Konflikt im Kaukasus
Im Schatten des Ukrainekrieges flammt eine alte Krise wieder auf, die auch Deutschland betrifft.
Die Augen der Welt richten sich derzeit auf die Ukraine, wo der Krieg nach über sechs Monaten noch immer wütet. Dabei werden andere keineswegs unbedeutende Ereignisse von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Ein solches Ereignis ist das neuerliche Entflammen eines alten Konfliktherdes: die Feindschaft zwischen Armenien und Aserbaidschan. Zwischen den beiden Nachbarländern kam es in den letzten Wochen zu kriegerischen Kampfhandlungen. Die Weltpresse nahm wenig Notiz davon. Das Ganze soll zur irrelevanten Provinzposse heruntergespielt werden. Dabei nimmt man, wenn man tiefer gräbt, ähnliche Konfliktlinien wahr wie im Russland-Ukraine-Krieg: Es geht um Bodenschätze, unter anderem das wertvolle Erdgas. Und um das Bemühen der USA, den Einfluss Russlands auch auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zurückzudrängen.
Während die Welt sich mit dem Krieg in der Ukraine beschäftigt und die Analysten auf beiden Seiten die neuerlichen Geländegewinne der Ukraine wahlweise als großen Sieg, als Wende des Krieges feiern oder als „bedeutungslos“ herunterspielen, während die NATO in Ramstein neue Waffenlieferungen beschließt und immer neue Gelder in die Ukraine schickt, während alle westlichen Staaten über „Scheinreferenden“ urteilen, die sie unter keinen Umständen anerkennen wollen, steht auch im Rest der Welt die Geschichte nicht still.
Im Gegenteil, im Schatten des Ukrainekrieges entfachen eine ganze Reihe an Brandherden erneut. Das gilt für Moldawien, das die abtrünnige Provinz Transnistrien unter Wirtschaftsblockaden setzt und wo eine Reihe von Anschlägen stattfand, die mutmaßlich aus ukrainischen Geheimdienstkreisen heraus organisiert worden sind. Das gilt ebenso für den Konflikt zwischen Serbien und Kosovo, der in jüngster Zeit wieder hochkochte. Hintergrund war der anstehende Beschluss Kosovos, serbischen Bürgern und Fahrzeugen die eigenen Ausweise und Nummernschilder aufzunötigen, wenn sie in jenes Gebiet einreisen wollen, das Serbien nach wie vor als Teil des eigenen Staatsgebietes betrachtet.
Ein alter Konflikt
Nun hat auch Aserbaidschan die Gunst der Stunde genutzt und den langjährigen Erzfeind Armenien angegriffen. In der Nacht zum 13. September kam es zu schweren Kämpfen zwischen beiden Ländern, bei denen über hundert Menschen getötet wurden. Mittlerweile kursieren auch Aufnahmen von Drohnenangriffen seitens Aserbaidschans auf Armenien. Das Besondere dabei: In der Vergangenheit haben sich die Konflikte zwischen den beiden Staaten in der Regel auf die unabhängige Republik Bergkarabach beschränkt, die mehrheitlich von Armeniern bewohnt wird, wohingegen das politische Baku, die Hauptstadt Aserbaidschans, dieses Gebiet zu großen Teilen als eigenes Staatsgebiet ansieht. Nun hat Aserbaidschan jedoch direkt das Kernland Armeniens attackiert.
Die beiden Kriegsparteien sind dabei keine gleichberechtigten Kontrahenten. Die Militärausgaben Aserbaidschans übersteigen die von Armenien erheblich. So haben Erstere in jüngster Zeit beinahe die Höhe des gesamtem armenischen Staatshaushaltes erreicht. Auch qualitativ verfügt Aserbaidschan über die bessere Ausstattung: Moderne Technologien bis hin zu aus der Türkei gelieferten Drohnen stehen dort den veralteten Waffensystemen Armeniens gegenüber.
Wer die Eskalation begonnen hat, ist bislang unklar. Armenische Soldaten berichteten in der Nacht zum 13. September 2022 vom Versuch der aserbaidschanischen Soldaten, auf armenisches Gebiet vorzudringen. Baku hingegen beschuldigte die armenische Seite der Sabotage, welche die Kämpfe ausgelöst hätte. Die armenische Version wird jedoch dadurch gestützt, dass Aserbaidschan einige Dörfer hinter der Konfliktlinie direkt attackiert hat. Noch in dieser Nacht hat der armenische Premierminister Nikol Paschinjan mit Wladimir Putin telefoniert, um Unterstützung zu erhalten. Ebenso sprach er mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron sowie US-Außenminister Antony Blinken. Die armenische Regierung hat zudem die militärische „Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit“ (OVKS) um Unterstützung bei der Wiederherstellung des Waffenstillstandes gebeten. Eine Mission der OVKS erreichte Armenien am 15. September.
Wer auch immer verantwortlich ist, der Krieg kommt für Aserbaidschan zu einem günstigen Zeitpunkt:
Gerade wird das Land von der EU hofiert, da sich die hiesigen Staatschefs Erdgaslieferungen erhoffen, die das russische Erdgas, auf das man so vollmundig zu verzichten angekündigt hat, ersetzen sollen.
Erst am 18. Juli unterzeichnete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in Baku eine Vereinbarung, derzufolge die EU ihren Erdgasimport aus Aserbaidschan von 8,1 Milliarden Kubikmetern im Jahr 2021 auf 20 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2027 steigern soll.
Sie erklärte Aserbaidschan zu einem verlässlichen und vertrauenswürdigen Partner und zielte dabei auf Russland. Die Kritik der EU an Aserbaidschans Kriegsbeteiligung bleibt dann auch eher verhalten. Man zeige sich besorgt und fordere die sofortige Einstellung der Kampfhandlungen, wurde an beide Seiten gleichermaßen verlautbart. Dass Aserbaidschan im Jahr 2020 bereits einen Krieg gegen Armenien um die Region Bergkarabach begonnen hatte, spielt dann auch keinerlei Rolle. Dabei will man doch das russische Gas vorgeblich deshalb nicht, weil es den Krieg in der Ukraine finanzieren würde.
Geopolitische Verflechtungen
Russland, die angebliche traditionelle Schutzmacht Armeniens, ist mit diesem Krieg derzeit ausgelastet. Gerade erst hat es dort eine Niederlage erlitten und musste sich aus einem Teil der eroberten Gebiete zurückziehen, die eigenen Truppen „umgruppieren“. Während die Augen der Welt auf diesen Konflikt gerichtet sind, hat Baku relativ leichtes Spiel. Dennoch war es erneut Russland, das, wie schon zuvor, einen Waffenstillstand herbeigeführt hat. Denn russische Friedenstruppen sichern an vielen Stellen die Konfliktlinie zwischen den beiden Ländern.
Nach den schweren Kämpfen um Bergkarabach im Jahr 2020 und innenpolitischen Problemen befindet sich Armenien zudem in einer schwächeren Position als noch vor zwei Jahren. Unterstützt wird Aserbaidschan schon seit Jahren von der Türkei, die wiederum schwierige Beziehungen zu Armenien pflegt. Denn das postsowjetische Armenien kann als Schutzraum für Armenier betrachtet werden, ein Volk, das in der Türkei nicht gerne gesehen ist.
Doch gerade auf die Türkei ist auch Russland im Ukrainekrieg angewiesen. Sie ist es, die immer wieder zwischen den Konfliktparteien vermittelt. So wurde beispielsweise in Istanbul das Getreideabkommen ausgehandelt, das seither von der Türkei überwacht wird. Um die Beziehungen mit Erdoğan nicht zu gefährden, könnte Putin im Konflikt im Kaukasus daher zur Zurückhaltung gezwungen sein. Die Türkei hat damit freie Hand, Aserbaidschan gegen Armenien in Stellung zu bringen und den alten Konflikt zu nutzen, um neue Machtverhältnisse in der Region zu schaffen. Passenderweise warf auch die Türkei Armenien vor, die Kämpfe provoziert zu haben.
Eine angespannte Lage
Am 14. September 2022 wurde ein weiterer Waffenstillstand beschlossen, nachdem der am Tag zuvor durch Russland vermittelte schnell gebrochen worden war. Doch auch dieser hielt nur bis Ende des Monats, dann entflammten neuerliche Kämpfe. Mittlerweile haben beide Seiten sich erstmalig seit Jahrzehnten zu Friedensverhandlungen getroffen. Denn offiziell befinden sich beide Länder seit dem ersten Konflikt um Bergkarabach in den 1990er Jahren im Krieg. Nun scheint erstmals ein Interesse zu bestehen, die verfahrene Situation am Verhandlungstisch zu klären und einen beidseitigen Truppenabzug zu vereinbaren. Auch über eine Freilassung von Gefangenen und einen Mechanismus zur Grenzsicherung wird gesprochen.
Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan steht auch intern unter Druck. Noch am Abend des 14. September gab es große Proteste, die seinen Rücktritt forderten. Die Armenier beschuldigen ihn, das Land zu verraten, indem er eine Appeasement-Politik mit Aserbaidschan betreibe. Schon nach Beendigung des Bergkarabach-Konflikts im Jahr 2020, in dessen Verlauf Aserbaidschan große Teile des Gebietes erobert hatte, waren Tausende Menschen in Armenien auf die Straße gegangen, weil sie der Regierung vorwarfen, zu nachgiebig zu sein. Paschinjan war damals zurückgetreten, um den Weg für Neuwahlen freizumachen, wurde aber mit einer deutlichen Mehrheit wiedergewählt.
In der Vermittlung zwischen beiden Ländern versucht die EU schon länger erfolglos, sich als Einflussmacht zu etablieren und den russischen Einfluss zurückzudrängen. So setzt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auch jetzt darauf, Russland aus den Verhandlungen auszuschließen. Die EU versucht zudem seit geraumer Zeit, den Kaukasus in ihre Einflusszone zu holen. So gilt Georgien als potenzielles Mitgliedsland, dem schon lange Versprechungen gemacht werden, irgendwann Teil der Union sein zu dürfen. Armenien und Aserbaidschan sind zwar nicht als Beitrittskandidaten im Gespräch, doch vielfältig mit der EU verbunden und Teil der „östlichen Partnerschaft“, deren Hauptziel es ist, die wirtschaftliche Integration der Staaten zu beschleunigen.
Armenien ist jedoch gleichzeitig Teil des eurasischen Wirtschaftsraumes und traditionell eng mit Russland verknüpft. So haben die beiden Länder ein Militärabkommen geschlossen, das noch bis zum Jahr 2044 gültig ist. Russische Truppen bewachen zudem die Grenze zur Türkei sowie die Grenzlinie zwischen Bergkarabach und Aserbaidschan. Da Georgien und Aserbaidschan deutlich prowestlich orientiert sind, ist Armenien für Russland ein wichtiger Partner im Kaukasus. Doch auch Aserbaidschan pflegt gute Beziehungen zu Russland und sieht dieses als Schlüssel zur Lösung der postsowjetischen Konflikte in der Region. Zudem liefert Russland Waffen an beide Konfliktparteien und bevorzugt dabei sogar Aserbaidschan. Die wiederkehrende Behauptung der Schutzmacht Russlands für Armenien ist daher mehr ein armenischer Wunsch als Realität. Auch für die EU ist Aserbaidschan ein wichtiger Partner, da sie der größte Abnehmer aserbaidschanischen Erdöls und -gases ist und beabsichtigt, in naher Zukunft die abzunehmenden Gasmengen massiv zu erhöhen.
Der Kaukasus ist also zwischen Ost und West eine umkämpfte Einflussregion, und so ist es wenig verwunderlich, dass beide Seiten auch immer wieder offen oder verdeckt in den Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan eingreifen, um die Einflusssphären zu ihren eigenen Gunsten zu verschieben.
Der neuerliche Konflikt war auch Gegenstand von Gesprächen auf dem Treffen der Schanghaier Organisation (SCO) in Samarkand. Der armenische Premierminister sagte seine Teilnahme aufgrund des Konfliktes ab, wohingegen der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew dort vertreten war. Er führte bilaterale Gespräche mit Wladimir Putin und Recep Tayip Erdogan. Auf dem Treffen der SCO wurden Sicherheitsfragen, wirtschaftliche Zusammenarbeit und neue Transportwege besprochen. In Samarkand sollte auf diese Weise ein starker östlicher Block konsolidiert werden, der ein bedeutender Teil der neuen, multilateralen Weltordnung werden soll.
In dieser Situation, in welcher Ost und West sich voneinander entfernen und sich feindlich gesinnt gegenüberstehen, kann gerade Russland, das im Krieg mit der Ukraine steht, einen Konflikt vor der eigenen Haustür innerhalb des anvisierten Ostblocks nicht gebrauchen. So ist es für Putin wichtig, sich als Vermittler und Friedensstifter zu betätigen und den Konflikt zu entschärfen. Die jüngsten Friedensverhandlungen gehen jedoch auf die Initiative der EU und der USA zurück und wurden von dem US-amerikanischen Außenminister Antony Blinken vermittelt.
In einem Strategiepapier des amerikanischen Thinktanks RAND Corporation mit dem Titel „Overextending Russia – competing from advantagous ground“ (deutsch: Überforderung Russlands — Wettbewerb aus einer vorteilhaften Position) von 2019, in dem beispielsweise der Ukrainekrieg bereits vorgezeichnet wurde, ebenso wie der Konflikt um Transnistrien, ist das Szenario, den russischen Einfluss aus dem Kaukasus und Zentralasien zurückzudrängen ebenfalls aufgeführt. Hier wird insbesondere Armenien erwähnt, das zwar einerseits mit Russland zusammenarbeitet, aber andererseits auch mit der EU und der NATO kooperiert.
Armenien könne, so die Autoren, von den USA dazu ermutigt werden, sich vollkommen in die westliche Einflusssphäre zu begeben. Das würde Russland dazu zwingen, seine Soldaten aus der dortigen Militärbasis bei Gyurmi abzuziehen. Armenien als Teil der OVKS, jenem Bündnis zentralasiatischer, postsowjetischer Staaten, hat dieses um Unterstützung ersucht, das jedoch erst einmal nur eine Delegation zur Sondierung der Lage entsandt hat statt der erhofften militärischen Unterstützung. Diese Enttäuschung von den Verbündeten nutzten die USA politisch aus. Denn Nancy Pelosi, die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, beeilte sich, nach Jerewan zu reisen, um Armenien der US-amerikanischen Unterstützung zu versichern und die Angriffe seitens Aserbaidschan aufs Schärfste zu verurteilen.
Schwarzes Gold
Bei all dem geht es nicht allein um Russland. Denn die USA haben auch ein Auge auf die Bodenschätze im Kaukasus geworfen. Dort lagern ungefähr 48 Milliarden Barrel Erdöl sowie ein Vielfaches an Erdgas. Schon vor Jahren hat die RAND Corporation zudem darüber nachgedacht, welche ethnischen Konflikte in der Region bestehen und inwiefern man bestimmte ethnische Gruppen für politische Zwecke mobilisieren könne. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan ist durchaus auch ein ethnischer Konflikt, der wohl jederzeit eskaliert werden kann. Der erwähnte Bericht von 2019 gibt jedoch auch zu bedenken, dass all die beschriebenen Szenarien, um den russischen Einfluss im Kaukasus zurückzudrängen, nicht sonderlich aussichtsreich sind. Das jedoch muss die USA nicht davon abhalten, es zu versuchen. Es zeigt höchstens, dass die Falken im Pentagon und im Weißen Haus Russland um jeden Preis schwächen und zurückdrängen wollen.
Die vom Westen vermittelten Friedensgespräche zwischen beiden Ländern, so sie denn erfolgreich sein werden, könnten dieses Vorhaben unterstützen. Sie könnten zu einer Orientierung der Länder in Richtung Westen führen und beide Länder dem russischen Einfluss entziehen. Da Russland in Armenien einen großen Militärstützpunkt unterhält, könnte im geopolitischen Spiel gegen Russland hier bereits der nächste Konflikt anstehen, der letztlich dafür sorgen soll, das russische Militär und den russischen Einfluss aus der Kaukasusregion zu verdrängen.
Lassen sich die Länder auf diese Einflussnahme allerdings nicht sein, so gibt es die Chance für einen echten Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan, und damit ein friedliches Leben für die von dem Konflikt gebeutelten Menschen vor Ort.