Kindheit ist keine Insel
Vieles, das vermeintlich zum Wohl unserer Kinder unternommen wird, forciert deren Beschädigung.
Wir Menschen sind zu Objekten geworden, die um jeden Preis funktionieren müssen, um nicht zu den Verlierern der Gesellschaft zu gehören. Entfremdung findet auf allen Ebenen statt, denn so ist der Mensch rentabler. Auch unsere Kinder sind dieser Maschinerie von Geburt an ausgesetzt. Wie können wir sie davor schützen? Vielleicht, indem vor allem Eltern diesen Lebenswandel einmal hinterfragen und sich bewusst werden, was sie wirklich für sich und ihre Kinder wollen? Ein Weckruf.
Die romantische Vorstellung, dass Kindheit in einem geschützten Raum stattfindet, ist weit verbreitet und falsch. Diese Gesellschaft ist geprägt von der Vorstellung, dass nur gut ist, was Gewinn verspricht. Alle Ressourcen dieser Erde inklusive der menschlichen werden nach ihrer Verwertbarkeit beurteilt, benutzt und meistens verschlissen. Warum sollten Kinder davor geschützt sein, wenn nicht einmal die Luft und das Wasser, geschweige denn Fauna und Flora als unsere Lebensgrundlagen in Sicherheit sind?
Wie Menschen heute arbeiten, was sie essen, wann sie schlafen, wie sie wohnen, wie sie miteinander umgehen — das alles hat Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern. Noch vor einigen Jahren war es in den alten Bundesländern undenkbar, dass Kinder unter drei Jahren morgens sehr früh aus dem Bett geholt wurden, damit sie pünktlich in der Kita ankommen. Heute ist das Alltag.
In den neuen Bundesländern hatte der Staat beschlossen, dass alle Frauen in der Wirtschaft gebraucht werden und es gab sogar Kindertagesheime, in denen Kinder von Montagmorgen bis Freitagnachmittag durchgängig betreut wurden. Das fanden die Wessis früher furchtbar. Heute geben sie vier Monate alte Säuglinge ganztags in der Kita ab und nennen es Bildung.
Interessanterweise sind die frühe Betreuung und seine Folgen in der ehemaligen DDR bis heute kein großes Thema in Wissenschaft und Forschung. Wer will‘s auch wissen?
Der Takt der Wirtschaft ist zum Lebensrhythmus der Familien geworden. Dazu gehört auch, dass Kinder nicht krank werden dürfen, weil Eltern dann nicht arbeiten gehen können. Kinder werden genau wie die Erwachsenen mit Medikamenten abgefüllt und wieder auf die Piste geschickt.
Man kann gut verstehen, dass Eltern alles tun, um ihren Job zu behalten oder durch intensives Karrierestreben mehr — vermeintliche — Sicherheit zu erlangen. Das haben sie schon als Kinder gelernt. Und das geben sie an ihre Kinder weiter. Wahrscheinlich tun das alle Eltern dieser Welt. Ihre eigenen Kinder sollen es mal gut oder besser haben als sie.
Die neuere Botschaft an die Kinder ist aber anders. Sie lautet: Sei um Gottes Willen so, dass du nicht auffällst — am besten von Geburt an, dann kannst du allen Anforderungen genügen und bist einigermaßen sicher davor, ein Verlierer, ein Versager zu werden. Und wenn du anders bist, dann tu wenigstens so, als wärst du so wie alle anderen, die auch versuchen so zu sein wie alle anderen.
Da ist kein Vertrauen mehr in die eigene Kraft und in die Tüchtigkeit der Kinder. Wie auch. Man kann noch so tüchtig sein in diesen Zeiten. Die Miete steigt trotzdem, der Arbeitsplatz wird immer unsicherer und bei Jobverlust oder Krankheit verliert man alles. Deshalb arbeiten so viele Eltern mit am Projekt „Erfolg“ für ihr Kind und sitzen viele Jahre mit den Kindern bei den Hausaufgaben, um sie durch das Gymnasium zu tragen.
Die Anpassung um jeden Preis erinnert an die Massenproduktion eines Artikels, der da heißt: pflegeleichtes Baby und Kind, frei von Defiziten jeder Art und erfolgreich in Schule und Beruf.
In unserer Kita haben wir einmal ein kleines Experiment gewagt. Alle Erzieherinnen wurden aufgefordert, für sich zu notieren, was für sie ein „normales“ Kind ausmacht. Normal entwickelt, begabt, zufrieden, gesund …
Im Geiste sollten sie sich ein solches Kind ausmalen und dann mit den Kindern unserer Kita abgleichen. Es gab nur EIN Kind von vierzig, auf das wir uns in der anschließenden Diskussion einigen konnten. Dieses Spielchen haben wir im Lauf der Jahre einige Male wiederholt und es war immer nur EIN Kind von vierzig, das den Normen, die wir — verdammt noch mal — alle verinnerlicht haben, entsprechen könnte.
Diese Normen, die auch in allen Tests und Screenings gelten, denen Kinder unterworfen werden, werden niemals hinterfragt oder beleuchtet. Sie wurden vielleicht mal erdacht, damit man Kinder besser in ihrer Entwicklung unterstützen kann. Das ist gut. Kinder brauchen die Unterstützung Erwachsener, weil sie nun mal lange im Nest bleiben und nicht selber jagen gehen können, wenn sie geboren werden.
In unserer Zeit aber dienen diese Normen zur Feststellung von Leistungsfähigkeit — im Sinne von beruflichem Erfolg in dieser, unserer Wirtschaft. Sogenannte Defizite müssen weggemacht werden, sonst droht Abstieg und soziale Ächtung. Eltern mit Kindern mit Behinderung wissen, wovon ich rede.
Kinder sind zum Objekt, zu einem Produkt geworden, an dessen Styling Eltern schon vor der Geburt arbeiten. Und Eltern, deren Kinder es irgendwie nicht bringen, sind natürlich dann Schuld daran. Sie haben nicht an der Fehlerlosigkeit der Kinder gearbeitet.
Sehr viele Menschen glauben, dass es funktioniert und man den Erfolg eines Menschen auf diese Weise kontrollieren und gezielt herbeiführen kann. Wenn der Markt alles beherrscht, dann auch die Kindheit. Sollte es irgendwo haken, gibt es noch ein ganzes Heer von Therapeuten, Nachhilfeinstituten und die Psychologen. Ein Elfjähriger ist in psychotherapeutischer Behandlung, weil er plötzlich bemerkt hat, dass er als Realschüler „keine Zukunft“ hat. Er ist suizidgefährdet.
Der Vater eines zweijährigen Kindes entschuldigt sich wortreich dafür, dass sein Sohn am Tag zuvor nicht in der Kita war. Der Vater ist Lehrer, hat Ferien und wollte mit seinem Sohn mal ausschlafen. Warum er sich entschuldigt? Weil der Sohn etwas Wichtiges verpasst haben könnte in der Vorbereitung auf die Schule.
Ein Vater bricht mit versteinerter Miene ein Elterngespräch mit einer Erzieherin ab, weil sie gesagt hat:
„Auch ohne Gymnasium kann ein Kind eine glückliche Zukunft haben“.
Mit voller Härte trifft die Kinder, dass in Krankenhäusern Geburten auf eine Art und Weise organisiert werden, die immer öfter in Gewalt an den Frauen umschlägt. Mit einer natürlichen Geburt lässt sich offensichtlich nicht genug verdienen. Wer bekommt heute noch ein Kind ohne Wehentropf? Die unterschiedlichen Raten der Kaiserschnitte je Klinik, Region oder Bundesland lassen die direkte Schlussfolgerung zu, dass es dabei nicht um echte Notwendigkeiten geht.
So fängt das Leben an: früh traumatisiert in den Armen geschockter Mütter und ratloser Väter, als Baby fremdbetreut von gestressten und überforderten Frauen unter Bedingungen, die absolut inakzeptabel sind, und dann ab in die Mühle der Schule.
Das ist ganz im Sinne der beinharten Kapitalisten, die die Hoheit in den Köpfen der Menschen brauchen, um unbehelligt die Demokratie demontieren, den Sozialstaat abbauen und ihre eigene Macht ausbauen zu können. Menschen, die als Kinder schon voller Ängste und manipuliert sind, werden nicht genug Selbstvertrauen und Mut entwickeln, um Solidarität und Widerstand zu organisieren. Es wird ihnen ja gleichzeitig erfolgreich suggeriert, dass sie ja alles haben können, wenn sie sich nur genug anstrengen. Selber schuld, wenn es nicht klappt.
Man sagt, eine Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit den Alten, Schwachen und den Kindern umgeht. Wir aber können an den Kindern erkennen, wie die Zukunft aussehen wird. Es wird nicht besser.