Kernkultur statt Leitkultur! (2/2)

Wie gelingt eigentlich Integration?

„Kernkultur“ ist eine Knacknuss, weil das Konzept mit einer Paradoxie konfrontiert: mit einem Widerspruch, der nicht aufzulösen ist. Im Teil 1 habe ich gezeigt, wie das Kernkulturkonzept transkulturell in den gesellschaftlichen Machtstrukturen verortet ist und dass die kollektiven Ordnungsvorstellungen stets vom kontextspezifischen Zugriff auf die Ressourcen abhängen. Mit dem Konzept könnten sich Menschen aus aller Welt horizontal und symmetrisch verständigen. Und wir in Europa könnten jenen, die von den Rändern der Weltwirtschaft zu uns kommen, problemlos – weil ohne Abwertung der Neulinge – die Regeln vermitteln, die in unseren modernen Wohlfahrtsstaaten für das gelingende Zusammenleben unverzichtbar sind.

„Der Grund, weshalb unser empfindendes, wahrnehmendes und denkendes Ich nirgendwo in unserem wissenschaftlichen Weltbild angetroffen werden kann, lässt sich leicht in sechs Worten ausdrücken: Weil es selbst dieses Weltbild ist.“ (Erwin Schrödinger)

Leider sind beide Sätze in der Möglichkeitsform formuliert: Denn interkulturelle Verständigung scheitert oft an Moralvorstellungen, weil deren Wurzeln für beide Seiten im Dunkeln liegen.
Teil 2 beleuchtet deshalb den interkulturellen Verständigungsprozess individuen-zentriert. Da wird nun das Kernkulturkonzept bestenfalls zu einer Pfunzel. Denn Integration kann nur gelingen, wenn wir die kollektiven Ordnungsvorstelllungen und die personalen Moralvorstellungen ernst nehmen. In Kapitel 1 schildere ich das Paradox, mit dem uns die Integrationsaufgabe konfrontiert; im Kapitel 2 stelle ich ein ökologisches Personenmodell bereit, das beides beachtet, die Person und den Kontext, in dem sie aufgewachsen ist oder lebt. Kapitel 3 verweist auf Stolpersteine, die wir EuropäerInnen uns selbst in den Weg legen, wenn es darum geht, Fremde zu integrieren. Im Kapitel 4 erläutere ich, warum die Arbeit mit Menschen sowohl Wissenschaft als auch Kunst ist. Zum Schluss zwei Fälle zur vergnüglichen und inspirierenden Illustration. Roter Faden bleibt die Frage: Wie können wir uns so verständigen, dass die Neulinge lernen, auch jene unserer modernen Rechtsregeln zu verstehen und mitzutragen, die ihnen fremd oder sogar zuwider sind?

Kernkultur und Person: Wir haben es mit einem Paradox zu tun

Es gibt viele offenen Fragen dazu, wie die Gesellschaftsstruktur samt ihrer Rechts- und Moralitätsvorstellungen einerseits und die personale Moral der Individuen andererseits zusammenhängen. Sicher ist nur: Wer mit dem Kernkulturkonzept arbeitet, taucht ein in das Tohuwabohu der derzeit weltweit kontrovers diskutierten Moral- und Rechtsdebatten.

Zur Erinnerung: Kernkultur ist ein janusköpfiges Konstrukt. Es fokussiert zwar, was für alle Individuen überlebenswichtig ist: die Befriedigung der unelastischen Bedürfnisse. Erfasst werden aber vorab die dafür ausgebildeten gesellschaftlichen Strukturen: die kollektiven Moralitäts- und Rechtsvorstellungen sowie die Kernrollen, welche diese Bedürfnisbefriedigung organisieren. Zu guter Letzt verweist das Konzept darauf, dass die Konkretisierung einer jeden Kernkultur vom Zugriff auf Ressourcen abhängt und der konfliktreichste Unterschied zwischen den vielfältigen Kernkulturen der ungleichen Weltwirtschaft geschuldet ist.

Damit werden die unterschiedlichsten Rechtsvorstellungen auf ihren transkulturellen Nenner gebracht, gleichzeitig die globalwirtschaftlichen Konfliktursachen betont. Das irritiert und bringt Stress: Widersprüche im Denken und Fühlen für alle, die am Integrationsprozess beteiligt sind – von ihnen ist viel Ambiguitätstoleranz gefordert. Kein Wunder, dass das strukturbezogene Kernkulturkonzept mit Blick auf diese Beteiligten an seine Grenzen stößt: Die meisten Menschen halten ihre je eigene Moral für die einzig richtige und gute. Und vermutlich gilt: Je größer und hierachischer eine Gesellschaft, desto eher geraten deren kollektive Ordnungsvorstellungen in Widerspruch mit den personalen Moralvorstellungen einzelner Mitglieder. Ein Widerspruch, der sich in der Weltwirtschaft zum Paradox ausweitet. Ich greife drei Untersuchungen heraus, die dieses Paradox auf unterschiedliche Art umkreisen:

  1. Im „Der Prozess der Zivilisation“ (1) zeigt Norbert Elias auf, wie der gesellschaftliche Strukturwandel im historischen Europa die Zivilisierung und eine psychische Neuorientierung der EuropäerInnen ermöglicht hat. Ein Strukturwandel, der dank verbesserter Produktions-, Transport- und Kommunikationsmittel, Waffen und Kontrollmöglichkeiten möglich wurde. Für Elias ist der gesellschaftliche Strukturwandel zwar prioritär, dennoch greift er auf Personen beziehungsweise Eliten zurück, die diesen Wandel einleiten: Die neuen Werte und Regeln, in und von der Oberschicht generiert, verbreiteten sich mit der wachsenden Zugänglichkeit von Gütern und Informationen bis in die unteren Gesellschaftsschichten. Und da steckt das Paradox: Werden Ordnungsvorstellungen im sozialen Hochoben generiert, korrespondieren sie nicht oder selten mit den Situationen jener, die Menschen im sozialen Unten zu bewältigen haben. Dennoch wurden die Werte und Regeln der Herrschenden in Form von Moralität und Recht kollektiviert und alle anderen mussten die neue Kernkultur entweder mittragen.... oder aber gegen sie opponieren (2).

  2. Maria-Sybille Lotter nimmt in ihrem Werk „Scham, Schuld, Verantwortung“ (3) ihre eigene Gilde kritisch unter die Lupe: Sie verweist auf die Kluft, die heute zwischen der universitären Moralphilosophie und jener Moral aufreißt, an der sich die Menschen in ihrer Alltagspraxis orientieren: ein „Knowing How, das sich pragmatisch entwickelt hat und nicht mit den philosophischen Moraltheorien oder Diskussionen des freien Willens zusammenfällt“ (4). Zwar blendet die Analyse die wirtschaftlichen Faktoren aus; Lotter konkretisiert jedoch den Widerspruch in beiden Richtungen: Die Kluft, die zwischen der Schulphilosophie und den moralischen Entscheidungsgrundlagen im interaktiven Alltag der Individuen aufgebrochen ist, gilt sowohl für die modernen Gesellschaften als auch mit Blick auf die Rechtspraxen, die in vormodernen Gesellschaften zur Anwendung kommen. Mir stellen sich da viele Fragen: Driften mit der Hyperglobalisierung die gesellschaftlichen Strukturen und die Ebene des individuellen Erlebens, Wahrnehmens und Denkens zunehmend auseinander? Ab wann sind die beiden Ebenen derart inkompatibel, dass sie zum Paradox mit sozialer Sprengkraft werden? Oder verschwinden mit der von der Hyperglobalisierung induzierten Hyperindividualisierung die gesellschaftlichen Strukturen, weil sie „einfach“ aus dem Blick der Individuen hinausfallen?

  3. Drew Westen blendet in seinem Werk „Self and Society: Narcissism, collectivism, and the development of morals“ (5) nicht die Wirtschaft, aber die Ökologieproblematik aus. Dennoch kommt er meinem Kernkulturkonzept am nächsten: Gestützt auf reiches ethnographisches Material, macht auch er kontextspezifische Moralitäten aus. Er unterscheidet zwischen einer primär und einer sekundär kommunitären Moralität - Begriffe, die ich von ihm übernommen, wenn auch ein wenig anders konkretisiert habe (6). Drew Westen versteht die individuierte Moralität, die bei uns im Westen gilt, ebenfalls nicht als eine Höherentwicklung des Menschen, sondern macht dahinter wie ich die kapitalistische Entwicklung, fortschreitende Technologie und Wissenschaft aus. Schließlich zeigt auch er, dass Individuen ihre personale Moral stets im Kontext einer gesellschaftlichen Moralität ausbilden. Und er macht sogar ein Paradox aus. In seinen Worten: „Morality is the product of human beings in social interaction. It represents a reconciliation of the needs of self and other, indiviudual and society, and is bound to do an injustice to one or the other. Such is the nature of human existence.“ (7)

Die Person – zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlicher Moralität

Im Kernkulturkonzept sind die kollektiven Ordnungsvorstellungen, die im interaktiven Bezug generiert werden, strukturbedingt und kontextspezifisch formiert: Sie können sich, müssen sich aber nicht, in der personalen Moral der einzelnen Gesellschaftsmitglieder niederschlagen. Und weil wir nie wissen können, was ein einzelner Immigrant oder eine spezifische Immigrantin für Ordnungsvorstellungen mit sich bringen, gilt es, den Blick umzukehren und zwar radikal:

Steht ein immigriertes Individuum vor uns, geht es darum, die Welt zunächst möglichst präzise durch dessen Brille, also von unten und von innen, zu erfassen – ohne darüber die eigene Position und den eigenen Blick zu vergessen. Dazu habe ich ein ökologisches Personenmodell (vgl. Abb.) mit entsprechendem „Mobiliar“ ausgearbeitet: mit Begriffen, die sich an psychischen Strukturen und psychologischen Dynamiken orientieren, die wir Menschen transkulturell miteinander teilen. Dieses innere „Mobiliar“ sieht dann in etwa so aus:

  1. Vererbtes: Gene, die der Person individuelle (Größe, Haarfarbe, Temperament etc.) und arttypische Besonderheiten bringen. Die unelastischen Bedürfnisse gehören genauso dazu wie die Vitalenergien Narzissmus und Aggression: Narzissmus, hier nicht als Pathologie verstanden, sondern als das Streben nach Status und Anerkennung, nach Sinn und Bedeutung; Aggression als Destruktions- und Bewältigungsenergie gefasst, denn zum Überleben sind wir auf beides angewiesen.

  2. Erworbenes: Alles, was eine Person in Reaktion auf ihren Kontext lernt. Dazu gehört unter anderem die „Kultur“: die kollektiven Vorstellungen von der Welt und ihren Menschen, die dem Individuum sowohl über Sprache, Religion, Wissen, Musik, Dichtung etc. als auch qua Technik und Technologie vermittelt werden. Kulturelemente, die beliebig sind, heißen „Lebensstile“,„Kernkultur“ hingegen transportiert „Moral“: das Recht und die Moralität, welche die Befriedigung der unelastischen Bedürfnisse verbindlich organisieren.
    2a) Früh Erworbenes: zum Beispiel die „Moral“ und vieles, was wir von Geburt an bis zum Abschluss der Adoleszenz lernen, ist prägend - wenn auch mit abnehmender Kraft.
    2b) Aktuell Erworbenes hingegen ist - mit Ausnahme von traumatischen Erfahrungen - variabel: Lebenslang kann dazugelernt und bereits Gelerntes vergessen oder wieder verändert werden. Es: Der unbewusste, triebhafte Teil der menschlichen Person.
    2a) Gewissen: Seine Wurzeln gehen zurück bis in die Säuglingszeit (8), doch erst am Ende der Adoleszenz ist das Gewissen voll ausgebildet, kann aber unter Umständen lebenslang verändert werden.
    Ich unterscheide zwei Pole: Während sich das Über-Ich in Reaktion auf die Normen ausbildet, die von Familie, Schule, Gesellschaft in Form von Moral, von Geboten und Verboten vermittelt werden, ist das Ich-Ideal an Vorbildern orientiert, die das Individuum persönlich auswählt: Vorgaben, wie es sein und werden möchte. Damit wird deutlich: Das Individuum bildet zwar seine personale Moral in Reaktion auf ein kontextspezifisches Umfeld mit entsprechender Kernkultur aus, doch ist sein Gewissen eine höchst individuelle Angelegenheit.
    Wichtig im Kulturkontakt: Die personale Moral wird narzisstisch und aggressiv besetzt. Das Über-Ich reagiert auf Normbrüche mit Schuldgefühlen und Strafen, während das Ich-Ideal mit Scham antwortet, werden seine Ideale verletzt. Wirft man uns Verrat oder Versagen an diesen Idealen vor, reagieren wir, wenn wir die Vorwürfe als unstimmig erachten, gekränkt und unter Umständen aggressiv. Kurz: Die personale Moral wird mit eigenen Vitalkräften besetzt und ist gleichzeitig tief und dunkel kulturell eingefärbt. Wenn nun Immanuel Kant den Individuen in Sachen Moral so etwas wie absolute Autonomie unterstellt hat, so ist das meines Erachtens eine narzisstische, ja selbstherrliche Selbsttäuschung. Denn ausgerechnet die Moral ist, so lange sie struktur-, kultur- und selbstblind daherkommt, das größte Hindernis für die interkulturelle Verständigung. So bräuchten wir dringend eine neue, weniger selbstherrliche beziehungsweise ego-zentrierte Aufklärung.

  3. Das Ich ist jene Instanz, die Wahrnehmungen registriert und ordnet sowie die Reaktionen auf Impulse von innen und von außen steuert. Weil das Ich drei strengen Zwingherren genügen soll - der Außenwelt, dem Über-Ich und dem Es, hat Freud dessen Aufgaben ironisch kommentiert: Er hat dem armen Ich „die lächerliche Rolle des dummen August“ zugebilligt, „der den Zuschauern durch seine Gesten die Überzeugung beibringen will, dass sich alle Veränderungen in der Manege nur infolge seines Kommandos vollziehen. Aber nur die Jüngsten unter den Zuschauern schenken ihm Glauben.“ (9)
    Idiosynkrasien bezeichnen die „eigenartigen“ Antworten und „eigensinnigen“ Vorstellungen, die das Ich in Reaktion und in Bezug auf seine ererbte und erworbene Ausstattung, seine Biographie und den kulturellen Kontext ausbildet. So reagiert jedes Individuum auf das, was es an Gewissen und Ausstattung zu tragen hat, sowie auf die Angebote und Forderungen seiner Umwelt auf seine einzigartige Art. Laufend werden Faktoren aus der Umwelt und Ausstattung selektiert und grad so arrangiert, wie es dem Ich grad zu pass kommt. Individuen haben also – weit mehr unbewusst als bewusst – nicht nur ihre eigenen Welt-, Menschen- und Selbstbilder, sondern sie schustern sich aus der kontextspezifischen Moralität auch ihre personale Moral. Eine Moral, die sowohl im positiven Bezug als auch im Kontrast zum familiären Umfeld und zur herrschenden Kernkultur einer Gesellschaft stehen kann.

  4. Der Zugriff auf Ressourcen ist entscheidend dafür, wie eine spezifische Gesellschaft „Kernkultur“ konkretisieren kann – in der Abbildung dunkel eingefärbt, weil der Blinde Fleck das sowohl der meisten Individuen ist als auch der Rechts-, Sozial-, Human- und Geisteswissenschaften. Das ökologische Personenmodell ist also ein Wink mit dem Zaunpfahl! Bislang haben Gesellschaften ihre Kernkultur stets auf der Basis ihres Wirtschaftsvermögens konkretisiert (10) und territorial definiert und aus eigener Kraft darauf geachtet, dass ihre Mitglieder mit entsprechenden Ordnungsvorstellungen und Kompetenzen ausgestattet sind.
    Dafür, dass die einstige kernkulturelle Vielfalt heute so konfliktbesetzt ist, sorgt die hyperglobalisierte und hyperverlinkte, aber hoch ungleiche Weltwirtschaft. Ich meine zu erkennen, wie der Zugriff auf die Ressourcen sich von den territorial verankerten Machtstrukturen hin zu einer globalen und exklusiven Hors-Sol-Elite, WissenschafterInnen eingeschlossen, verschiebt: Die Machtbasis dieser Elite bilden unter anderem die transnationale Kapitalzirkulation, die zunehmende Finanzialisierung der Wirtschaft, die Kapitalisierung sämtlicher Lebenszusammenhänge: Landschaften, Wasser, Blumen, Bienen... Wenn nun derzeit die territorial hoch unterschiedlichen Rechts- und Moralitätsvorstellungen, die im Kulturkontakt aufeinanderprallen, dämonisiert und idealisiert werden, so ist das dreifach tragisch. Tragisch, weil wir EuropäerInnen auf diese Weise die Konfliktursachen ausblenden: Es sind unsere Weltwirtschaft und unser Überkonsum, die dieses Tohuwabohu verursachen. Tragisch, weil der Westen, so lange er die Konfliktursachen ignoriert, weiterhin seine unsinnigen Kriege gegen die globalen Ränder führt. Tragisch, weil wir uns so alle - von rechts und konservativ über christlich-sozial liberal und bis zu links und grün - zu Steigbügelhaltern jener globalen Hors-Sol-Elite machen, die ihre Macht über das Trugbild des ewigen Weiterwachsens neoliberal stabilisiert und immer näher an den Abgrund steuert. Das Kernkulturkonzept ist der Versuch, ein wenig Ordnung in dieses Chaos zu bringen.

Stolpersteine auf dem Weg zur Integration: Kernkultur als Pfunzel im eigenen Dunkel

Trotz Chaos steigen die Chancen für interkulturelle Verständigung, wenn jene, die sich um die Integration der Neulinge bemühen, zuerst in Erfahrung bringen, wie eine immigrierte Person sich selbst und die Welt erlebt, sieht und versteht. Erst nachher kann dem Neuling anschlussfähig unsere moderne Kernkultur vermittelt werden. Sind wir zur symmetrischen Betrachtung und horizontalen Vermittlung nicht im Stande, scheitert der interkulturelle Verständigungsprozess. Auf dem Weg zur Integration gibt es zahlreiche Stolpersteine auf unserer Seite. Im Folgenden will ich kurz auf einige hinweisen.

Zu den Fremdenfeinden nur kurz: Sie können sich interkulturell nicht verständigen, weil sie ein autoritäres Rechtsverständnis haben – verkürzt: Nur die eigene Welt beziehungsweise Kernkultur ist gut, alles andere ist des Teufels. Krankhafte Vorteilshaftigkeit lautet die Kurzdiagnose.

Ich will mich hier auf zwei Bevölkerungssegmente konzentrieren, die sich in der Schweiz häufig für den Integrationsprozess engagieren – bei beiden kommen gruppenspezifische Stolpersteine vor.

  1. Die erste Gruppe (11) rekrutiert sich aus „NormalschweizerInnen“: Handwerker, Hausfrauen, aktive Gemeindemitglieder etc. Sie halten Integrationsarbeit für ihre Pflicht. Die Schweizer Kernkultur ist für sie aus zwei Gründen wichtig und richtig: Entweder weil sie die hiesigen Ordnungsvorstellungen als wirtschaftlich und demokratie-politisch überlegen erachten oder aber, weil sie einfach gut und gerne oder fraglos in der Schweiz leben. In dieser Gruppe wird oft strafend auf Fremde reagiert, wenn diese hiesige Normen verletzen: Frauen, die Kopftücher tragen, Muslime, die den Frauen die Hand zum Gruß verweigern. Und soweit unser Gleichstellungsverbot verletzt ist, haben die Neulinge ja effektiv dazu zu lernen. Das können sie aber nur, wenn wir unsererseits lernen, dass beide, Kleidung und Geste, auf der Gegenseite ebenfalls moralisiert sind: Zeichen von Würde - Selbstrespekt und Respekt. Dieser Stolperstein kann mit dem Kernkulturkonzept relativ rasch ausgeräumt werden. „Normalos“ haben zu ihrem eigenen Schutz zu lernen, dass Menschen mit ihrer personalen Moral und Kultur tief und dunkel liiert sind. Werfen wir einer Person Regelverletzungen vor, die gegen ihr Ich-Ideal verstoßen, reagiert sie gekränkt und aggressiv. Besonders, wenn der oder die Betroffene die Welt ganz anders sieht und beurteilt als das vorwerfende Gegenüber. Das kann zum Beispiel im Fall von Männern aus den sogenannten Ehre-Schande-Regionen gefährlich werden: Menschen sind nie so gekränkt und verletzt, wie wenn das, was sie mit enormer moralischer Anstrengung erbringen und aus der je eigenen Perspektive als besondere Leistung erachten, abgewertet, ja verhöhnt wird. Als lokal Verwurzelte mit der Schweizer Kernkultur identifiziert, sind aber „Normalos“ a priori mit der Pfunzel Kernkultur vertraut. Die Integrationsaufgabe meistern sie mit Bravour, wenn sie nicht nur heimatliebend, sondern auch weltoffen und neugierig sind. Und da sind sie meisten von ihnen abzuholen. Um sich aber konstruktiv, manchmal auch kritisch verständigen zu können, lernen sie, interkulturelle Irritationen korrekt zurückzumelden: Statt die fremde Person zu beurteilen oder zu verurteilen, melde ich ihr in erster Person, wie ich ihre Handlung erlebe.
  2. Die zweite und weit größere Gruppe besteht aus UniversalistInnen: Sie kümmern sich mit Begeisterung um die Neulinge, halten aber ihre eigenen Ordnungsvorstellungen für universell. Ihr Mantra lautet: Alle Menschen sind gleich! Konkret meint das: Alle Menschen sind, was die Moral betrifft, weltweit exakt gleich formiert. Diese Konkretisierung ist falsch, führt aber dazu, dass manche UniversalistInnen die Pfunzel „Kernkultur“ verschmähen. Sie merken nicht, dass das Konzept die Menschen ebenfalls als gleichwertig konzipiert und als Personen erachtet, die weltweit die gleichen Potenziale haben. Menschen sind nur insofern ungleich, als ihre Anlagen in der hoch ungleichen Weltwirtschaft kontextspezifisch mobilisiert, sozialisiert und moralisiert werden. Ein Blick auf die Ränder der Weltwirtschaft und in unsere eigene Vergangenheit würde genügen, um die entsprechenden Fakten zu entdecken. Warum verbieten sich ausgerechnet die überdurchschnittlich gebildeten UniversalistInnen diesen Blick? Weil die Pfunzel Kernkultur zu sehr ins Dunkel der eigenen Welt und Person leuchtet? Weil sie Schuldgefühle abwehren? Statt die konfliktträchtigen Unterschiede ernst zu nehmen, setzen sich UniversalistInnen oft ab in den Himmel jener postkonventionellen Moral, wie er von Kohlberg (12) propagiert wurde. Kohlberg hat die moralische Entwicklung von Individuen erforscht, in Stadien beziehungsweise Stufen eingeteilt und diese strukturblind hierarchisiert. Das postkonventionelle Stadium der Moral, die höchste Stufe, erreichen nur ganz wenige: UniversalistInnen, deren moralisches Handeln im Einklang ist mit ethischen Prinzipien wie „zwischenmenschliche Achtung“, „individuelle Würde“. Das sind ohne Zweifel wichtige Werte, aber abstrakte Prinzipien und keine konkreten moralische Regeln.

Wie bereits erwähnt: Diese abstrakt-logischen Prinzipien der westlichen Schulphilosophie haben im Alltag kaum Bedeutung: Zum einen sind sie vorab für jene wichtig, die gut situiert und positioniert in den Kapitalzentren leben; zum andern sind sie weit weg von beiden: sowohl von der Lebensrealität an den weltwirtschaftlichen Rändern als auch vom alltäglichen Durcheinander, mit dem sich bei uns „das gewöhnliche Volk“ abrackert. Auch dazu einige Beispiele:

  • Wer einmal in Regionen gelebt hat, in denen es keine Toiletten gibt oder als größter Luxus eine einzige Dorftoilette - selbstverständlich eine zum Stehen, der wird sich über die Wut einer einheimischen Toilettenfrau nicht wundern: Auf unseren Sitzklos stehen nämlich Frauen aus weltwirtschaftlichen Randregionen häufig auf die Brille - arme Putzfrau!
  • Vermieter, die ihre Wohnungen ungern an Personen von den weltwirtschaftlichen Rändern abgegeben, haben oft „gute“ Gründe dafür: Kaum einer der Neulinge weiß, wie man einen Parkettboden behandelt. Häufig sind Klo und Lavabos verstopft, weil alles hinuntergespült wird: Binden, Windeln etc. Unrat im und ums Haus zieht Kakerlaken und Ratten an. Ein Lied davon zu singen weiß, wer, wie ich, 9 Jahre lang Unterkünfte für Asylsuchende geleitet hat.
  • Die Bademeisterin (13), welche „die“ Juden bittet, sich vor dem Gang ins Schwimmbad zu duschen, ist nicht a priori eine Rassistin. Im Alltag kommt es aufgrund der unterschiedlichen Lebensstandards und Kulturpraktiken oft zu vertrackten, weil missverständlichen Situationen. UniversalistInnen blenden das alles aus, weil sie ihre Ordnungsvorstellungen für universell halten und in Mittelschichtjobs arbeiten. Überdurchschnittlich gebildet, sind sie im Vergleich mit RassistInnen und NormalbürgerInnen aber mit differenzierteren Menschen- und Weltbildern ausgestattet. Und die „Moral“ wird ihnen weder von einem überstrengen Überich diktiert noch agieren sie aus Strafangst. Weit mehr Gewicht als das norm-orientierte Überich hat das Ich-Ideal, das ja nur bedingt mit der kontextspezifischen Moralität korrespondiert. Darüber hinaus sind UniversalistInnen oft links oder liberal sowie individualistisch und idealistisch orientiert: Ihre Menschen- und Weltbilder sind den eigenen Wunschvorstellungen nachempfunden und deshalb narzisstisch besetzt – wehe nur, wenn den Idealen die Realität in die Quere kommt! UniversalistInnen sind mehrheitlich strukturblind: Obwohl für die globale Ungleichentwicklung sensibilisiert, glauben sie fest daran, die laufende Einwegmigration sei eine gute Sache, weil sie das Gefälle ausgleiche - das Gegenteil ist der Fall! (14). Und wenn man nicht wahrnehmen darf, dass „vor Ort“ andere Ordnungsvorstellungen und Praktiken gelten als in den Kernländern Europas, behindert das die Integration.
  • Zum Beispiel wird dann keine Präventionsarbeit geleistet, sondern im Nachhinein als psychisch gestört abgestempelt, wer sich nicht an hiesige Regeln hält: der Kosovare, der seine Frau und deren Liebhaber tötet; der Pakistaner, der seine Tochter umbringt, weil sie beim Ladendiebstahl erwischt wurde – sie wurden als psychisch krank deklariert. In jenen Tötungsfällen, die ich kenne, wurden stets die Ich-Idealvorstellungen von Immigranten verletzt und zwar ausgerechnet von links-liberalen Berufspersonen, die den Integrationsprozess hätten begleiten sollen.
  • Zum Beispiel werden die Neulinge zwar in die Rechte, aber kaum in die Pflichten der modernen Kernkultur eingeführt. Selten wird ihnen die Organisations- und Finanzierungsstruktur vermittelt, auf denen unsere wohlfahrtsstaatlichen Solidar- und Sozialleistungen basieren; erst recht nicht die Moralitätsvorstellungen, die für deren nachhaltige Nutzung nötig sind. Ist das der Grund dafür, dass nach 5jährigem Aufenthalt in der Schweiz durchschnittlich 80 Prozent der Flüchtlinge und Vorläufig Aufgenommenen (15) noch nicht arbeiten? Würde die Pfunzel Kernkultur benutzt, könnten beide Stolpersteine umgangen werden. Selbstverständlich haben aber auch UniversalistInnen Potenziale, die den Integrationsprozess begünstigen. Um hier nur zwei ihrer besonderen Stärken zu nennen:
  • Als BetreuerInnen sind sie von ihren KlientInnnen überzeugt und halten unentwegt zu ihren Schützlingen. Mit ihrer Zuneigung und Anteilnahme geben sie diesen viel Kraft, ja verleihen ihnen manchmal Flügel. Damit wird viel erreicht, oft sogar sehr viel. Das Potenzial der UniversalistInnen ist jenem von Müttern und Vätern vergleichbar, die ihre Kinder narzisstisch besetzen und fördern. Auch Sozialarbeiterinnen und Psychologen machen ihre KlientInnen gern zum narzisstischen Objekt. Das ist so lange problemlos, als Professionelle Engagement und Distanzierung (16) sorgsam ausbalancieren. Eine junge Somalierin, die zu einer kritischen Rückmeldung an ihre einstigen BetreuerInnen aufgefordert wurde, meinte dazu leise ironisch: „Ihr wart für mich ein richtiger ‘Anthropophilenhaufen‘! Aber zu wenig streng! Es wäre gut, wenn Ihr Euch künftig weniger blenden lassen würdet von Eurer Hilfsbereitschaft.“
  • Auch in der pauschalisierenden Annahme, alle Menschen seien gleich, steckt eine eigene Kraft. Als Abstraktum zwar ungeeignet, um die Neulinge in die europäische Kernkultur zu integrieren, wird damit jedoch zu recht daran festgehalten: Menschen haben weltweit dieselben Potenziale und das gleiche Recht auf eine Welt, in der sie ihre Potenziale optimal entfalten können. Und so hoffe ich, dass UniversalistInnen eines Tages zu „RealutopistInnen“ werden: Statt ihre Hilfe nur auf Personen zu konzentrieren, die den Weg in Europas Konsumparadiese schaffen, würden sie dann endlich mehr Kraft dafür aufwenden, die Weltwirtschaft so umzugestalten, dass die Lebenschancen in Nord und Süd künftig strukturell ausgeglichen sind.

Das wiederum gelingt nur, wenn wir auch unsere moderne Kernkultur umbauen. Denn auch dieses Paradox steckt im Kernkulturkonzept: Zwar hilft die Pfunzel „Kernkultur“, die Neulinge im Hier und Jetzt Europas zu integrieren, doch ist unsere moderne Kernkultur weder sozial noch ökologisch nachhaltig. Wer „Kernkultur“ als Lichtquelle nutzen will, der arbeitet gleichzeitig daran, sie so zu verändern, dass die Menschen auch in entfernten Regionen eine Zukunft haben: eine Zukunft auf einem Planeten mit vielfältigen Lebensformen, die sich über Millionen von Jahrhunderten in seinen geographischen und klimatischen Zonen ausgeformt und eingenistet haben. Dazu wäre allerdings, ganz antikapitalistisch, Respekt vor der Zeit nötig!

Es gibt eine letzte Gruppe, die dem Kernkulturkonzept manchmal misstraut: Sie befürchtet, das Individuum werde damit zu einer Art Blinddarm der Gesellschaftsstruktur degradiert – dieses Misstrauen verdient eine Auszeichnung! Ich werde nun aufzeigen, weshalb.

Die Arbeit mit Menschen ist sowohl eine Wissenschaft als auch eine Kunst.

Zuerst will ich klären, was ist am Kernkulturkonzept wissenschaftlich ist. Fokussiert werden vorab die sozialen, politischen, wirtschaftlichen Machstrukturen: Strukturelemente, die von der systematischen Sozialwissenschaft mit statistischen Daten (17), Methoden und Fakten (18) beschrieben werden, aber effektiv nur einen Teil der Realität abbilden. Darüber hinaus basiert das Kernkulturkonzept auf „weicheren“ Instrumenten der Ethnologie, die jenseits der strengen Systematik liegen: auf ethnographischem Material und teilnehmender Beobachtung. Mit dem Konzept korrespondieren auch Beobachtungen und Resultate aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen. Die Philosophin Lotter kommentiert das Verhältnis zwischen vormodernem und modernem Recht so: „Aus einer dünnen Beschreibung dessen, was es heißt, ein Recht zu haben, folgt nicht, dass Personen überall dieselben Rechte oder auch nur Rechte in demselben Sinne haben.“ (19) Sie nutzt Begriffe von Michael Walzer (20): „Dünn“ ist für ihn eine Beschreibung, die Phänomene nur minimal erfasst, dafür transkulturell gilt. Die „dünne Beschreibung“ ist abstrakt und kommt aus dem Außerhalb. Die „dichte“ Beschreibung hingegen erfolgt „von Innen“ heraus: Sie erlaubt dichtes Verstehen, gilt aber nur für den spezifischen Kontext, weil sie die konkreten Regeln erschließt, die aus der Sicht der Mitglieder einer Gesellschaft gelten.

So kann ich jetzt das janusköpfige Kernkulturkonstrukt nochmals von anderer Seite fassen:

Eine „dünne“ Beschreibung der Ordnungsvorstellungen dient dem Konzept als Gerüst: „Kernaufgaben“ und „Kernrollen“ sind allerorts verrechtlicht und moralisiert. Geht es aber darum, die Menschen in ihrem spezifischen Kontext zu verstehen, verpflichtet das Konzept zu einer „dichten“ Beschreibung der Moralitäts- und Rechtsvorstellungen. Das janusköpfige Kernkulturkonzept ist also dünn und universell und gleichzeitig „dicht“, weil an den kontextspezifischen Konkretisierungen der „Kernkultur“ orientiert. Die dünne transkulturelle Konstruktion wird also symmetrisch durch dichte Beschreibungen ergänzt. Mit Blick auf diese beidseitig dichten Beschreibungen gilt: Die Neulinge sind die ExpertInnen für sich und ihre unter Umständen vormonetär organisierte Kernkultur; wir für die moderne Kernkultur und ihre monetär organisierten Ordnungsvorstellungen. Die Vorstellungen der dichten Art werden wechselseitig eruiert – und das geht nur im Dialog.

Zurück zum Paradox: Soll die Integrationsarbeit gelingen, setzt das nicht nur voraus, dass wir die kernkulturellen Ordnungsvorstellungen der Fremden verstehen und unsere eigenen definieren und vermitteln. Wir haben auch die Idiosynkrasien der Fremden abzuholen: jene Vorstellungen, die sie eigensinnig und eigenmächtig für sich entwickelt haben. Denn beide, kernkulturelle und idiosynkratische Vorstellungen, sind Potenziale, die es als Ressourcen für das Leben im Hier und Jetzt zu erschließen gilt (21).

Auch in dieser Hinsicht stützt sich das Kernkulturkonzept auf rezente Forschungsergebnisse ab. Hirnforscher Gerhard Roth (22) notiert zwei Resultate, die für die interkulturelle Verständigung wichtig sind: „Sprachliche Kommunikation bewirkt nur dann Veränderungen in unseren Partnern, wenn diese sich aufgrund interner Prozesse der Bedeutungserzeugung oder durch nichtsprachliche Kommunikation mit uns bereits in einem konsensuellen Zustand befinden. Wissen kann nicht übertragen, sondern nur wechselseitig konstruiert werden.“ Und: „Wir können unsere emotionalen Verhaltensstrukturen nicht über Einsicht oder Willensentschluss ändern. (...) Dies kann nur geschehen über emotional „bewegende“ Interaktion“(23).

Auch das Kernkulturkonzept stellt auf symmetrische Kommunikation ab und ermöglicht auf diese Weise konsensuelle Konstruktionen - im Dialog ausgeleuchtet und austariert.

Deshalb ist die Arbeit mit dem Kernkulturkonzept nicht nur Wissenschaft, sondern auch Kunst. Eine Kunst, weil die interkulturelle Verständigung und Vermittlung nur gelingen kann, wenn wir von dem ausgehen, was direkt vor uns steht: eine einzelne und einzigartige Person.

In der Fallarbeit werden die Fremden zum Tor zur Welt – zur eigenen und zur fremden. Und beide Welten sind randvoll mit idiosynkratischen und mit kollektiven Vorstellungen. Deshalb braucht es für diese personennahe Situation: Präsenz, Empathie, Intuition und Menschenliebe. Manchmal hilft sogar die eigentliche Kunst: Wenn Kunst berührt, kann sie bewegen.

Zur Illustration eine Schlüsselsituation, die mir Mudschahedin, afghanische Widerstandkämpfer, beschert haben. Ich war mit meinem Uno-Tross und einer Freundin aus der Schweiz in die wilden Berge gereist, wo uns ein paschtunischer Stammesführer mit über 300 Kriegern empfing. Wir Frauen wurden im Freien auf zwei himmelblaue Küchentabouretli gesetzt, die Männer - alle im Schneidersitz, jeder mit Shalwar, Kameez, Turban und einer Kalaschnikov bekleidet. Ihr Chief spielte uns - um uns Frauen ehren oder zu erschrecken, weiß ich bis heute nicht - von einem batteriebetriebenen Tonbandgerät das Kriegsgeheul seiner Männer vor: ein heldenhafter Einsatz im Kampf gegen die russischen Besatzer. Diese Situation war in derart großartiger Weise absurd, dass zuerst meine Freundin Ursula, dann auch ich zu lachen begann: „Le rire fous nous prend“, hätte ein Afrikaner gesagt. Mir war klar, dass die Situation gefährlich war und eskalieren konnte: Keine Frau lacht ungestraft einen Krieger aus!

Der Chief blickte jetzt finster unter seinen buschigen Augenbrauen hervor, ich stammelte hilflos eine Entschuldigung. Auch Ursula roch die Gefahr. Spontan zauberte sie ihre winzige Piccolo-Flöte hervor und begann ein wunderbar tragendes Spiel: wie jubelnder Lerchengesang schwangen sich die hellen Töne empor, flogen weit ins Gebirge hinauf und hinaus.

Die wilden Männer saßen da - gebannt vom Zauberklang! Ihre Gesichter wurden weich, manch einer wischte sich eine Träne ab. Zu guter Letzt begannen alle zu klatschen und zu lachen. Düsternis und tödliche Bedrohung fielen ab, so rasch verflogen wie sie gekommen waren.

Zwei Fälle: Kernkultur als Integrationsinstrument

Ein letztes Mal zurück zum Paradox. In der Fallarbeit gehört das Kernkulturkonzept „in den Senkel gestellt“ und zwar wie erwähnt: radikal: Es wird vom Vordergrund zum Hintergrund. Denn wir wissen n i e, was eine individuelle Person für Vorstellungen hat von sich selbst und von der Welt und was ein einzelner Mensch effektiv fühlt und denkt, warum er etwas tut oder lässt - im Einzelfall kann immer alles auch ganz anders sein. Was die fremde Person an kollektiver Moralität mit sich bringt und was sie sich - in Übereinstimmung oder im Kontrast dazu – in Reaktion darauf für eine personale Moral gebastelt hat, wissen wir nicht, weil sich jedes Individuum seinen einzigartigen Reim auf sich selbst und die Welt macht.

In der Fallarbeit wird „Kernkultur“ deshalb vom Konzept zum Instrument: Hilfreich, soweit es uns anzeigt, welche unserer eigenen kollektiven Ordnungsvorstellungen durch das Verhalten des Fremden verletzt werden. Mit Blick auf die fremde Person nutzen wir das Instrument als Pfunzel, die bestenfalls in jene Richtung leuchtet, in der kollektive Ordnungsvorstellungen zu erwarten sind. Und wenn wir dann die Vorstellungen einer Fremden konkret abholen, hilft uns das Instrument, die Vorstellungen der fremden Person besser zu erkunden, zu entschlüsseln, zu verstehen, um all diese Potenziale schießlich als Ressourcen für die Integration zu nutzen.

Das genannte Paradox zwingt uns aber auch, stets auf zwei Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen: die Ebene der individuellen Person und die Ebene der Gesellschaft im Auge zu behalten. Denn um die Neulinge in unsere moderne Sozialstruktur und Kernkultur zu integrieren, braucht es sowohl Verstand und Vernunft als auch emotional stimmige Bezüge: Kristallisationspunkte, die ich „Trigger Points“ nenne. Sie zu finden, ist Kunst... oder halt Zufall oder pures Glück!

Um den Fluss und Witz der Geschichten nicht zu zerstören, zergliedere ich die folgenden zwei Fallbeispiele nicht in die komplexen Einzelschritte (24), die für eine gelingende Integration nötig sind. Dennoch ein Hinweis: In beiden Fällen sind die kernkulturellen und die idiosynkratischen Vorstellungen wichtig. Motivieren lasen sich Klienten aber stets n u r mit ihren eigenen (!) Beweggründen. Es sind vorab drei Motive, die Menschen transkulturell bewegen: Der Wunsch nach einem besseren Leben (25), die Sehnsucht, großartig und edel (26) oder aber verlässlich und pflichtbewusst (27) zu sein - beides narzisstisch besetzte Ideale. Beide Fälle illustrieren, wie interkulturelle Missverständnisse und Konflikte mit der Pfunzel „Kernkultur“ aufgelöst werden können..... oder auch nicht – erst recht kommen dann die Kunst oder der Zufall zum Tragen.

Mein schrägster Fall und wie der Zufall mitmitschelt – zum Glück!

Einem Asylsuchenden aus Somalia wird die Arbeitsstelle gekündigt, weil er unpünktlich ist. Und das, obwohl der Betreuer beteuert, ihn in unsere modernen Regeln um die Erwerbsarbeit eingeweiht zu haben. Doch der Somalier ist stolz: Er greift zum Telefon und macht dem Migros-Personalchef klar, man könne ihn, den Mr. Sowieso, „nicht so ohne weiteres loswerden“. Der freundliche Chef offeriert ihm ein Gespräch: „Pünktlich um 14 Uhr in meinem Büro!“ Wer dort mehr als eine Viertelstunde zu spät aufkreuzt, ist unser Somalier: Er ist und bleibt entlassen.

Derselbe Somalier weigert sich, 60 Fr. zu bezahlen: Er hat in der Unterkunft noch nie das Treppenhaus gekehrt – eine monatliche Pflicht, die im Mietvertrag festgehalten ist. Doch das Kollektiv der Asylsuchenden in der Hausversammlung hat demokratisch entschieden, dass 10 Fr. bezahlt, wer die Treppe nicht putzt. Andere übernehmen dann die Pflicht, allerdings gegen Bezahlung – eine moderne Lösung, die uns andere Maßnahmen erspart. Inzwischen sind 6 Monate verstrichen und der Somalier hat alle Ermahnungen in den Wind geschlagen - weder die Treppe gekehrt noch bezahlt. Die BewohnerInnen der Gemeinschaftsunterkunft sind empört. Der Sozialarbeiter, der für die Unterkunft verantwortlich ist, entschließt sich, dem Somalier den geschuldeten Betrag von der Sozialhilfe abzuziehen - allergrösster Protest! Empört über die Zumutung, 60 Franken zu bezahlen, will der Somalier, einmal mehr und selbstverständlich, mit dem Chef sprechen.

Als Chefin der Foyers, so hießen die Unterkünfte für Asylsuchende in Zürich, war ich vorgewarnt. Was ich als Ethnologin und aufgrund meiner Fallerfahrungen über Somalia wusste:

Die somalische Gesellschaft ist in Clans gegliedert: sowohl innerhalb als auch zwischen den Clans existieren Hierarchien - die Ordnungsvorstellungen und Loyalitäten sind also nicht nur in verbindlichen Primärrollen, sondern unter Umständen in den Rollen von Master und Servant konkretisiert. Sollte sich der Somalier als „Master“ erachten, könnte das erklären, weshalb er weder pünktlich sein kann noch die Treppe kehren will. Diese Vermutung wird von drei Episoden bestärkt, die mir der Foyer-Verantwortliche berichtet. Der Somalier, der sich bei seiner Ankunft zunächst unheimlich beflissen gegeben hatte, irritiert längst mit einem „unsäglichen Getue“.

  • Der Somalier, nennen wir ihn Abuk, bittet den Foyer-Verantwortlichen, für ihn einen Brief zu schreiben: Dem Chef des Bundesamtes für Migration sei zu erklären, dass nicht etwa ein Herr Abuk, sondern ein Herr Cabuk in die Schweiz eingereist sei. Der Foyer-Verantwortliche klärt, in der Schweiz sei das nicht weiter von Belang, denn in unserem 4-sprachigen Land könne jeder die Aussprache seines Namens an Ort und Stelle bekanntgeben. Als er dann abends die Ehefrau des Somaliers trifft, grüßt er sie freundlich: „Good evening, Mrs. Cabuk.“ Zu seiner Überraschung will sie nichts von der neuen Aussprache ihres Namens wissen.
  • Mr. Abuk alias Cabuk will ein neues Bett, weil er in jenem, das in seinem Zimmer steht, partout nicht schlafen kann. Der Foyer-Verantwortliche steigt mit ihm in den Estrich hinauf und zeigt auf ein Bett, das er künftig nutzen kann. Allerdings muss der kräftige Mann das Gestell und die neue Matratze eigenhändig beziehungsweise mit Hilfe von Kollegen transportieren. Doch der Somalier verzichtet auf das neue Bett.
  • Kaum hat Herr Abuk die neue Foyer-Stellvertreterin erblickt, begrüßt er sie begeistert mit den einschmeichelnden Worten: „I can see and feel it immediately – you are very humble!“ Wir fragen uns: Will sich Herr Abuk mit seinem uns irritierenden Getue als Master positionieren und gleichzeitig herausfinden, was für eine Rolle SozialarbeiterInnen in der Schweiz haben: Sind sie „humble servants“? Andernfalls - was sonst?

Zurück zu den 60 Franken, die Herr Abuk schuldet. Eines Morgens platzt der Somalier wutentbrannt mitten in unsere Teamsitzung. Ich bleibe cool und erkläre: „Ich habe jetzt keine Zeit für Sie. Wenn Sie Ihr Anliegen mit mir besprechen wollen, haben Sie vorher mit mir telefonisch einen Termin zu vereinbaren und dann, bitte, pünktlich zu erscheinen.“ Zudem sei es in der Schweiz üblich, dass man zuerst anklopfe und dann respektvoll vor der Türe warte, bis man hereingebeten werde, füge ich höflich, aber bestimmt hinzu. Ich hoffe, mich mit diesem Verhalten klar im sozialen Oben der transkulturell gültigen hierarchischen Kernrollenstruktur zu positionieren.

Zwei Tage später, am telefonisch ausgemachten Termin, sitzt Herr Abuk vorzeitig und brav auf der Wartebank. Ich zeige ihm, wie sehr mich das freut, und bitte ihn freundlich in mein Büro. Sofort überfällt er mich mit seiner Klage wegen der 60 Fr. Ich bitte ihn, damit noch zu warten. Zuerst erkundige ich mich nach dem Wohlbefinden seiner Familie. Dann kläre ich das Ziel der Sitzung, den Verlauf und vereinbare mit ihm einige Grundregeln für die Verständigung. Jetzt erst wird er als Person zum Thema. Zuerst teile ich ihm mit, was ich bereits über ihn weiß: Dass er seine Stelle verloren hat, weil er unpünktlich war. Ich füge hinzu, dass ich ihm gerne den Grund mitteilen würde, den ich hinter seiner notorischen Unpünktlichkeit vermute. Gnädig deutet er an, dass er mir Offenheit erlaubt: „Sie konnten nicht pünktlich sein, weil Sie ein Master sind - niemand hat einem Master zu befehlen.“ Herr Abuk strahlt und nickt und reagiert prompt: „Aber haben Sie gesehen, dass ich heute fünf Minuten früher gekommen bin und auf Sie gewartet habe?“ Ich bedanke mich höflich für die mir erwiesene Ehre. Nun kann er endlich seinen Ärger mit der Putzregelung und dem Geld vorbringen. Er äußert den Verdacht, dass er nur wegen seiner Dunkelhäutigkeit zum Putzen verurteilt werde. Ich lobe ihn dafür, dass er auf der Hut ist: „Rassismus komm überall vor, auch in der Schweiz!“ Aber ich mache ihn dann darauf aufmerksam, dass die Treppenreinigung im Mietvertrag vorgeschrieben ist, und ich füge hinzu: „Die Möglichkeit, sich mit 10 Fr. vom Putzen zu dispensieren, wurde von der Hausversammlung entschieden – einem Gremium, in dem Menschen aus allen Kulturen und von unterschiedlicher Hautfarbe sitzen: Diese Putzregel gilt für alle und für alle gleich. Auch für Sie, Herr Abuk!“, stelle ich klar. Er entgegnet, er sei gegen diese Regel gewesen. Erneut braucht es eine Klärung: Die Regel sei, entweder nach Mietvertrag selber putzen - oder aber 10 Fr. in die Gemeinschaftskasse zu zahlen. Herr Abuk klagt, das sei ihm zu wenig klar gewesen.

Ich erkundige mich, wie denn in Somalia Entscheidungen gefällt werden. Herr Abuk: „Es gibt Versammlungen, aber entschieden wird von jenen, die wichtig sind: Alte, ranghohe Männer, unter Umständen gehören auch respektable alte Frauen dazu; jüngere und weibliche Personen haben allerdings in der Regel nichts oder nur wenig zu sagen.“ Ich hake nach: „Wir haben in der Schweiz eine Direkte Demokratie und da bestimmt die Mehrheit, was passiert: Erwachsene – Junge, Alte, Frauen, Männer, darunter inzwischen sogar Dunkelhäutige! Beim Abstimmen aber sind bei uns alle gleich.“ Ich betone, dass diese Form der Entscheidungsfindung in der Schweiz auch von jenen respektiert wird, die in der Abstimmung unterliegen: „Fürs Zusammenleben braucht es Respekt für Personen und für Regeln.“

Damit ist der Somalier zu 100 Prozent einverstanden - auch die somalische Kernkultur basiere auf Respekt, berichtet er stolz. Noch gibt er sich nicht geschlagen: Die 60 Fr. will er erst bezahlen, wenn das explizit im Mietvertrag steht. Das hieße, sämtliche Mietverträge mit den Asylsuchenden so abzuändern, dass nicht nur die Pflicht zur Treppenhausreinigung, sondern auch das Kompensationsgeld von 10 Fr. erwähnt wird. Das aber passt mir nicht, kann doch dieser Beschluss von der Hausversammlung jederzeit wieder geändert werden. Ich sehe meine Felle davonschwimmen und gerate ins pure Improvisieren: „Sie haben recht, Herr Abuk, für das Zusammenleben braucht es präzise Informationen, klare Verträge und Regeln und den nötigen Respekt – sowohl für die Regeln als auch für die betroffenen Menschen. Aber der Alltag kann nicht bis ins letzte Detail schriftlich geregelt werden. Für ein gelingendes Zusammenleben braucht es mehr: Aufmerksamkeit, Zuwendung, Humor .... and, last but not least, a kind of generosity!“

Nun passiert Verblüffendes – es kommt zu einem hoch emotionalen Drehmoment. Beim Wort „generosity“ verneigt sich Herr Abuk mehrere Male, wiegt seinen Oberkörper wie im Gebet vor und zurück, zückt sein Portemonnaie.... und zaubert die 60 Fr. auf den Tisch. Offensichtlich habe ich mit diesem Wort einen kernkulturellen Trigger-Point getroffen - jenen Wert, an den in Somalia die Pflicht zur Solidarität gebunden ist, die über die familiären Bande hinausgeht: Sie ist nicht nur religiös legitimiert, sondern auch abhängig von der Positio. Während in der Schweiz die Pflicht zu Steuer- und Lohnabgaben formal-rechtlich normiert und schriftlich kodifiziert ist, passiert in Somalia die überfamiliäre Solidarität auf der Basis von Generosität. So kann ein Master zwar von manchen anderen Leistungen beanspruchen, ist jedoch gleichzeitig dazu verpflichtet, sich gegenüber diesen Servants als generös zu erweisen. So ist Generosität allseitig und positiv besetzt.

Mein schönster Fall: Glaube und Liebe als Quellen von Kraft, Intuition und Kunst

Der Somali-Fall hat gezeigt, wie das Ich-Ideal eines Fremden zu einem tragenden Element für die Verständigung und Integration werden kann. Das Integrationsinstrument dazu trägt den Namen „Weißer Zauber“ und ist an narzisstischen Größenwünschen orientiert. Zum Schluss sei das nun mit dem bereits im Teil 1 erwähnten Fall illustriert.

Eine bi-kulturelle Ehe droht zu zerbrechen, weil der afghanische Mann an seinen teils religiös, teils traditional legitimierten Ordnungsvorstellungen festhält. Seine schweizerische Ehefrau klagt, ihr Gatte drohe, die Tochter zu töten, falls diese nicht mehr jungfräulich sei – eine gefährliche Situation. Ich kann das Problem allerdings nur bearbeiten, wenn der Vater persönlich kommt. Und er kommt! Und zwar, weil er weiß, dass ich in Pakistan mit Paschtunen gearbeitet habe. Ein tief religiöser Mann steht vor mir. Klar, dass er mich früher oder später fragen wird, ob ich gläubig bin.

Zu Beginn vereinbaren wir das Beratungsziel: Vater, Mutter und Tochter können wieder offen und ehrlich miteinander reden. Unser Arbeitsvertrag enthält vier Regeln:

  1. Was ich über seine Frau und Tochter weiß, bleibt bei mir - kein Hintertragen!
  2. Wenn er etwas nicht versteht, fragt er nach; ich mache meinerseits dasselbe.
  3. Fragen zu meiner Person beantworte ich offen und ehrlich - soweit wichtig für die Beratung.
  4. Falls er wütet und schreit, ist das schwierig, aber okay, so lange er im Beratungszimmer bleibt.

Bereits beim zweiten Gespräch kam die Gretchen-Frage: Wie haben Sie’s mit der Religion? Ich antworte intuitiv: „Weil ich Ihnen in für Sie wichtigen Frage Offenheit versprochen habe, gestehe ich, dass ich zwar christlich erzogen, aber früh zu einer Art Ungläubigen wurde. Als ich nämlich in der Sonntagsschule von der Heiligen Familie im Himmel erfuhr, dachte ich: Aber nicht mit mir! Denn ich komme aus einer schwierigen Familie: der Vater gewalttätig, die Mutter psychisch krank. Ich konnte mich kaum für eine Familie im Himmel begeistern, hatte ich doch mit beiden Eltern bereits hienieden genug zu tun. Wenn Gott wirklich groß und allmächtig ist, dann ist er keine Person, so habe ich mir das damals vorgestellt. Später stellte ich mir unter Gott dann ein Prinzip vor – eine Art sich selbst schöpfender Schöpfungsprozess, der in mir Ehrfurcht auslöst und mir Achtsamkeit und Respekt abfordert.“ Der Muslim hörte ernst und aufmerksam zu. Aber obwohl Allah im Islam keine Person, sondern ein Prinzip ist, spürte ich, dass er noch kein Vertrauen zu mir gefasst hatte – zu abstrakt war meine Formulierung! Spontan fügte ich hinzu, dass ich diesem Prinzip insofern nachlebe, als ich, zum Beispiel auf dem Weg zur Tramhaltestelle, Schnecken und Regenwürmer zur Seite trage, damit sie nicht achtlos zertreten werden.

Der Mann strahlte mich an: „Das ist Gottesdienst!“ Seine Mitarbeit war mir jetzt sicher.

Mit dem Kernkulturkonzept lernte er, die Ordnungsvorstellungen in Afghanistan und in der Schweiz als gleichwertig zu verstehen. Der große Unterschied: Wir sind reich, sie sind arm - für den hoch moralischen Mann sichtlich eine Genugtuung - nicht schlechter, nur ärmer! Auch dass beide Ordnungen, die vormoderne und die moderne, in ihrem jeweiligen Kontext Sinn machen: ein Afghane, der wünscht, dass seine Tochter jungfräulich bleibt, ist kein schlechter Vater. Zu Hause würde er sogar als guter Vater gefeiert. Freiwillig in die Schweiz gekommen, könne er, nach über 20 Jahren erfolgreicher Berufstätigkeit, mit seiner Familie auch nach Afghanistan zurück, gab ich ihm zu bedenken. Doch der Lebensstandard ist in der Schweiz höher. Er will „besser Leben“, das heißt hier bleiben. Seine Tochter soll eine Berufslehre absolvieren und ein erfolgreiches und verlässliches Mitglied der Schweizer Gesellschaft werden. So lernte er sukzessive, warum es in der Schweiz zwar keine besseren, aber andere Moral- und Rechtsvorstellungen gibt als im afghanischen Hinterland: Verbindliche Geschlechts- und Generationenrollen dort, samt Geschlechtsrollenhierarchie und elterlicher Dominanz; in der Schweiz hingegen Geschlechtergleichstellung und Emanzipation der jungen Generation, also Chancen auf Erwerbsarbeit und für eine erfolgreiche Berufstätigkeit - auch für seine Tochter.

Damit näherten wir uns der zweiten großen Herausforderung in dieser Beratung: Ich musste ihm mitteilen, dass in der Schweiz die Mädchen mit 16 Jahren sexuell mündig sind. „Im Prinzip kann ihre Tochter in der ihr gesetzlich attestierten Autonomie von niemandem einschränkt werden“, betonte ich nüchtern. Der Vater war erschüttert und fragte entsetzt: „Aber kommt das denn gut heraus?“ Ich reagierte ein zweites Mal nüchtern: „Nein! - Leider kann ihnen das bei uns in der Schweiz niemand garantieren.“ Ob so viel entwaffnender Offenheit begann er zu lachen - kein glückliches Lachen war’s. Aber meine Antwort entsprach seinem Durst nach Ehrlichkeit. Darauf konnte ich ihm dann versichern, dass auch moderne Väter ihre Töchter lieben, wünschen, dass sie ihre Lehre abschließen und weder vorzeitig noch unehelich schwanger werden. „Dazu sind unsere jungen Frauen aber auf Eltern angewiesen, die sie behutsam anleiten, einfühlsam begleiten und kompetent beraten“, mahnte ich an. Seine Ehefrau hatte nota bene diesen Part längst übernommen.

Ich habe diesen Mann jüngst, vier Jahre später, erneut getroffen – ein strahlender Vater kam auf mich zu. Er berichtete, dass seine Tochter inzwischen glücklich mit einem Schweizer verheiratet sei und sogar das Eidgenössische Berufsdiplom mache. Stolz zeigte er mir die vielen SMS, die sie ihm täglich schrieb - Herzli und Sünneli waren zwischen die Wörter eingestreut. Besonders beglückend für ihn: Sie besucht ihn jeden Freitagabend, um mit ihm zu beten, und bindet sich für diesen Anlass sogar feierlich ein Kopftuch um. Er zeigte mir ein Foto: Neckisch sah das Tuch aus an der schönen jungen Frau - was für ein Segen! Ich verdrückte ein paar Tränen.

So spielten in diesem Fall alle drei ihren Part: individuelle Besonderheiten, kernkulturelle Ordnungsvorstellungen transkultureller und kontextspezifischer Art, Sympathie und Zuneigung. Am wichtigsten aber für die Integrationsarbeit von und mit Personen: Menschen können sich nur mit ihrer eigenen Kraft bewegen. Diesem Mann waren die Liebe zu seiner Tochter und sein muslimischer Glauben die zwei größten und wichtigsten Kraftquellen: beide tief in seinem Ich-Ideal verankert! Und beide geeignet, um ihn in die richtige Richtung zu bewegen. Damit ist hoffentlich nun die Frage beantwortet, wie wir uns mit den Neulingen so verständigen können, dass sie in der Lage sind, unsere modernen Rechtsregeln zu verstehen und mitzutragen. Und so bin ich heute Morgen mit Blick auf diese Frage und meinen Text mit diesem Satz erwacht: Wer in die große Welt hinaussehen will, der muss seine Fenster nach Innen sehr weit öffnen können.


Quellen und Anmerkungen:

(1) N. Elias: Über den Prozess der Zivilisation. 2 Bde. Frankfurt/M 1997.
(2) Eingeleitet von der Französischen Revolution und gefolgt von der Demokratisierung wurde es möglich, dieses einseitige Diktat wenigstens teilweise im Rahmen der Demokratie zu brechen.
(3) M.-S. Lotter: Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral. Berlin 2012
(4) Ibid.: 136
(5) D. Westen: Self and Society. Narcissism, collectivism, and the development of morals. New York 1988
(6) http://www.kernkultur.ch/resources/Inhalte/WBM4RessourcenMoralitaet.pdf
(7) D. Westen: a. a O.: 392

(9) M. Klein, J. Riviere: Seelische Urkonflikte. Liebe, Hass und Schuldgefühl, Frankfurt/M 1992
(9) S. Freud: Gesammelte Werke, Bd. 10: 43 ff.
(10) H.P. Müller: Kulturelles Erbe und Subsistenztechniken: http://www.kernkultur.ch/resources/Inhalte/KulturellesErbe.pdf
(11) Die Schweiz hat seit Dekaden eine relativ hohe Zahl an Asylsuchenden, die jeweils in die 2294 (!) Gemeinden verteilt werden. Vorab in kleineren Gemeinden werden dann nicht Professionelle für die Betreuung der Neulinge eingesetzt, sondern engagierte BürgerInnen.
(12) L. Kohlberg: Die Psychologie der Moralentwicklung. Frankfurt/M 1996
(13) https://www.nzz.ch/schweiz/antisemitismus-vorwurf-aroser-hotel-schickt-juden-zum-duschen-ld.1310828
(14) Rubikon: Die neue Einwegmigration: Teufelskreis oder Titanic-Kurs?
https://www.rubikon.news/artikel/die-neue-einwegmigration-teufelskreis-oder-titanic-kurs
(15) Der Bund: Raus aus der Sozialhilfe, 11.08.17:2
(16) N. Elias: Engagement und Distanzierung, Berlin 2003
(17) Z.B. Brutto-Inlandprodukt/Kopf https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Bruttoinlandsprodukt_pro_Kopf
Oder Wohlstandsindikatoren: https://de.wikipedia.org/wiki/Wohlstandsindikator
(18) Als Fakt bezeichne ich z.B.: Wenn Menschen ihre unelastischen Bedürfnisse nicht stillen können, sterben sie; alle bekannten Sozialverbände/Gesellschaften organisieren sich über verbindliche soziale Rollen sowie über Moralitäts- beziehungsweise Rechtsnormen.
(19) M.-S. Lotter: a.a.O.: 256/57
(20) M. Walzer: Thick and thin. Moral Argument Home and Abroad. London 1994
(21) http://kernkultur.ch/resources/Instrumente/Arbeit-mit-Ressourcen.pdf
(22) G. Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Frankfurt/Main 2001
(23) Ibd.: 454
(24) Interkulturelle Perspektiven: http://www.kernkultur.ch/resources/Instrumente/IKIarbbl3Perspektiven.pdf
(25) Besser Leben: http://kernkultur.ch/resources/Instrumente/Personennah1BesserLeben.pdf
(26) Weißer Zauber: http://www.kernkultur.ch/resources/Instrumente/IKIpersnah2WeisserZauber.pdf
(27) Bazar der Gegenseitigkeit: http://kernkultur.ch/resources/Instrumente/Personennah3Bazar.pdf