland ließe sich auf den Rang einer Regionalmacht herabstufen. Ausgerechnet Obama war es, der Russland öffentlich demütigte und als Regionalmacht verhöhnte (3), nachdem von den USA 2014 der Maidan-Putsch in Kiew orchestriert worden war und Russland sich daraufhin die Krim zurückholte, immerhin Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte.
Chaos in Libyen, versuchter Regime Change in Syrien und Maidan-Putsch in der Ukraine
Libyen hatte es geschafft, bis Oktober 2011 gegen die übermächtige NATO durchzuhalten, doch mit der Ermordung von Oberst Gaddafi am 20. Oktober war der Widerstand gebrochen. Libyen war durch NATO-Bombardements und radikal-islamistische Gruppen in einen Failed State verwandelt worden. Unverzüglich gingen die USA nun dazu über, Waffen aus libyschen Militärbeständen mit Hilfe der Türkei nach Syrien zu verschiffen, um dort die von ihnen unterstützten radikal-islamistischen Kämpfer gegen die Assad-Regierung aufzurüsten. Darin verstrickt war der US-amerikanische Botschafter in Libyen, Chris Stevens, der im Juni 2012 in Bengasi beim Angriff einer al-Kaida-Gruppe ermordet wurde.
Tatsächlich hatte es sich bei dem sogenannten „Konsulat“ in Bengasi nicht um eine diplomatische Vertretung gehandelt, sondern um einen geheimen Außenposten der CIA. Es wurde gemunkelt, bei dem Angriff auf das Konsulat habe auch die CIA die Finger mit im Spiel gehabt, um einen unliebsamen Mitwisser auszuschalten. Bis heute konnten die genauen Vorgänge um „Bengasi Gate“ nicht aufgeklärt werden (4).
Der versuchte Regime Change in Syrien, für den die libyschen Waffen benötigt wurden, muss vor allem als gegen Moskau gerichtet verstanden werden. Russland betreibt im syrischen Tartus seinen bisher einzigen Militärstützpunkt im Mittelmeerraum.
Mit dem Fall von Assad und dem Aufstieg der Moslembrüder hätte Russland diesen Stützpunkt verloren und wäre aus dem Mittelmeer verdrängt gewesen. Wenig später, 2014, versuchten die USA, Russland auch den Stützpunkt seiner Schwarzmeerflotte auf der Krim-Halbinsel zu entreißen, indem sie versuchten, die Ukraine mit Hilfe der Europäischen Union in die westliche Militärstruktur einzubinden. Heute gelten beide Versuche als gescheitert.
Khalifa Haftar — Washingtons Mann in Libyen
2012 wurden die ersten Wahlen in Libyen abgehalten. Obwohl die säkularen Kräfte gewannen, erstarkten islamistische Milizen, die nicht bereit waren, ihre Macht abzugeben. Als bei den zweiten Wahlen im Jahr 2014 bei einer Wahlbeteiligung von unter 15 Prozent die radikal-islamistischen Kräfte und die Moslembruderschaft gnadenlos untergingen, war dies der Beginn eines Bürgerkriegs, bei der es die USA von Anfang an auf eine Teilung des Landes abgesehen hatten, nach dem alten Motto „Spalte und herrsche“.
Hier kommt nun Khalifa Haftar, CIA-Mann und schillernde Politfigur mit US-amerikanischem Pass, ins Spiel. Der heute über 80-jährige Haftar fiel 1987 von Oberst Gaddafi ab und lebte unter den Fittichen der CIA in den USA. Von dort kam er 2011 zurück, um sich dem Kampf gegen die Dschamahirija-Regierung anzuschließen. Haftar verkörperte den säkularen Teil der von der Moslembruderschaft und al-Kaida beherrschten Aufstandsbewegung und orchestrierte von Anfang an die Spaltung Libyens.
2014 gründete Haftar einen Milizenzusammenschluss namens „Würde“, der sich in Tripolis gegen den Milizenzusammenschluss der Moslembrüder und Dschihadisten mit dem Namen „Morgenröte“ in und um Tripolis schwere Kämpfe lieferte. Haftar und seine „Würde“ unterlagen, flohen mitsamt neu gewähltem Parlament in den Osten des Landes und überließen den Westen samt der Hauptstadt Tripolis den Moslembrüdern, die bis heute die von der „internationalen Gemeinschaft“ unterstützte Regierung bilden. Die Spaltung in einen Ost- und Westteil war vorläufig vollzogen.
Haftar baute im östlichen Libyen die Libysche Nationalarmee (LNA) auf, die er mit russischer Hilfe bewaffnete und ausbildete und so eine Gegenmacht zu den Milizen im westlichen Libyen schuf. Haftar reiste auch zu Gesprächen nach Moskau und traf sich mit russischen Militärs. Kaum denkbar, dass dies alles nicht in Absprache mit den USA geschah. Auf den Militärstützpunkten im östlichen Libyen waren zu allen Zeiten auch französische und US-amerikanische Militärs anwesend.
2019 marschierte Haftar mit seiner LNA gen Tripolis. Als das NATO-Mitglied Türkei auf Seiten der Tripolis-Regierung massiv in die Kämpfe eingriff und Haftars Marsch stoppte, zog dieser seine Truppen zurück und ein Waffenstillstand wurde geschlossen. Heute sind auf den im westlichen Libyen gelegenen Stützpunkten türkische, US-amerikanische, aber auch italienische Militärs stationiert.
Von der Wagner-Gruppe zum russischen Afrikacorps
Militärische Unterstützung bezog Haftar neben Frankreich und Ägypten auch von dem privaten russischen Militärunternehmen Wagner, das unter anderem für die Sicherung der Erdölanlagen in der libyschen Sahara zuständig war. Es galt zu verhindern, dass diese in die Hände radikal-islamistischer Gruppen wie dem IS oder al-Kaida fielen, die vormals von CIA und MI6 ausgebildet und bewaffnet worden waren und nun munter ihr Unwesen in Libyen trieben.
Es ist wahrscheinlich nicht zu weit hergeholt, dass die USA versuchten, den ehrgeizigen, an Macht und Geld interessierten und bei der russischen Bevölkerung wegen der in der Ukraine bewiesenen Kampfeskraft beliebten Führer der Wagner-Gruppe, Jewgeni Prigoschin, auf ihre Seite zu ziehen.
Wie auch immer, im Juni 2023 versuchte Prigoschin mit seiner Gruppe einen gescheiterten Marsch auf Moskau, für den er zwei Monate später bei einer Flugzeugexplosion mit dem Leben bezahlte.
Die in Afrika im Einsatz befindlichen Wagner-Kämpfer wurden anschließend dem russischen Verteidigungsministerium unterstellt und sind jetzt als sogenanntes Afrikacorps in Libyen und anderen afrikanischen Staaten aktiv.
Blöd gelaufen für die USA
Heute ist es der dringlichste Wunsch der USA, Moskau aus Libyen zu verdrängen, von wo aus es die vom Westen abgefallenen Sahelstaaten — Mali, Burkina Faso, Niger und neuerdings den Tschad — auch militärisch unterstützt. Wer im Sudan, der ebenso wie Niger und Tschad im Süden an Libyen angrenzt, die Oberhand gewinnt, oder ob es auf eine Spaltung des Sudan hinausläuft, wird gerade noch auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgekämpft.
Russland ist bestrebt, im östlichen Libyen bei Tobruk seinen zweiten Mittelmeerstützpunkt — neben dem syrischen Tartus — zu errichten, um von dort aus Militär- und Hilfsgüter in die Sahelzone und nach Afrika zu liefern und seine geostrategischen Vorteile auszubauen. Russland liefert an Libyen auch raffinierte Erdölprodukte, nachdem die libyschen Raffinerien wegen mangelnder Instandhaltung nicht mehr einsatzfähig sind. Allerdings wird weit mehr an Kraftstoffen geliefert, als in Libyen verbraucht werden können und wo merkwürdigerweise ständig Treibstoffmangel herrscht. Die von Russland nach Libyen importierten Treibstoffe dürften also auf anderen Wegen nach Europa und anderswohin geschmuggelt werden. Auch druckt Russland für das östliche Libyen Geldscheine, die ihren Weg auf den Schwarzmarkt finden (5).
Anstatt dass es den USA gelang, seine Weltmacht weiter auszubauen und Russland von der Krim/Schwarzes Meer und aus Syrien/Mittelmeer zu verdrängen, konnte sich Russland behaupten und könnte sogar in Libyen Tobruk und in der Ukraine Odessa als neue Militärstützpunkte hinzugewinnen. Mitleid mit den USA ist an dieser Stelle nicht angebracht, denn die Möchtegern-Alleinweltmacht hat sich diese Suppe, die sie nun nicht imstande ist auszulöffeln, selbst eingebrockt, versalzen mit abertausenden Toten in verwüsteten Ländern.
Gaddafi als Garant für ein souveränes Libyen
Schon vor einigen Monaten haben sich die beiden aktuellen libyschen Machthaber von Washingtons Gnaden, der LNA-Kommandant Khalifa Haftar aus dem östlichen Libyen und der von der „internationalen Gemeinschaft“ anerkannte Tripolis-Regent Abdul Hamid Dabaiba, zusammengeschlossen.
Nachdem den USA klargeworden sein dürfte, dass keiner ihrer beiden Favoriten — die USA sind besonders geschickt darin, beide Seiten eines Konflikts zu bespielen — die Chance hat, sich in Libyen als Präsident durchzusetzen, und auch die Spaltung Libyens in einen Ost-, West- und Südteil wegen wechselnder, kreuz und quer gehender Allianzen nicht geklappt hat, wird nun versucht, die beiden bisher gegnerischen Militärs im östlichen Bengasi und westlichen Tripolis mit Haftars und Dabaibas Hilfe zu vereinen. Ziel: den Einfluss von Russland, das gerade seine Botschaft in der Hauptstadt Tripolis wiedereröffnet hat, zu minimieren und sein militärisches Engagement zu beenden. Blöd nur, dass etliche libysche Milizen nicht mitspielen und den Politakteuren zunehmend die Kontrolle entgleitet, sollten sie sie jemals gehabt haben.
Russland aus Libyen zu verdrängen und die NATO als alleinige Macht zu installieren, dürfte weit außerhalb der US-amerikanischen Möglichkeiten liegen. Unter diesen Umständen könnten die USA sogar bereit sein, eine richtig fette Kröte zu schlucken und zu versuchen, zum Status quo zurückzukehren.
Mit Hilfe der UNO könnten die USA Wahlen in Libyen ermöglichen und den Sohn des 2011 ermordeten Muammar al-Gaddafi, Saif al-Islam al-Gaddafi, als Präsidentschaftskandidaten akzeptieren. Sollte, wie alle Meinungsumfragen vorhersagen, Saif al-Islam al-Gaddafi als Sieger und neuer Präsident Libyens aus den Wahlen hervorgehen, wäre es seine Aufgabe, alle ausländischen Militärmächte aus dem Land, das nach Souveränität und Unabhängigkeit strebt, zu entfernen. Eine eigene größere geopolitische Rolle, vor allem in Afrika und innerhalb einer blockfreien Bewegung, könnte Libyen so schnell nicht wieder spielen, gälte es doch, zuerst das am Boden liegende Libyen wiederaufzubauen.