Kinder des Krieges
Faina Savenkova, ein 11-jähriges Mädchen aus der Ostukraine, hat die Hälfte ihres jungen Lebens im Krieg verbracht. Rubikon veröffentlicht ihre Essays nun erstmals auf Deutsch. Teil 2/2.
Der Konflikt in der Ostukraine ist bereits in das siebte Jahr gegangen. Während des Krieges wurden kleine Kinder zu Teenagern. Jugendliche sind bereits Erwachsene. In der Stadt Lugansk lebt ein heute 11-jähriges Mädchen namens Faina Savenkova. Sie schreibt wunderschöne Märchen. Zwei Theaterstücke sind bereits ihrer Feder entsprungen. Sie ist das jüngste Mitglied der Schriftsteller-Union der Lugansker Volksrepublik. Faina gewann bereits einige Preise für ihr noch junges literarisches Wirken. In zwei Essays, die beide bei Rubikon veröffentlicht werden, beschreibt sie ihre Kriegserlebnisse. Sie appelliert darin eindringlich an uns Erwachsene, alles, was in unserer Macht steht, zu tun, um den Krieg zu beenden und so Kinder zu schützen.
Wenn Erwachsene schweigen
Alle Kriege haben einen Beginn und auch ein Ende, das ist allgemein bekannt. Oft bleiben offizielle Daten nicht mehr als kalte und gleichgültige Zahlen im Gedächtnis der Beteiligten.
Wann hat der Krieg im Donbass für jeden von uns begonnen? Stelle ich diese Frage meinen Mitmenschen noch so oft, bekomme ich unterschiedliche Antworten. Im Jahre 2014 gab es eine Vielzahl von Ereignissen, die zu jenen Trennlinien wurden.
Ich glaube an die Menschlichkeit. Ich will daran glauben. Wie meine Eltern auch. Nein, wir leben nicht in einer Fantasiewelt. Es gibt einfach einen Unterschied zwischen dem, was wir sehen, und dem, was wir wollen. Meine Verwandten wollten daran glauben, dass alles, was geschah, ein furchtbarer Zufall war. Menschen können doch nicht so grausam und erbarmungslos sein? Doch, können sie. Und wir wissen es, geben aber die Hoffnung nicht auf, dass Menschen zur Besinnung fähig sind. Warum sollen wir sonst weiterleben? Einfach nur eine naive Hoffnung, die keinesfalls die Verbrechen rechtfertigt. Ich weiß es nicht.
Wahrscheinlich hatten wir die Überzeugung, dass so etwas in unserer Zeit und in unserer Heimat nicht passieren kann. Alles schien wie ein alberner Albtraum. So konnte es nicht sein. Es durfte nicht sein, dass die eigene Armee ihr Volk vernichtete. Doch das passiert weiterhin.
Ich denke, dass das wahre Verständnis dessen, dass der Krieg begonnen hat, erst kommt, wenn man sich an den Tod gewöhnt. Eben dann beginnt der Krieg für den einzelnen Menschen und nicht nur für den Staat.
Für mich wurde der 2. Juni zu so einem Datum. Ich kann mich erinnern, dass es ein Montag war, ich und mein Bruder waren krank und mussten zum Arzt. Das alltägliche Leben ist auf die Minute festgelegt, auch wenn wir es nicht merken. Soundso lang ist der Weg zur Bushaltestelle, die Fahrt nimmt soundso viel Zeit in Anspruch. Der Busfahrplan, die Öffnungszeiten des Kinderarztes, die ungefähre Wartezeit im Wartezimmer … Eine Mandelentzündung ist natürlich unangenehm, aber nicht tödlich.
Mit einer Maske wird man auch in die Bücherei gelassen, dort kann man dann Bücher aus der Schulliste für den Sommer ausleihen. Pläne, die sich in Abhängigkeit von den Umständen verändern können. Unsere Pläne veränderten sich, weil mein Bruder Angst bekommen hatte; an diesem Tag war nur ich beim Arzt. Ich hatte keine große Lust, in die Bücherei zu gehen, weil ich noch nicht alleine lesen konnte, hätte nur Bilder in ausgeliehenen Büchern angucken können. Wenn mein Bruder keine Angst gehabt hätte oder wenn meine Mutter seine Sorgen nicht ernst genommen hätte, dann wären wir während des Beschusses in der Nähe jenes Parks gewesen, der am aus der Luft angegriffenen Gebäude der Lugansker Regionalverwaltung lag. Ich verstehe jetzt, dass ich und Mama vielleicht nur dank meines Bruders noch am Leben sind.
Ich kann mich erinnern, wie ich wegen des fürchterlichen Krachs, der über der Stadt dröhnte, weinen musste. Ich weiß noch, dass es keinen Netzempfang gab, wir konnten die Oma nicht erreichen, die am Theater an der anderen Straßenseite vom Ort der Tragödie arbeitete. Weiter weiß ich, was mir mein Lehrer über die Geschehnisse des 2. Juni erzählte. Hinter dem Verwaltungsgebäude befindet sich ein Kindergarten; an diesem Tag standen die Erzieher nach dem Beschuss am Tor und begrüßten die vor Tränen erblindeten Mütter nur mit einem kurzen Satz: „Alle sind am Leben!!!“ Mehr brauchten sie auch nicht zu hören.
Krieg ist dann, wenn am 1. Juni die Welt den Internationalen Kindertag feiert und schon am 2. Juni das wichtigste, das nötigste Wort, was Eltern hören können, einfach und kurz ist: „Leben“. Eine Woche später kommt während eines Artilleriebeschusses das erste Kind um. Polina Solodkaja aus Slavjansk. Sie ist sechs Jahre alt geworden — meine Altersgenossin. Sie hätte Ärztin, Lehrerin oder Künstlerin werden können. Sonst jemand. Sie bleibt aber für immer die erste in der Liste der getöteten Kinder — Opfer dieses Krieges. Das Schrecklichste an all dem ist das Wort „Liste“. Sie wird von Tag zu Tag und bis heute immer länger. Eine unbequeme Wahrheit, die aber nicht in Vergessenheit geraten sollte. Doch kann man es nicht vergessen, auch wenn man es wollte.
Es gibt in Lugansk ein den Kindern gewidmetes Mahnmal, den Kindern, die bei einem Beschuss umgekommen sind. So ein Mahnmal gibt es in Donezk. Wenn Erwachsene dort stehen, finden sie bis heute keine Worte und schweigen, die Augen zu Boden gerichtet. Hier kann man wirklich nichts sagen. Die Welt feiert den Internationalen Kindertag, kann uns aber nicht beschützen.
Ich schrieb bereits früher, dass Kriegskinder still sind, weil sie von Erwachsenen nicht gehört werden. Bis jetzt ist es so. Aber ich glaube daran, dass alles sich verändern wird. Irgendwann mal erleben wir Frieden auf unserem Boden. Wir, Kinder, die den Krieg überlebt haben werden, werden erwachsen sein. Und wir werden versuchen, all das Grauen zu stoppen, indem wir verwirklichen, was Erwachsenen nicht gelungen ist. Damit der Internationale Kindertag nicht nur ein Datum bleibt, sondern sich zu einem echten Feiertag wandelt.
Kurzfotostrecke „Kinder des Krieges“:
Das Denkmal „Allee der Engel“ in Donezk.
„In ewiger Verantwortung.“ Denkmal für die ermordeten Kinder von Donbass, eröffnet am 02.06.2017.
Während eines Artilleriebeschusses des Dorfes Butkevich (Butkevich, Lugansk, Ukraine, 94540) aus Richtung Debalzevo im Sommer 2014 hat sich der 13-jährige Kirill Sidorjuk auf seine 9 jährige Schwester Tatjana Burakova, beide mit ihrer Mutter auf der Straße unterwegs, gestürzt und sie so vor den einprasselnden Splittern bewahrt. Tatjana wurde leicht verletzt, der Junge starb — durchsiebt von ukrainischen Geschossen.
Gebäude der Lugansker Bezirksverwaltung nach einem Luftschlag durch ein Flugzeug der ukrainischen Streitkräfte am 02.06.2014. Quelle: RFE/RL (Radio Free Europe / Radio Liberty)
Kinder im Luftschutzraum. Slavjansk, Mai 2014. Fotograf: Andrea Ronchelli. Ronchelli wurde am 24.05.2014 in der Nähe von Slavjansk umgebracht.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text wurde von Vsevolod Smolianov ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam lektoriert. Die Rubikon-Jugendredaktion dankt Herrn Smolianov für die Vermittlung und sein Engagement! Er kann hier kontaktiert werden.