Kollektiver Todestrieb
Wenn uns das Leben auf dieser Erde lieb ist, müssen wir der gefährlichen Tendenz zur Selbstzerstörung widerstehen.
„Jeder will leben und Leben erhalten.“ Diese Auffassung ist verbreitet, dennoch ist sie naiv. Immer mehr Menschen, Kulturen, ja die ganze Menschheit zeigen einen Hang zur Selbstzerstörung. Individuell beobachten wir wachsende Selbstmordneigung, zumindest Lebensüberdruss, eine müde Unlust, sich dem Leben zu stellen und es zu gestalten. Freiwillige Kinderlosigkeit, Unfruchtbarkeit, aber auch die systematische, zumindest fahrlässige Gefährdung und Traumatisierung von Kindern breiten sich aus, als wollten Teile der Gesellschaft die Zukunft, die von unserem Nachwuchs repräsentiert wird, gar nicht mehr haben. Die westliche Kultur — und hier vor allem Deutschland — gefällt sich in resignierter Selbstaufgabe, gibt zivilisatorische Errungenschaften willig preis. Die ökologische Katastrophe scheint die Existenzberechtigung des Menschen als solchem obsolet zu machen. Unter dem Dauerbeschuss kränkender Pauschalbeschimpfungen scheinen viele zumindest unbewusst bereit, den eigenen Untergang als reinigenden Akt zu begrüßen. Todestrieb und Todessehnsucht sind aus Geschichte und Literatur bekannte Seelenregungen. Die Psychotherapie hakte dergleichen als bedauerliche, aber prinzipiell heilbare Einzelfälle ab. Als kollektives Phänomen allerdings wird der Flirt mit der Selbstauslöschung zu einer Gefahr, die alles Leben auf dem Planeten bedroht.
„Das klingt vielleicht albern, aber ich finde, wir sind alle mitverantwortlich“, sagt die Frau in der Flughafenhalle, ihren vielleicht 8-jährigen Sohn auf dem Schoß. Sie spielt damit auf die ökologische Krise und die Mitschuld der Menschen an — für sie eine Aufforderung an alle, bei der Rettung des Weltklimas mitzuwirken. „Wieso haben Sie dann ein Kind?“, kontert ihr Gesprächspartner, eine männliche Zufallsbekanntschaft. Die Frage befremdet die Frau, daher führt ihr Gegenüber seinen Gedanken weiter aus:
„Nichts produziert mehr Kohlenstoff als ein Mensch, und doch haben Sie einen gezeugt. Wieso haben Sie das getan? Er wird in seinem Leben 515 Tonnen Kohlenstoff produzieren. Das sind 40 LKW-Ladungen. Diese Menge entspricht in etwa sechseinhalbtausend Flügen nach Paris. Sie hätten in jedem Jahr 90-mal hin- und zurückfliegen können, so gut wie jede Woche Ihres Lebens, und hätten dem Planeten weniger Schaden zugefügt, als seine Geburt es getan hat. (…) Seine Geburt war ein egoistischer Akt — schlichtweg brutal. Sie haben andere dazu verdammt, zu leiden. Und wollten Sie tatsächlich etwas ändern, dann würden Sie ihm die Kehle durchschneiden — und zwar jetzt gleich.“
Diese schockierende Rede stammt aus der sehenswerten britischen Serie „Utopia“, in der es unter anderem auch um Pandemien und deren politische Instrumentalisierung geht. Keiner würde in der Realität wohl so mit einer jungen Mutter sprechen. Aber liegt diese Argumentationsweise nicht in der Logik der Klimabewegung? Wird dergleichen nicht oft insgeheim gedacht?
Ist es immer gut, wenn jemand lebt, und schlecht, wenn er tot ist? Normalerweise stellen wir uns diese Frage nicht. Wir könnten auf die Existenz des einen oder anderen Zeitgenossen zwar manchmal gern verzichten oder beklagen abstrakt „die Überbevölkerung“ — aber im Prinzip lieben wir unser Leben, das unserer Angehörigen, bejahen die Existenz von Tieren und Pflanzen, geben uns „biophil“ — also dem Lebendigen gegenüber positiv eingestellt.
Die Zumutung menschlicher Existenz
Was der Drehbuchautor von „Utopia“ dem Mann am Flugplatz in den Mund gelegt hat, wurde jedoch auch in Deutschland ernsthaft diskutiert. So titelte Stern online: „20 BMW schädigen das Klima weniger als ein Baby.“ Weiter heißt es:
„Eltern sind die schlimmsten Klimasünder — sagt eine Studie aus Schweden. Die Forscher listen Faktoren, wie wir mehr oder weniger CO2 verursachen. Ein Baby kostet 58 Tonnen CO2 im Jahr — das kann man woanders nicht wieder einsparen.“
Das Resümee der schwedischen Studie:
„Der Verzicht auf ein Kind entlastet die Umwelt viel stärker als irgendeine andere Maßnahme. Oder umgekehrt: Ein Kind bedeutet die größte Umweltbelastung, die ein Mensch nur machen kann.“
Den zweitgrößten Klimakiller, das Auto, verweist die beklagenswerte Lebensform „Baby“ mühelos auf die Plätze:
„Doch auch wer total autofrei lebt, spart nur 2,4 Tonnen CO2 ein — im Vergleich zum Kinderwert von 58 Tonnen ist das wenig eindrucksvoll.“
Nur eine skurrile Einzelmeinung? Das Schweizer Magazin Wir Eltern berichtet gar von einer ganzen Bewegung bekennend Kinderloser: die Gebärstreikenden-Bewegung. „Birth Strike“ wurde Anfang 2019 in Großbritannien von der Musikerin Blythe Pepino gegründet. „Angesichts steigender Meeresspiegel und schmelzendem Permafrost sorgt sich die 34-Jährige zutiefst um die Erde: Dürren, Wassermangel und Hunger würden zu Gewalt und Krieg führen. In ein solch düsteres Zukunftsszenario möchte sie kein Kind gebären.“ Die ähnlich gesinnte kanadische Gruppierung „Conceivable Future“ diskutriert bei ihren Zusammenkünften, „welches Übel ein Kind als Klimaschädling der Umwelt im Laufe seines Lebens anrichten wird“.
Die Schwedin Irina sagt im Interview: „Ich finde es klimatechnisch nicht okay, weitere Kinder in die Welt zu setzen.“ Irina gebar zwar zuvor schon ganze zwei CO2-Ausstoßer, will aber jetzt, obwohl sie ihre Kinder liebt, nicht noch ein drittes in die Welt setzen. Bei vielen der Gebärstreikenden spielt dabei auch Rücksichtnahmen auf den potenziellen Nachwuchs selbst eine Rolle, dem dieses Leben nicht mehr zuzumuten sei. Das Magazin Wir Eltern zitiert dazu das folgende Statement der Popsängerin Miley Cyrus: „Wir bekommen ein Stück Dreck als Planeten überreicht, und ich weigere mich, diesen an Kinder weiterzureichen.“
Kollektiver Gebärstreik
Die Geburtenraten in Deutschland seit dem Jahr 2000 stellen sich indes nicht so desaströs dar, wie vielfach angenommen wird. Laut Süddeutscher Zeitung stiegen sie durchschnittlich sogar an und befanden sich 2021 auf einem relativ hohen Niveau: bei 1,6 Kindern pro Frau. 2022 dann stürzte die Kurve dann jäh ab: auf nur noch etwa 1,3 Kinder pro Frau. Die Ursachen dafür sind natürlich im Zeugungszeitraum zu finden. Die Süddeutsche orakelte: „Es ist plausibel, dass sich manche Frauen erst impfen lassen wollten, bevor sie schwanger werden.“ Hier werden mögliche alternative Erklärungen für den Geburtenrückgang systematisch verdrängt. Vielleicht hatte der erste Lockdown viele Menschen zum heimischen Kuscheln verführt — die Geburtenrate stieg in der Folge erst einmal.
Als dann aber in der zweiten Hälfte von 2021 immer neue Horror-Infektionszahlen, Diskriminierungsmaßnahmen, wirtschaftliche und seelische Zusammenbrüche die Menschen verstörten, könnten viele den Glauben an eine lebenswerte Zukunft für Kinder verloren haben. Auch einen Rückgang der Fertilität als Folge der mRNA-Spritze legen Studien nahe. Von einer um 15 Prozent geringeren Geburtenrate im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfwelle spricht das deutsche Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung.
Und wer es dennoch schaffte, geboren zu werden, bleibt unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht unbedingt am Leben. Laut einer Studie von Christian Dohna-Schwake von der Universitätsklinik Essen gab es 2021 ganze 93 Suizidversuche von Kindern und Jugendlichen, die zu einer Aufnahme in die Intensivstation des Krankenhauses führten. 2019 waren dies nur 37 Fälle gewesen. Dabei umfasste die Studie längst nicht alle Fälle. Schätzungen sprechen von 450 bis 500 gemeldeten Selbstmordversuchen in ganz Deutschland innerhalb von nur zwei Monaten. Macht dieses Land seine Kinder kaputt?
Deutschland: Aussterben als Bußübung?
Jedenfalls fügt diese Politik vielen von ihnen schwere Schäden mit noch kaum abzusehenden Langzeitfolgen zu. Das sagt unter anderem der Historiker und Kindheitsforscher Michael Hüter. Maskenzwang und Abstandsgebot, der Verarmungstrend und die wachsende Aggressivität in vielen Familien führten dazu, dass sich junge Menschen von ihrer Gesellschaft schon in den frühen Jahren zurückgestoßen fühlten — so als wären sie, wie es die Szene aus der Serie „Utopia“ suggeriert, besser gar nicht erst geboren worden. Auch Impfschäden bei Kindern nehmen besorgniserregende Ausmaße an.
Interessante Anmerkungen zur Lage der Kinder in Deutschland — und zwar schon vor der Coronakrise — machte die Sachbuchautorin Gabriele Baring in „Die Deutschen und ihre verletzte Identität“. Kinderfeindlichkeit und Geburtenrückgang in Deutschland sind — die Älteren von uns werden sich erinnern — nämlich schon lange ein Thema. Baring behauptet, dass „ein geheimer Hang zur Selbstzerstörung die Deutschen ergriffen hat“. Ihre Begründung dafür, warum dieses Phänomen gerade Deutschland getroffen haben könnte, steht im Kontext ihres Hauptthemas, der kollektiven Psyche von Kriegsenkeln:
„Eine depressive Gesellschaft, die im Schatten unverarbeiteter Kriegserfahrungen steht, kann kaum in der Lage sein, Zukunft positiv zu denken und das durch Kinder zu manifestieren. Ein Zusammenhang zwischen der belastenden Vergangenheit und dem Rückgang der Geburtenquote ist nicht von der Hand zu weisen. Wer sich schuldig fühlt, wird kaum den Impuls verspüren, in Kindern fortleben zu wollen.“
Während die allmähliche Selbstauslöschung der Deutschen als unbewusste Buße für ein kollektives monumentales Verbrechen ein national begrenztes Phänomen wäre, könnte menschlicher Selbsthass als Folge des Ökozids weitere Kreis ziehen — oder tut dies teilweise schon.
Hier geht es nicht mehr nur um die „Minderwertigkeitskomplexe“ einzelner psychisch kranker Menschen; vielmehr wird das eigene Existenzrecht als Mensch in bisher nicht gekanntem Umfang obsolet.
In Thomas Hardys Roman „Herzen im Aufruhr“ (1897) tötet der älteste Sohn eines Paares sich selbst und seine Geschwister, nachdem die kinderreiche Familie wegen der Anzahl ihrer Mitglieder lange Zeit keine Unterkunft gefunden hatte. Unvorsichtigerweise sagte die Mutter einmal: „Wir sind einfach zu viele.“ Im Abschiedsbrief des jugendlichen Mörders stand dann: „Weil wir zu viele sind.“
Eine unvorstellbar schlimme Situation für die Eltern. Die dahinterstehende Dynamik könnte uns aber kollektiv leider noch beschäftigen. Nicht Menschen an sich werden ja in den meisten ökologischen Diskursen als planetenmörderisch abgekanzelt, sondern „zu viele“ Menschen. Da könnten manche auf die Idee kommen, sich selbst oder auch andere als notorische CO2-Ausstoßer und Feinde der Ökosphäre aus dem Spiel zu nehmen.
Wir sind „zu viele“
In Dan Browns Roman „Inferno“ ist ein geheimnisvoller „Mad Scientist“ namens Bertrand Zobris der Widersacher des Helden Robert Langdon. Zobrists Begegnung mit WHO-Chefin Sinskey in der Zentrale des Council of Foreign Relations bringt das Leitthema des Buchs zur Sprache. Mit Hilfe der Exponentialkurve beweist Zobrist Elisabeth Sinskey, dass die Menschheit durch die Bevölkerungsexplosion unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuert. Wir seien an einem Punkt angelangt, an dem die fortschreitende Verdoppelung eine existenzielle Gefahr darstelle.
In einer einzigen Lebensspanne, also binnen 80 Jahren, könne ein Mensch heute die Verdreifachung der Weltbevölkerung miterleben. Und die Geschwindigkeit dieses Wachstums wachse ihrerseits immer weiter. Alle beobachtbaren negativen Entwicklungen auf der Welt — Umweltzerstörung, Ressourcenknappheit, Erderwärmung und andere — seien nur Symptome ein und derselben Krankheit: der Bevölkerungsexplosion.
Romanheldin Sienna Brooks, die sich im Lauf der Handlung als Ex-Geliebte und Jüngerin Zobrists erweist, erklärt die mathematische Unausweichlichkeit der Apokalypse anhand einer wachsenden Algenpopulation in einem Teich:
„Nachdem sie alles an vorhandener Nahrung aufgenommen haben, sterben sie ganz schnell ab und verschwinden. (…) Die Menschheit könnte ein ähnliches Schicksal erwarten, und das viel früher, als sich das irgendeiner von uns vorstellen kann oder will.“
Dies ist aber zunächst nur die Diagnose. Welches wäre die Therapie? Sienna spricht die beängstigende Konsequenz aus:
„Würden Sie die Hälfte der Weltbevölkerung töten, um unsere Spezies vor dem Aussterben zu bewahren?“
Ein Virus, der einen Großteil der Menschheit auslöschen könnte, sorgt folglich in der zweiten Hälfte des Romans für Spannung.
Töten, damit die Menschheit leben kann … Wäre dies nicht die logische Fortsetzung und Steigerung der Geburtenkontrolle aus ökologischen Gründen?
Gibt es reale Personen, die so denken, so planen oder vielleicht sogar schon dabei sind, so zu handeln?
Der Geist, der stets verneint
An dieser Stelle zunächst ein philosophischer Exkurs: Es wäre naiv, anzunehmen, dass alles und jeder auf die Schaffung und Erhaltung von Leben ausgerichtet ist. Eine gegenläufige, destruktive Kraft zeigt sich mit all ihrer verheerenden Gewalt in der Menschheitsgeschichte. Diese beruft sich auch auf eine innere Logik, die wir kennen und durchschauen müssen, wollen wir verhindern, dass sie mit furchtbaren Konsequenzen über uns hereinbricht. Man denke dabei nur an die berühmte Rede des Mephisto in Goethes „Faust“, in der er sagt:
„Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht. Denn alles, was entsteht,
ist wert, dass es zugrunde geht.
Drum besser wär's, dass nichts entstünde.“
Die Vorstellung, dass jemand nicht nur allem Existierenden die Auslöschung, sondern auch wünschen könnte, dass es nie entstanden wäre — dass es also vorzuziehen gewesen wäre, dass das, was wir heute Welt oder Universum nennen, in ewigem Nichtsein verblieben wäre — das ist gespenstisch. Ein möglicher Grund für diese Haltung absoluter Negativität liegt in dem von Mephisto auch angeführten Leid jeder Kreatur. „Ich sehe nur, dass sich die Menschen plagen“, sagt der Teuflische im Dialog mit Gottvater im Prolog des „Faust“.
Shiva, der Zerstörer
So weit geht keine mir bekannte Weltanschauung ernsthaft. Wohl aber gibt es zum Beispiel in der indischen Philosophie eine stärkere Würdigung der Zerstörung als eines notwendigen Elements im kosmischen Schöpfungsprozess. Die vedische Religion kennt drei zentrale Gottheiten, wobei Brahma als der Schöpfer und Vishnu als der Erhalter gilt. Shiva jedoch, der dritte im Bunde, wird als der Zerstörer verehrt.
Das klingt brutal. Während aber der Teufel im Christentum als das schlechthin Böse verdammt wird, liegt Shivas Daseinsberechtigung im Wesen aller natürlichen Dinge. Die Zerstörung des Alten nur gibt Raum, der von Neuem gefüllt werden kann. So entfalten sich größere und kleinere Weltzyklen stets im Rhythmus von Schöpfung und Zerstörung. Fehlte einer der beiden Pole, so geriete das Universum aus dem Gleichgewicht — so wie es sich im Wachstumsdogma des Kapitalismus ansatzweise zeigt, das nur eine Richtung kennt: aufwärts.
Und auch wenn kaum jemand der kruden These Mephistos folgen würde, es sei besser, wenn „nichts entstünde“ — einige Dinge hätte es doch vielleicht besser nicht gegeben. Oder sie wären es wert, zugrunde zu gehen. Wäre es zum Beispiel nicht wünschenswert, so die indische Denkweise, wenn die Unwissenheit ausgelöscht würde? Oder das allzu dominante Ego des Menschen, das im Erleuchtungsprozess stört? Oder schlechtes Karma, das sich wohl jeder, der daran glaubt, wegwünschen würde? Für all dies ist Shiva zuständig. Wie der Herbst führt er den Tod vieler Naturphänomene herbei; jedoch nicht, damit eine ewige Leere herrsche, sondern damit im kommenden Frühjahr eine ganz neue Schöpfung ihren Lauf nehmen kann.
In einem Webmagazin für yogische Spiritualität steht zum Thema:
„Shiva setzt allem, was einmal begonnen hat, sein unvermeidliches Ende, er löst alte Gewohnheiten auf, räumt mit dem Ego auf und revidiert falsche Identifikationen und Vorstellungen. Damit kommt Shiva eine bedeutende Rolle zu: Er verbreitet seine reinigende Kraft und deckt die Illusion auf, dass alles individuell ist. Er schafft somit gleichzeitig Raum für einen Neuanfang — für eine neue Schöpfung —, für den dann wieder Brahma zuständig ist. Shiva ist damit der komplexeste, aber vielleicht sogar auch der bedeutungsvollste Gott im hinduistischen Glauben.“
Die Faszination des Abgründigen
Ähnliches sagt Goethe in seinem Gedicht „Selige Sehnsucht“:
„Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“
Die „selige Sehnsucht“ — das ist die nach dem eigenen Tod, dem Erlöschen. Wer sich mit Literatur und Philosophie beschäftigt hat, für den ist Todessehnsucht ohnehin ein vertrauter Gedanke — wenn sie auch in den meisten Fällen nur aus ästhetischer Distanz ins Auge gefasst wird. Etwa in den Dichtungen von John Keats und Novalis oder im Musikwerk „Tristan und Isolde“ von Richard Wagner. Hier kommt auch der Begriff der Dekadenz ins Spiel, dem ich einen eigenen Artikel gewidmet habe. Den „Décadent“, so drückte es Thomas Mann aus, umweht die „wissende Wehmut der Sterbensreife“.
Richard Wagner und Thomas Mann aber waren Schüler des Philosophen Arthur Schopenhauer, der die Erlösung der Menschheit von der „Verneinung des Willens zum Leben“ erwartete. Schopenhauer nahm einen allgemeinen, sehr mächtigen Lebenstrieb, den Willen, als Grundkonstante in der Natur an. Dieser Wille führe aber zu permanentem psychischem Leid. Denn die Angst um die eigene Existenz, die Gier nach dem, was man noch entbehrt, ebenso wie Sorge um den Verlust des Liebgewonnenen halten uns in nicht endender innerer Unruhe gefangen. Die Lösung bestünde darin, den Willen zum Leben völlig fallen zu lassen und — hier lehnt sich der Philosoph an buddhistische Vorstellungen an — dem Erlöschen der eigenen Persönlichkeit zuzustimmen. Wenn das Ego als Illusion aufgegeben wird, so versprechen es auch viele spirituelle Schulen, kommen quälende Denkbewegungen zur Ruhe. Die getrennte Existenz löst sich auf wie ein Zuckerstück in heißem Tee, wir gehen zwar nicht in die totale Nichtexistenz ein, werden jedoch zum Teil eines unauftrennbaren Ganzen.
Sigmund Freud und der Todestrieb
Auch der Vater der Psychoanalyse, Sigmund Freud, definierte einen Hang zur Zerstörung und Verneinung des eigenen wie auch fremden Lebens: den „Todestrieb“. In einem Brief an Albert Einstein von 1932 behauptete Freud, dass „dieser Trieb innerhalb jedes lebenden Wesens arbeitet und dann das Bestreben hat, es zum Zerfall zu bringen, das Leben zum Zustand der unbelebten Materie zurückzuführen. Er verdiente in allem Ernst den Namen eines Todestriebes, während die erotischen Triebe die Bestrebungen zum Leben repräsentieren“. Hier wird also ein Gegenspieler zum Drang der Lebewesen nach Vereinigung, Selbsterhaltung und Fortpflanzung des Lebens definiert.
Vielfach versteht der Psychologe darunter den Trieb zur Zerstörung des Lebens anderer, auch aus Gründen der Selbsterhaltung.
„Der Todestrieb wird zum Destruktionstrieb, indem er mithilfe besonderer Organe nach außen, gegen die Objekte, gewendet wird. Das Lebewesen bewahrt sozusagen sein eigenes Leben dadurch, dass es fremdes zerstört.“
In seinen milderen Varianten nehme der Todestrieb somit sogar den Charakter gesunder Aggression und lebensförderlicher Selbstbehauptung an oder könne in Gestalt der „Sublimierung“ kulturschöpferisch wirksam sein.
Auf die eigene Person bezogen, offenbart sich der Todestrieb laut Freud in Form von Autoaggression und Regression, speziell in dem unbewussten Wunsch, in den Mutterleib, also in einen pränatalen Seinszustand zurückzukehren. Ein allgemeines Bedürfnis nach Stillstand oder eine übertriebene Faszination für unbelebte Gegenstände sind Anzeichen für Nekrophilie.
Allgemein meint der Todestrieb zerstören statt erschaffen, die Auflösung und Zerteilung von Strukturen anstelle der Vereinigung und Verschmelzung von bisher Getrenntem. Schließlich das Zurückverwandeln von Organischem in Anorganisches.
Sigmund Freud sieht hier kein mephistophelisches Böses am Werk, sondern ein natürliches Gleichgewicht zwischen Lebens- und Todestrieb. Gefährlich und pathologisch wird es erst, wenn der Todes- oder Destruktionstrieb übermächtig wird und das Gleichgewicht gestört ist.
Der Gegenspieler des Lebens
Mit diesen zahlreichen, verschiedenen Fachgebieten entnommenen Gedanken will ich zunächst auf die Komplexität der menschlichen Seele und auch der kollektiven Psyche hinweisen. Es ist eben nicht so klar, wie meistens angenommen wird, dass alle immer auf die Erschaffung und Bewahrung von Leben beziehungsweise auf die Vermeidung von Tod und Zerstörung ausgerichtet sind.
Es gibt eine machtvolle gegenläufige Tendenz, die auf die Auflösung bestehender Strukturen, Gesellschafts- und Lebensformen abzielt, selbst wenn sich diese als sinnvoll erwiesen haben. Natürlich gibt es eine Art Naturgesetz des „Stirb und Werde“. Ein älterer Song der Gruppe The Alan Parsons Project fasste es so zusammen: „What goes up, must come down. What must rise, must fall“ (deutsch: Was aufsteigt, muss fallen. Was steigen muss, muss fallen).
Es gibt Todestrieb, Todessehnsucht und Selbstverneinung mindestens auf diesen drei Ebenen:
- das individuelle Verlangen, die eigene Existenz zu beenden;
- die Selbstaufgabe eines Landes oder einer Kultur;
- das selbstzerstörerische Denken und Handeln der Menschheit als Ganzes.
Zwar sind Auflösung und Verfall zum großen Teil „natürlich“, jedoch gibt es Zeiten, in denen außergewöhnlich destruktive Tendenzen am Werk zu sein scheinen, die den Bestand des Lebens als solchen gefährden. Hier müssen wir fragen, woran dies liegt und wer im Speziellen an einer Dynamik des Niedergangs interessiert ist.
Wir können das destruktive Verhalten mancher Machthaber nicht adäquat analysieren, solange wir Vernunft, Selbsterhaltungswillen, gar Güte zum Maßstab nehmen, solange wir also den Wunsch voraussetzen, alle seien interessiert daran, den Menschen, dem Land, zumindest sich selbst zu dienen. Vielleicht ist dem nicht so, vielleicht liebäugeln bestimmte Kräfte mit dem Tod. Vermutlich gibt es „Eliten“, die glauben, es seit gut, die Erde von einer Anzahl von Menschen, deren Existenz sie als nicht unbedingt nötig empfinden, zu „reinigen“. Dabei hegen sie offenbar die Hoffnung, aufgrund ihrer privilegierten Situation selbst verschont zu bleiben.
Erweiterter Suizid in der Politik
Das Verhalten mancher Politiker, Wirtschaftslenker und Forscher kann jedoch schon als eine Art erweiterter Suizid gedeutet werden. Denken wir etwa an gefährliche Experimente mit Viren, das Zündeln mit einem neuen großen Weltkrieg oder auch das Festhalten am Wachstumsparadigma in der Wirtschaft und der damit einhergehenden Ausbeutung des nur begrenzt regenerationsfähigen Ökosystems.
Aus Unfähigkeit, die eigene Existenz zu bejahen oder einen Sinn in ihr zu finden, geschieht es, dass verirrte Menschen andere mit in den Tod reißen. Wenn jemand keine Ehrfurcht vor dem eigenen Leben hat, ist es nur folgerichtig, dass er auch das der anderen nicht achtet, ihren Tod herbeiführt oder zumindest gleichgültig-fahrlässig in Kauf nimmt.
Auf der Seite der „Normalbürger“ zeigt sich indes eine verhängnisvolle Tendenz zur Hinnahme der eigenen Zerstörung. Es gibt geradezu einen Trend zum Selbstopfer: Deutschland opfert sich zum Beispiel für die Ukraine, indem die Regierung faktisch Sanktionen gegen das eigene Land verhängt und dieses durch einen ausufernden Rüstungshaushalt in die Verschuldung treibt. Europa opfert sich für die USA, indem es die Zerstörung der eigenen Wirtschaft zugunsten der US-amerikanischen widerstandslos hinnimmt. Der natürliche Selbstbehauptungstrieb ist wie ausgeschaltet.
Der Bürger in seiner Mehrheit lässt sich willig von seinen Führern zum Opfer machen, lässt sich seiner Freiheit und seines Wohlstands berauben, lässt gefährliche Experimente mit seiner Gesundheit durchführen und nimmt eher noch hohe Selbstmordraten — selbst unter Kindern und Jugendlichen — hin, ohne dass es auch nur zu einem minimalen Aufflammen des Selbstbehauptungswillens käme. Bei Hinrichtungen in der Zeit des englischen Königs Heinrich VIII. entblößte der Delinquent bereitwillig seinen Hals und gab seinem Henker sogar noch Geld, damit dieser den Todeshieb möglichst sauber und gekonnt platzierte.
In ähnlicher Weise beschäftigen sich viele Zeitgenossen im Prozess dieses großen Absturzes nur noch quasi mit der Abmilderung des Aufpralls, nicht mehr mit seiner Vermeidung. Die Möglichkeit, dass es vielleicht gar nicht notwendig wäre, zu sterben, dass vielmehr eine Zukunft voll erfüllten Lebens auf uns warten könnte, ist dabei völlig aus dem Blickfeld geraten.
Ein verknöcherter Altbundespräsident verordnet uns lapidar „weniger Lebensglück“, und das Einzige, was uns dazu einfällt, ist ein resigniertes „O. k.“. Natürlich: Die meisten würden die Frage, ob sie sich individuell nach dem Tod oder kollektiv nach der Zerstörung unseres Gemeinwesens sehnen, mit Nein beantworten. Sie verhalten sich aber nicht so, als wäre ihnen an der Erhaltung des Lebens, der Würde und der Freiheit gelegen. Es wirkt so, als kooperierte das Individuum bei einem Zerstörungswerk, dessen Notwendigkeit zumindest instinktiv akzeptiert wird.
Trotzdem ja zum Leben
Es ist enorm wichtig, dass wir uns jetzt über derartige Tendenzen bei uns selbst und bei unseren Mitmenschen klar werden und uns bewusst — noch einmal — für das Leben entscheiden. Denn gewiss sind ein ständiges Auf und Ab, ein Stirb und Werde natürlich — diese Bewegungen vollziehen sich aber im Rahmen des großen „Circle of life“, zu dem wir Ja sagen können. Das Leben zu wählen, bedeutet, gleichsam am Rand des Strudels, der uns in den Abgrund zu reißen droht, noch einmal umzukehren und gegen den Sog anzuschwimmen, bis wir wieder ruhiges Wasser erreicht haben, in dem sich der Himmel spiegelt.
Das bedeutet, den Ruf des Lebens wieder zu hören, der abseits desaströser Fernsehpropaganda andauernd an uns ergeht: durch das sich erneuernde Grün eines Baumes, das Auffliegen eines bunten Vogels, den Anblick tanzender Menschen oder die freundliche Unbedarftheit eines Kindes. Das berühmte Prosagedicht „Desiderata“, das 1927 von dem US-amerikanischen Rechtsanwalt Max Ehrmann verfasst wurde, versprüht etwas von dem ermutigenden Geist, den wir jetzt bräuchten:
„Genau wie die Bäume und Sterne,
so bist auch du ein Kind des Universums.
Du hast ein Recht auf deine Existenz. (…)
Und was immer deine Sehnsüchte und Mühen
in der lärmenden Verworrenheit des Lebens seien —
bewahre den Frieden in deiner Seele.
Bei allen Täuschungen, Plackereien und zerronnenen Träumen
ist es dennoch eine schöne Welt.
Sei frohgemut. Strebe danach glücklich zu sein.“