Kernkultur statt Leitkultur! (1/2)

Die zweite Knacknuss – Teil 1.

Schwierig ist’s, sich im Chaos zurechtzufinden: Die erweiterte und beschleunigte Kapitalzirkulation bringt allerorts Wirtschaft, Politik, Kultur durcheinander. Erhellend hingegen ist die laufende Einwegmigration aus dem Süden: Sie verlagert Probleme, die bislang für die armen Länder typisch waren, mitten in unsere Wohlfahrtsstaaten. Um wenigstens im eigenen Haus Ordnung zu halten, wurde in Deutschland die „Leitkultur“ lanciert - eine Idee allerdings, welche die anstehenden Schwierigkeiten in unzulässiger Weise verkürzt.
Besser beraten wäre man mit „Kernkultur“: einem strukturorientierten Konzept, das beides ermöglicht - sowohl die Fremden in Europa besser zu integrieren als auch die Spannungen im Innern armer Staaten adäquater zu verstehen. „Kernkultur“ ist allerdings eine Knacknuss der besonderen Art: Transkulturell konstruiert, erlaubt das Konzept die symmetrische Verständigung und damit auch Veränderungen - trotz Verschiedenheit, ja Ungleichheit. Als multidisziplinäre Bastelei enthält „Kernkultur“ jedoch ein Paradox: einen auflösbaren Widerspruch. Dieser zwingt mich, die Knacknuss in zwei Teile zu zerlegen, die ich erst am Schluss zusammenfügen kann. Teil 1 fokussiert die Gesellschaftsstrukturen im reichen und im armen Teil der Welt: Sie sind derart ungleich, dass sie zahlreiche Konflikte bringen. Teil 2 beleuchtet die Welt aus der Optik einzelner Individuen und achtet auf psychologische Strukturen und Prozesse.
Um jedoch die Gemüter im Voraus zu beruhigen: Selbstverständlich ist es wichtig, dass die Neulinge aus der Fremde die hiesige Kultur respektieren. Sie haben primär zu lernen, welche Rechtsnormen bei uns verbindlich sind: z. B. die Gleichstellung von Mann und Frau, keine Zwangsverheiratung, keine Diskriminierung von Schwulen oder Lesben etc. Die entscheidende Frage ist jedoch die: Wie können wir uns mit den Neulingen so verständigen, dass sie lernen, die hiesigen und für sie oft fremden Grundregeln zu verstehen und zu akzeptieren? Diese Frage ist der Rote Faden, der sich durch alle Kapitel und beide Teile der Knacknuss zieht.

Leitkultur – ein Pferd wird am Schwanz aufzäumt!

Unter Leitkultur wird alles Mögliche verstanden. Bassam Tibi (1) führte den Begriff 1996 in die Debatte ein: statt am Multikulturalismus soll sich die Politik an der Moderne orientieren - an westlich-liberalen Werten wie Aufklärung, Demokratie, Laizismus, Menschenrechten. Theo Sommer, Herausgeber der Zeit, erwartet später von Immigrierten, dass sie sich an die deutsche Leitkultur assimilieren (2). 2017 fordert Manfred Weber von der CSU im Europa Parlament, die deutsche Leitkultur sei durch eine europäische zu ersetzen: Diese „müssen wir verteidigen und, wenn möglich, global behaupten" (3).

Am NZZ-Podium in Berlin (4) werden Rechte gegen Werte ins Feld geführt: Alexander Dobrindt, Bundesminister der CSU, erachtet Werte als „Kitt der Gesellschaft“ und Deutschland als ein „Hort der Stabilität“, weil der Wertekonsens hier grösser sei als anderswo. Anton Hofreiter, vom Bündnis 90/Die Grünen, widerspricht dem bayrischen Landsmann: „Es zählen die Werte, die im Grundgesetz normiert sind. Wir brauchen keine Leitkultur darübergestülpt“.

Slavoj Žižek und der Feuilletonchef der NZZ (5) einigen sich darauf, dass in Europa die Freiheitsrechte gelten, doch der bekennende Kommunist hält fest an dem, was er als „das radikal-emanzipatorische Erbe des Egalitarismus“ bezeichnet. Gemeinsam ist all diesen Voten, dass sie aus dem globalen Hochoben kommen, wo man Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheitsrechte für Universalien hält. Sarkastisch meint Rüdiger Safranski (6) zur Leitkultur: Es handle sich „nicht um einen ernstgemeinten Versuch, für die eigenen kulturellen Überzeugungen einzustehen und sie im gesellschaftlichen Miteinander für verbindlich zu erklären, sondern bloß um den Ausdruck von Ratlosigkeit.“

Persönlich zweifle ich nicht am Ernst der Disputanten. Die Ratlosigkeit hingegen ist für mich Ausdruck einer Orientierungslosigkeit, die vielschichtige Gründe hat. Nur drei seien erwähnt. Erstens ist Kultur in Europa ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen: Paul Klee, wer Hauswände besprüht, die Sängerin im Opernhaus genauso wie der Straßenmusikant – alle machen Kultur. Zweitens ist Kultur ein Erwerbszweig: Ernstzunehmender Kulturschaffender ist aber nur, wer sich mit Kunst den Lebensunterhalt verdient – sei das Paul Klee oder Weiwei.

Dem ersteren wurde der Künstlerstatus von den Nationalsozialisten abgesprochen, während der Status des letzteren u.a. honoriert wird, weil er sich als China-Opponent gebärdet. Das zeigt, dass sogar Kultur im Sinne von „reiner“ Kunst in die gesellschaftliche Machtstruktur eingebettet ist. Orientierungslos sind wir drittens, weil wir die Schatten der europäischen Kultur ausblenden – jene draußen in der Welt wie jene in der eigenen Person. Sicher, Europa ist weltweit attraktiv. Hauptattraktion sind aber nicht unsere Werte: Es ist unser Lebensstandard, der lockt! Denn hierzulande leben alle - vom Banker und Unternehmer über den Arbeiter und die Sozialarbeiterin bis hin zum Invaliden und Flüchtling – von der globalisierten Kapitalakkumulation.

Die globale Machtstruktur garantiert den Menschen in Europa derzeit einen grenzenlosen Zugriff auf die weltweiten Ressourcen, der aber in keiner Weise nachhaltig ist - weder sozial noch ökologisch.

Die propagierte Leitkultur zäumt also das Pferd gleich zwiefach am Schwanz auf. Die Idee ist doppelt strukturblind: Erstens blind für den Zusammenhang zwischen Kultur, gesellschaftlichen Machtstrukturen und Ressourcenverbrauch, zweitens blind für die psychischen Strukturen der Individuen und die entsprechenden Prozesse. Mit der Idee der „Leitkultur“ können wir weder fremde Kulturen richtig verstehen noch uns mit deren VertreterInnen adäquat verständigen.

Mit „Kernkultur“ ist das anders:

Das Konzept erlaubt, alles verstehen, nötigt aber nicht, alles zu akzeptieren; und es befähigt zu verändern – die fremden Vorstellungen und die eigenen.

Beides wird von Resultaten der Hirnforschung gestützt. Gerhard Roth (7) z. B. betont, dass Veränderungen, die über sprachliche Kommunikation erfolgen, zweierlei voraussetzen: Erstens muss sich das Gegenüber „aufgrund interner Prozesse der Bedeutungserzeugung (...) mit uns bereits in einem konsensuellen Zustand befinden.“ Denn: „Wissen kann nicht übertragen, sondern nur wechselseitig konstruiert werden.“ Zweitens: „Wir können unsere emotionalen Verhaltensstrukturen nicht über Einsicht oder Willensentschluss ändern. (...) Dies kann nur geschehen über emotional „bewegende“ Interaktion.“

Kernkultur – ganzheitlich und symmetrisch, aber eine multidisziplinäre Bastelei

Als ich die Universität in Richtung der globalen Ränder verlassen hatte, wurde mir klar: Sogar die Ethnologie stellt mir kein Kulturkonzept bereit, mit dem ich mich rasch und effektiv verständigen kann – weder mit den muslimischen Rhoingyas aus dem damaligen Burma noch mit den wilden Paschtunen aus Afghanistan. Dennoch entbot mir die Ethnologie eine Mitgift: Die Überzeugung, dass Kulturen zwar weltweit verschieden, doch „irgendwie“ gleichwertig sind.

Über mehr waren sich auch EthnologInnen nicht einig: Manche definierten Kultur als die kollektiven Glaubens-, Lebens- und Wissensformen, die Menschen im Verlauf der Sozialisation lernen und die sich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheiden. Andere verstanden unter Kultur nicht nur das Symbolsystem, sondern schlossen auch materiale Ausdrucksformen ein: Waffen, Werkzeuge, Kunstgegenstände.

Meine Erfahrungen in Liberia, Kamerun, im Sudan und in Mosambik sowie die Arbeit mit Immigrierten in der Schweiz bestätigten: Missverständnisse und Konflikte, die zwischen Angehörigen unterschiedlicher Kulturen entstehen, lassen sich am besten mit einem ganzheitlichen Blick verstehen und auflösen.

„Kernkultur“ stellt deshalb erstens auf ein holistisches Kulturverständnis ab, das die Technologie einschließt und beachtet, welchen Zugriff auf Ressourcen sie ermöglicht. „Kernkultur“ ist zweitens - im Sinne von Latour (8) - symmetrisch konstruiert: Orientiert an dem, was für alle Menschen gleichermaßen relevant ist, nimmt das Konzept vormoderne Gesellschaften so ernst wie modern organisierte. So können wir mit dem Konzept zwischen beiden Kontexten vermitteln und verstehen, was wir Modernen für Vergangenes halten.

Und umgekehrt: Vormoderne können erkennen, was „unsere“ Moderne ausmacht. Noch ver-rückter: „Kernkultur“ ist als abstraktes Konzept transkulturell konzipiert und anwendbar; gleichzeitig ist „Kernkultur“ angesichts der global so vielfältigen und ungleichen Kontexte stets kontextspezifisch zu konkretisieren.

Um sowohl das komplexe Ganze einer einzelnen Gesellschaft zu verstehen als auch die weltweit so heterogenen Kontexte zu berücksichtigen, waren Erkenntnisse aus vielen Disziplinen nötig: „Kernkultur“ - eine Bastelei aus Wissensbeständen der Ethnologie, Psychologie, Soziologie, Ökonomie und der Rechtswissenschaft. Am besten ist’s, „Kernkultur“ als approach zu erachten: als ein Instrument, mit dem man sich den global diversen gesellschaftlichen Realitäten annähern kann. Realitäten, die sich nur plus ou moins in den Köpfen und Herzen der Individuen abbilden.

An grundlegenden Strukturen und transkulturellen Gemeinsamkeiten orientiert, leistet also das Konzept dreierlei: Erstens erfasst es in einer jeden Gesellschaft deren normierte Werte, die kontextspezifisch verortet sind und entsprechend eingefordert werden. Zweitens lassen sich die unterschiedlich konkretisierten Kernkulturen über transkulturelle Gemeinsamkeiten horizontal vermitteln: Moderne und vormoderne Ordnungsvorstellungen werden gegenseitig anschlussfähig.

Denn nur die erkannten transkulturellen Gemeinsamkeiten erlauben jene konsensuelle Verständigung, die Veränderungen und gelingendes Zusammenleben bringt. Drittens erfasst das Konzept auch die Schatten, die mit der Idee der Leitkultur verdrängt werden: Weil westliche Wohlfahrtsstaaten auf grenzenloses Wachstum abstellen, ist auch die moderne Kernkultur umzubauen, sollen auf unserem Planeten künftige Generationen friedlich zusammenleben.

Dazu braucht’s eine Komplexitätsintelligenz, die der neoliberalen Polarisierung und Entsolidarisierung die Stirne bietet und stattdessen mit der gemeinsamen Arbeit an einer sozial und ökologisch nachhaltigen Zukunft beginnt.

Kernkultur - am kollektiven und individuellen Überleben orientierte Rechtsvorstellungen

Was heißt das: „Kernkultur“ ist transkulturell und symmetrisch konstruiert?

Es gibt keine Gesellschaft ohne Ordnungsvorstellungen. „Kernkultur“ erfasst allerorts nur die verbindlichen Ordnungsvorstellungen: das Recht einer Gesellschaft - allerdings auf spezielle und selektive Art. Speziell, weil „Kernkultur“ berücksichtig, was der Westen ausblendet: Jedes Recht ist zweiseitig angebunden.

Zum einen an jene Moralität, die in einer Gesellschaft mehrheitlich vertreten wird; zum andern an die Technologie und politökonomischen Verhältnisse, in deren Rahmen die kollektiven Ordnungsvorstellungen umgesetzt werden können.

Selektiv, weil das Konzept nur erfasst, was transkulturell wichtig ist: Um alle Gesellschaften und Individuen am gleichen Maßstab messen zu können, interessiert sich „Kernkultur“ nur für Rechtsvorstellungen, welche die Befriedigung der unelastischen Bedürfnisse (9) organisieren.

Am kollektiven und individuellen Überleben orientiert, involviert „Kernkultur“ drei Ebenen:

Erstens: Mit Blick auf die individuelle Ebene werden nur Ordnungsvorstellungen fokussiert, die sicherstellen sollen, dass die Gesellschaftsmitglieder elementare Bedürfnisse befriedigen können. Zu diesen unelastischen Bedürfnissen gehören transkulturell:

  1. die physiologischen Bedürfnisse wie Hunger und Durst, aber auch Sexualität etc.;
  2. die Bedürfnisse nach Schutz und Sicherheit vor Übergriffen oder Katastrophen etc.;
  3. die Bedürfnisse nach Zugehörigkeit und Zuneigung, nach Austausch und Solidarität etc.

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Diese drei werden überall als überlebensrelevant taxiert, weil die Menschen sterben, wenn sie ihre unelastischen Bedürfnisse nicht befriedigen können.

Zweitens: Auf der Ebene der Gesellschaft werden die Chancen, die unelastischen Bedürfnisse sicher zu stellen, transkulturell in Form von vier Kernaufgaben organisiert (vgl. Abb. 1)

Drei dieser Kernaufgaben zielen direkt auf die Befriedigung der unelastischen Bedürfnisse: 1) Produktion und Konsum, 2) Schutz und Sicherheit, 3) Solidarität und Umverteilung.

Die vierte Kernaufgabe, Erziehung und Ausbildung, ist kein Bedürfnis, sondern eine soziale Notwendigkeit: überall werden die Nachkommen so erzogen, dass sie später in der Lage sind, alle vier Kernaufgaben in angemessener Weise zu erfüllen. Damit die Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse möglichst umfassend und verlässlich organisiert werden kann, werden in allen Gesellschaften Kernrollen generiert.

Kernrollen sind transkulturell aus den verbindlichen Verhaltenserwartungen gestrickt, die sich auf die Erfüllung der vier Kernaufgaben richten. Selbstverständlich bilden sich um dieses Ziel auch Institutionen heraus. Weil Institutionen aber global sehr vielfältig sind und sich auf Unterschiedliches richten, werden sie im Konzept der Kernkultur nicht systematisch erfasst. Institutionen sind aber wichtig und ihr Sinn und Zweck ist von Fall zu Fall zu prüfen.

Drittens: Auf der globalen Ebene gilt: Gesellschaften machen sich transkulturell und seit Jahrtausenden die Ressourcen in ihrem Umfeld mit Technik verfügbar. Unterschiede in den lokalen Ressourcen und in der Technologie waren entscheidend dafür, wie die Befriedigung der elementaren Bedürfnisse organisiert und die Kernkultur konkretisiert werden konnten.

Deshalb die einstige Vielfalt im Erdenrund. Der Kapitalismus aber hat inzwischen einen globalen und monetär organisierten Zugriff auf die Ressourcen durchgesetzt - mit dramatischen Konsequenzen: über Kapital, Maschinen, Erdöl setzen moderne Gesellschaften für sich einen grenzenlosen Zugriff durch; in vormodernen Gesellschaften hingegen ist der Zugriff limitiert: Fehlt das Geld, erfolgt er primär lokal und basiert auf menschlicher oder tierischer Muskelkraft.

Weshalb geraten Gesellschaften derzeit zunehmend in Konflikt?

Ein wichtiger Grund: In modernen und traditionalen Kontexten sind Kernkultur und Kernrollen unterschiedlich konkretisiert. Ein weiterer Grund: Der Zugriff auf die Ressourcen wird ständig kompetitiver und ungleicher. Die Hyperglobalisierung bringt armen Ländern das land grabbing sowie Konzentrationsprozesse. Kleinbäuerliche Subsistenzbetriebe werden vom entgrenzten Markt und Kapital aufgerieben, die Besitzer oder deren Kinder wandern ab - zunächst in die Stadt, wo kaum Erwerbsarbeit zu haben ist, später dann nach Europa.

In Europa indessen stillen wir unsere Konsumbedürfnisse in Shopping-Malls. Mitten im Winter sind da frische Kefen aus Kenia und Tomaten aus Marokko zu kaufen: Waren, die nur dank Kapital, Maschinen, Erdöl zu haben sind; Ressourcen, die „vor Ort“ all jenen fehlen, die mit wenig oder keiner Kaufkraft ausgestattet sind. Der Grund für den gefährlichsten Konflikt: Strukturblind für die Voraussetzungen, auf denen moderne Rechtsstaatlichkeit samt Grundgesetz basieren, geht man im Westen blauäugig und zwar von rechts über liberal bis links von universellen Rechten aus: unsere Rechtskultur und moderne Individualrechte sollen global durchgesetzt werden.

So ziehen wir blauäugig in neue Kriege: mit Bomben und Drohnen sollen jene, die traditional orientiert, weil vormonetär organisiert sind, in die Moderne geprügelt werden. Wir entfesseln damit jenen Teufelskreis, von dem in der ersten Knacknuss die Rede war. Wohlgemerkt: Es ist wichtig und dringend nötig, dass die Menschen an den weltwirtschaftlichen Rändern besser gestellt werden und in den Genuss von Menschen- und Grundrechten kommen. Doch ohne eine grundlegende Veränderung von Weltwirtschaft und globaler Wirtschaftsstruktur geht das nicht!

Kernkultur – kontextspezifisch realisiert und bedeutsam

Zuerst eine Klärung: Der Approach der Kernkultur dient wie die Idee der Leitkultur dazu, ein wenig Ordnung zu schaffen im chaotischen Fluss der Dinge. Denn zwischen Individuen, Gesellschaften, Weltwirtschaft gibt es so wenig klare Grenzen wie zwischen unelastischen Bedürfnissen, Recht und Moralität, Ressourcen und Technologie oder wissenschaftlichen Disziplinen. Aber: „Kernkultur“ ist stets strukturbezogen und leistet Präziseres als „Leitkultur“.

Ein näherer Blick auf die zweigeteilte Welt

Kernkultur und Kernrollen unterliegen in armen Ländern ganz anderen Rahmenbedingungen als in Europa. In Abb. 1 ist links ein armer Staat, rechts ein westlicher Wohlfahrtsstaat abgebildet. Der dicke Querbalken zeigt - in Termini von Kernkultur - einen gewaltigen Bruch in der Welt.

Diese Zweiteilung blendet zwar die real existierende Vielfalt aus (10), doch lassen sich damit die derzeit global konfliktivsten Differenzen herausarbeiten und verstehen: Oberhalb des Balkens leben die Menschen in einer Welt, die monetär organisiert ist: mit modernen Kernrollen und Ordnungsvorstellungen, die Ober- und Mittelschichten in armen Länder genauso wie in unserem Wohlfahrtsstaat.

Unterhalb des Balkens überleben die Menschen mit vormodern konkretisierten Kernkulturen. Die Kernaufgaben sind hier zwar weltweit vielfältig, aber allerorts entweder gar nicht monetär oder aber nur prekär auf der Basis von Erwerbsabgaben organisiert.

So zieht sich der Bruch zwischen der modern und der vormodern organisierten Welt mitten durch die armen Länder. Während er dort seit Dekaden für interne Spannungen und Konflikte sorgt, machte er uns hierzulande bislang nur dann zu schaffen, wenn Menschen, die in einer vormodernen Kernkultur sozialisiert wurden, ihren Weg bis nach Europa fanden.

Seit den 1990er Jahren herrscht jedoch Krieg zwischen den Kapitalzentren und den weltwirtschaftlichen Rändern – höchste Zeit, um zu Raison zu kommen.

Der grosse Bruch - am Leben über dem Balken illustriert

Die Menschen sind hier modern, ob sie in Europa, in Kamerun oder Pakistan leben. Modern, weil sie formell in die Kapitalzirkulation integriert und die Kernaufgaben über monetarisierte Kernrollen und Institutionen gesichert sind. Mit Ausnahme von Eltern- und Hausfrauenpflichten werden hier alle vier Kernaufgaben von bezahlten Professionellen erledigt.

Deshalb sind die Erwerbs- und Berufsrollen jene Kernrollen, mit denen sich die Individuen identifizieren - für alle verbindlich organisiert, aber gleichzeitig hierarchisch geordnet und asymmetrisch bewertet.

Noch konkreter. Hier herrscht Rechtsstaatlichkeit: Der Staat organisiert Schutz und Sicherheit und setzt sein Gewaltmonopol mit Polizisten und Richtern und auf der Basis von Gefängnis- und Geldstrafen durch. Hier gibt es überfamiliale Solidarinstitutionen: Alters- und Invalidenrenten, Arbeitslosen- und Krankenkassen. Auch der überfamiliale Ausgleich ist staatlich organisiert: z. B. in Form von Sozialhilfe, die Fürsorgeämter und Sozialarbeitende an die Armen abgeben.

Hier gibt es Spitäler, Krippen, Schulen, Ausbildung für alle - bestellt mit gut ausgebildetem und bezahltem Personal. All das funktioniert, weil und so lange die Bevölkerungsmehrheit eine formelle Erwerbsarbeit hat und die Kernaufgaben monetär organisiert werden können, d.h. finanziert über Erwerbseinkommen und Löhne, Steuererträge und andere monetäre Abgaben.

Auf dieser Basis sind im Wohlfahrtsstaat individuen-zentrierte Grundrechte etabliert und die Menschen an individuellen Freiheitsrechten orientiert. Verwandtschaft und Geschlecht werden irrelevant. Stattdessen sind hier professionelle Zugehörigkeit, berufliche Pflichten, ein entsprechendes Berufsethos und inzwischen die Geschlechtergleichstellung verbindlich.

Die Welt „unter“ dem Querbalken sieht anders aus

Trotz der kulturellen Vielfalt und den aktuellen Resten von Lokalkultur, die es „vor Ort“ gibt, gilt für alle, die ins globale sozioökonomische Unten verwiesen sind: Sie müssen mit einem limitierten Zugriff auf Ressourcen und mit vormodernen Ordnungsvorstellungen überleben. Vormodern konkretisierte Kernkulturen sind entweder an nicht oder an prekär monetarisierten Kernaufgaben orientiert.

In armen Staaten überlebt die Bevölkerungsmehrheit also mit einer Kernkultur und mit Kernrollen, die vormonetär organisiert sind: Generationen-, Geschlechts- und Verwandtschaftsrollen sichern hier das Überleben. Deshalb bleiben die traditionalen Kernrollen verbindlich und sind - wie bei uns die Berufsrollen! - hierarchisch geordnet und asymmetrisch bewertet.

Vorab auf dem Land ist die Bevölkerung noch mit traditionalen Rollen identifiziert und kommunitär, d. h. am Kollektiv orientiert. In den Städten hingegen hält sich der arme Teil der Bevölkerung mit informellen Jobs über Wasser und mixt sich ein Gebräu von traditionalen Vorstellungen und hybriden Zutaten, die oft den Charakter von Trugbildern haben: Magie und Sektierertum feiern dann Urstände.

So oder so sind die kernkulturellen Vorstellungen durchwegs am Prekariat orientiert. Abgesehen von den rudimentären Bildungsinstitutionen sind die Kernaufgaben auch für den armen Teil der Stadtbevölkerung ungenügend organisiert, staatliche Ausgleichs- und Solidarinstitutionen fehlen ganz, in den Slums regiert oft eine Mafia.

Zur Illustration: zwei traditional organisierte Kernaufgaben

  • Für die dritte Kernaufgabe, Solidarität und Umverteilung, gilt: „Vor Ort“ kommen Familie und Verwandtschaft für Alte, Kranke, Arme auf. In diesem Licht erst werden Institutionen wie die arranged marriage oder Rechtsvorstellungen verständlich, die Homosexualität verbieten: Ohne eigene Kinder haben die Alten, sind sie eines Tages nicht mehr arbeitsfähig, nichts zu beissen. „Vor Ort“ wird „Wirtschaftspolitik“ über Verwandtschaft und Nachkommen betrieben, um den Familienverband und die intergenerationelle Solidarität zu sichern. Vormonetäre Solidarformen werden nicht nur durch die Tradition, sondern, wie früher bei uns, über die Religion abgestützt. Der überfamiliale Ausgleich geschieht sogar primär im Rahmen der Religion. Kein Wunder, wenn am weltwirtschaftlichen Rand die Religionszugehörigkeit weit wichtiger ist als die Staatsbürgerschaft. Sogar das Sektenwesen blüht aus ähnlichem Grund: z. B. finanzieren die Urchristen einer Schweizer Gemeinde ein Spital, das mitten im kamerunischen Urwald steht – und zwar mit Spenden von wenigen Hundert Mitgliedern.
  • Auch die Kernaufgabe „Schutz und Sicherheit“ ist in armen Staaten vielerorts vormodern organisiert. In Pakistan, einem schönen und vielfältigen Land, ist das staatliche Gewaltmonopol prekär. Der Staat ist autoritär, aber Staatsangestellte kommen in den Genuss von Privilegien. Ein pakistanischer Taxifahrer berichtet, dass seine Ehefrau, einstige Krankenschwester bei der Armee, eine lebenslange Rente erhält und in einem Haus wohnen darf, das auf eingehegtem und militärisch bewachten Territorium steht. So ist sie mit ihren Kindern optimal geschützt, während er in Zürich arbeitet. Er hingegen finanzierte seinen Eltern ein vierstöckiges Wohnhaus, in dem diese nun modern und stolz, aber allein leben. Wer hingegen Pakistan als Rucksacktourist bereist, stellt fest, dass er sich in einem Land bewegt, in dem es viele gastfreundliche Menschen, aber auch zahlreiche No-go-areas gibt. Wer die Hauptstrasse verlässt, kommt relativ rasch in Zonen, wo entweder Stämme und Krieger regieren oder aber Halunken und Räuber – zwei sehr unterschiedliche Lebensrealitäten.
  • Stämme und Krieger stehen, fernab von Städten, für eine vormoderne Ordnung ein, die von den Männern durchgesetzt wird. Sie haben hier das Gewaltmonopol. Frauen leben mehrheitlich im Haus, oft hinter Mauern. Mögen uns die Normen der Stämme streng und rigid vorkommen: Sie haben hier Sinn, erlauben Orientierung, machen Verhalten berechenbar. Als ich für die Uno die Randregionen bereiste, hat mich stets ein Stammesmitglied mit Gewehr begleitet. Die Ehre gebot diesem Mann, für die Sicherheit einer hergelaufenen Weissen zu sorgen, und er hätte dafür sein Leben riskiert. Just jene Paschtunen, die später von Quetta aus die Taliban organisierten, erteilten mir eine wichtige Lektion in Sachen „ver-rückter Welt“. Sie beharrten darauf, dass ihr vormoderner Rechtskanon elementaren Rechtskriterien entspricht: Das Paschtunwali hält fest, 1) welche Normverletzung bestraft wird, 2) dass und wie eine Regelverletzung zu beweisen ist, 3) welche Sanktion für einen Normbruch gilt, 4) wer diese Sanktionen schliesslich durchsetzt.
  • Wer hingegen das Pech hat, unter Halunken und Räuber zu fallen, muss mit Überfällen, wenn nicht gar mit dem Tod rechnen. In vielen urbanen No-go-areas grassiert Anomie: allgemeine Norm- und Orientierungslosigkeit - gefährlich sowohl für die involvierten Mafiosi als auch für die meisten Einheimischen, ganz besonders aber für die Fremden.

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Was leistet das Konzept der Kernkultur für die interkulturelle Verständigung?

Wo immer Menschen, die in vormodernen Kernkulturen sozialisiert wurden, auf andere treffen, die in einer modernen Kernkultur aufgewachsen sind, passieren interkulturelle Missverständnisse und Konflikte. Deshalb zurück zur eingangs gestellten Frage: Wie können wir uns mit den Neulingen so verständigen, dass sie lernen, die modernen Grundregeln zu verstehen und zu akzeptieren? Antworten darauf sind zwischen die folgenden Beispielen eingestreut.

Interkulturelle Missverständnissen – Beispiele auf globaler und nationaler Ebene

Interkulturelle Missverständnisse entstehen in Situationen, in denen Neulingen das Verständnis für moderne bzw. monetär organisierte Institutionen und Kernrollen fehlt:

  • In Bangladesch beklagten die muslimischen Rohingya, die in den 80er Jahren aus Burma (heute: Myanmar) nach Bangladesch flohen, ihre Frauen seien von burmesischen Soldaten vergewaltigt worden. „They raped our women!“ empörten sie sich. Die Rechtschutzbehörde von UNHCR trat auf den Plan. Genauere Abklärungen ergaben folgenden Tatbestand: Der junge Staat hatte eine Volkszählung durchgeführt, u. a. um seinen EinwohnerInnen eine Identitätskarte auszustellen und damit gleichzeitig die ständige Zuwanderung aus Bangladesch zu stoppen. Dazu mussten die bengalischen Musliminnen, die seit langem im Arakan lebten, ihre Schleier lüften – das wurde von den Betroffenen als Vergewaltigung interpretiert. Inzwischen ist viel Zeit verstrichen und die Muslime im Arakan sind erneut unter Druck. In der Berichterstattung von heute wird das als purer Religionskonflikt gehandelt. Es fehlt jedes Verständnis für das Strukturproblem, das seit vielen Dekaden zwischen dem bevölkerungsreichen Bangladesch und seinen Nachbarn schwelt: Bangladesch ist mit seinen 163 Millionen Einwohnern der achtgrösste Staat der Welt (2016). Mit 1071 Ew/qkm dicht besiedelt, weist das Land eine hohe Geburtenrate auf. Die überschüssige Bevölkerung aber wandert chronisch und illegal nach Myanmar (76 Ew/qkm) oder in den indischen Gliedstaat Assam (397 Ew/qkm) ab. Das Beispiel zeigt, dass der Spruch „Kein Mensch ist illegal“ zwar nett, aber strukturblind ist. Heutige Staaten können sich fraglos bequemen, ihre Bevölkerung zu exportieren, um über deren Geldüberweisungen von einer Post-Office-Economy zu zehren, anstatt die dramatische Situation auf dem eigenen Territorium anzugehen. Kernkulturkonflikte, die zwischen oder innerhalb von Staaten entstehen, sind stattdessen auf Strukturüberlegungen und -veränderungen angewiesen.
  • Ein Bangladeschi wird von einem Mitglied jener Behörde, die Asylentscheide fällt, zu seinen Asylgründen befragt. Der Mann war zuerst ins indische Assam aus-, später in die Schweiz weitergereist. Er machte keinerlei Verfolgungsgründe geltend. Der Befrager insistiert: "Hat Sie denn in Bangladesch nie jemand verfolgt? Wurden sie nie eingesperrt? Von Soldaten oder Polizisten geschlagen?" Der Befragte schüttelt treuherzig den Kopf und bekräftigt, dass er in seinem Herkunftsland zu keiner Zeit je Schwierigkeiten gehabt hätte - weder mit Soldaten noch mit der Polizei. Der Befrager irritiert: "Weshalb sind Sie denn von Assam aus nicht nach Bangladesch zurückgekehrt?" Die Antwort: "Ja, wenn ich in Bangladesch Asyl erhalten könnte, hätte ich das selbstverständlich getan." Leider hat der Beamte nicht nachgefragt, was der Bangladeschi unter dem Wort „Asyl“ versteht. Interkulturelle Missverständnisse kommen nämlich auf, wenn Vormoderne und Moderne zwar dasselbe Wort benutzen, aber übersehen, dass dieses mit unterschiedlichen - und wie das Schleierbeispiel zeigt, oft sogar konträren - Bedeutungen befrachtet ist: So ist der Schleier den einen Zeichen für „weibliche“ Freiheit und Ehre, anderen für die Unterdrückung der Frau. Dasselbe gilt nota bene für das traditional untersagte bzw. modern geforderte Händeschütteln zwischen Mann und Frau.
  • Die eritreischen Flüchtlinge, die in den 80er Jahren bereits mehr als 20 Jahre in sudanesischen Flüchtlingslagern lebten, „widersetzten sich Vorschlägen zur Selbsthilfe, indem sie sich auf internationale Konventionen beriefen, die vorschreiben, dass die Regierung, die ihnen Asyl gewährt, für ihr Wohlergehen verantwortlich sei“ (11). Als UNHCR seine Spender nicht mehr bei Laune halten konnte, war der sudanesische Staat bereit, Land an die eritreischen Flüchtlingen abzugeben. Doch „528 Familien weigerten sich, Land zu bearbeiten unter dem Eindruck, dass Flüchtlinge überall in der Welt nicht arbeiten müssten und ihnen der Flüchtlingsstatus das Recht gibt, so lange unterstützt zu werden, als sie Flüchtlinge sind“ (12). Lageraufenthalte können Langzeitfolgen haben, und es wird intergenerationell Falsches gelernt. Die Eritreer in der Schweiz haben eine überdurchschnittlich hohe Fürsorgeabhängigkeitsquote. Meine langjährigen Beobachtungen lassen mich befürchten, dass zentrale Integrationsanliegen im Links-Rechts-Hickhack untergehen: Die anstehenden Probleme aber lassen sich weder mit polemisch kommentierten Statistiken lösen, wie sie die Rechte vorbringt, noch mit einer Strategie des Verschweigens, zu der in der Schweiz Bund und Kantone neigen. CHStat, eine Webseite für offizielle Daten, meldet jenen, die nach Zahlen über Flüchtlinge, vorläufig Aufgenommene oder Asylbewerberinnen suchen, die fürsorgeabhängig sind: „Option momentan deaktiviert“. Das ist Vogel-Strauss-Politik (13)! Sie dient auf die Dauer weder den Neulingen noch den Einheimischen. Denn selbstverständlich kommt es zu unzähligen kulturellen Missverständnissen bei der Integration – auch in der sonst so heilen Schweiz.
  • Ein Asyl-Suchender aus dem Maghreb, der seit langem vom Sozialamt lebt, weigert sich, Arbeit zu suchen. Er räsoniert: „Der Lohn, den ich vom Staat erhalte, ist so hoch, dass ich ganz gut davon leben kann.“
  • Ein Tibeter, der einige Wochen gearbeitet hat, wird entlassen. Er zeigt uns strahlend sein Arbeitszeugnis. Da steht schwarz auf weiss, dass der junge Mann ausgesprochen nett sei und durch höfliches Auftreten auffalle. Über die Entlassungsgründe kein Wort. „Er war zu wenig fleissig“, begründet der Vorgesetzte auf Nachfrage mündlich. Kompliziert ist sie, unsere moderne Welt, und für vormodern Sozialisierte oft voller Tücken. Professionelle können diese Missverständnisse jedoch relativ rasch auflösen (14):
  • Die Bedeutung von hierzulande wichtigen Wörtern und Institutionen ist mit Handlungen zu konkretisieren und mit Geschichten zu illustrieren. Z. B. das Arbeitslosengeld: Kein Neuling von den weltwirtschaftlichen Rändern kann wissen, was das ist. In einem meiner Kurse behaupteten die Chefs der Arbeitsämter, es sei zu schwierig, das zu erklären. Schliesslich listeten sie mit Stift, Farbe und Fantasie die zentralen und allseitigen Handlungsschritte auf, die nötig sind, damit ein Arbeitsloser Geld aus einer Gemeinschaftskasse beziehen kann – das als Erklärungshilfe.
  • Vorher (!) aber sind die kulturellen Vorstellungen abzuholen, welche die Neulinge mit unseren modernen kernkulturellen Gepflogenheiten, Rollen und Institutionen verbinden. Erst, wenn der ganze Vorstellungssalat aus Erwartungen, Wünschen, und Trugbildern auf dem Tisch ist, lassen sich unsere „normierten Werte“ anschlussfähig an das Kuddelmuddel vermitteln, das in Sachen „Moderne“ in den Köpfen und Herzen jener herrscht, die aus vormodernen Kernkulturregionen einwandern. Aber für die konsensuelle Verständigung reicht auch das nicht aus.
  • Zu allererst (!!) sind bei der arbeitslosen Kamerunerin die Geschichten abzuholen, die sie uns erzählt, wenn wir sie fragen, wer sie, wenn sie nichts mehr zu beissen hat, zu Hause unterstützt. Vielleicht ist es ja nicht ihre Familie, sondern es sind z. B. die Baptisten? Auch Baptisten haben Regeln, die sie zu erfüllen hat, wenn sie dazugehören und in den Genuss von Solidarität kommen will. In den Berichten der Kamerunerin finden wir jene emotionalen Drehpunkte, welche die Menschen auf der ganzen Welt miteinander verbinden und die uns alle bewegen.

Aufmerksame LeserInnen realisieren: Das professionelle Vorgehen wurde im Rückwärtsgang beschrieben. Die Stationen nochmals – jetzt aber in der richtigen Reihenfolge:

  1. Zuallererst die dem Neuling eigenen Vorstellungen und Geschichten abholen: Sie gestatten jene emotional bewegende Interaktion, die ihm später die wünschbare Veränderung erlaubt.
  2. Sich konsensuell darüber verständigen, was hüben und drüben gleich, was unterschiedlich ist;
  3. die Integration in die moderne Kernkultur ermöglichen, indem wir aufzeigen, was in der Schweiz oder in Deutschland fürs konstruktive Zusammenleben geboten und unverzichtbar ist.

Interkulturelle Konflikte sind schwieriger zu bewältigen – einige Beispiele

Wer in einer vormodernen Kernkultur aufgewachsen ist, hat deren Regeln internalisiert und kann diese weder von heute auf morgen hinter sich lassen noch moderne Ordnungsvorstellungen auf Anhieb verstehen. Dabei sind moderne und vormoderne Kernkulturen beidseitig moralisiert. Kein Wunder also, dass es zu heftigen interkulturellen Konflikten kommen kann.

  • Über den Asyl-Suchenden, der keine Arbeit sucht, ist der Sozialarbeiter empört – in meiner Sprache: Er ist irritiert! Irritationen sind wichtig. Sie sagen aber wenig über den Fremden aus. Sie zeigen dem Sozialarbeiter bestenfalls an, ob das Verhalten des Fremden unsere Kernkultur verletzt. Interkulturelle Irritationen tangieren jene Moralität, die auch moderne Rechtsnormen wie ein Heiligenschein umgibt und machen uns so i. d. R. unsere eigene Kernkultur bewusst.
  • Ein Ägypter wird in unser Durchgangsheim eingewiesen. Einmal im Monat ist Generalputztag. Dann müssen alle mitwirken: Frauen und Männer. Der Ägypter ist konsterniert, er habe seine Frau zu Hause gelassen. Wir machen klar, dass in der Schweiz - im öffentlichen Bereich! - die Gleichstellung von Mann und Frau gilt und dass sich - mit Ausnahme von Invaliden, Kranken, Alten - alle am Putzen zu beteiligen haben. Der Mann zieht anderntags sein Asylgesuch zurück – er habe in der Schweiz nichts verloren. Das Ticket für den Rückflug bezahlt im die Asylbehörde.
  • Ein Asyl-Suchender aus Anatolien, der viele Monate gearbeitet hat, gibt plötzlich seine Stelle auf. Der Grund? Der Filialchef hat gewechselt, er hat jetzt eine weibliche Vorgesetzte. Und den Anordnungen einer Frau zu gehorchen – d a s geht für ihn nicht. Die letzten zwei Beispiele zeigen, dass relativ viele Konflikte um traditionale und moderne Kernrollen ausbrechen. Die Arbeit im armen Teil der Welt hat mir auch in dieser Sache vieles erhellt. Sogar fundamentalistische Afghanen waren bereit, eine Schule für Mädchen zu eröffnen. Nur Ko-Edukation wollten sie nicht! Denn das Überleben am weltwirtschaftlichen Rand setzt ein Gesellschaftssystem voraus, das weiterhin auf verbindliche Generationen- und Geschlechtsrollen abstellt. „Liebe“ wird deshalb im traditionalen Kontext anders konkretisiert. Die Paschtunen erklärten mir: „Romantische Liebe? kennen wir auch. Doch wie lange dauert sie denn, Eure romantische Liebe: drei Wochen, drei Monate oder drei Jahre? Niemand von uns kann sich leisten, etwas so Wichtiges wie die Ehe auf romantische Liebe zu gründen.“ Die Ehe bei den Paschtunen gründet - im Idealfall! - auf gegenseitigem Respekt und auf jener Liebe, die sich mit dem Zusammensein und Kooperieren einstellt. Auch wenn traditionale Formen der Liebe für uns schwer zu erkennen und noch schwieriger zu verstehen ist: ein muslimischer Vater, der seine Tochter einsperrt, weil sie sich hierzulande nicht an traditionale Verhaltensvorschriften hält, liebt (!) i. d. R. seine Tochter – oft sogar besonders tief und vehement. Sogar wenn er sie zu töten droht, falls sie ihre Jungfräulichkeit verliert. Ich bin bislang noch keinen traditionalen Vater begegnet, der nicht bereit war, seine Tochter auf ihrem Weg in die Schweiz, d.h. in ihrer Bildungs- und Ausbildungskarriere zu unterstützen. Wenn spektakuläre Fälle das Gegenteil beweisen, dann vermutlich nur, weil es zu Verwicklungen kam. Denn manche Professionelle argumentieren vorab moralisch bzw. moralisierend - und das ist verkehrt! Erfolgreicher ist’s oft, sich nüchtern an wirtschaftlichen Interessen zu orientieren. Sehen wir genauer hin. Stolze Väter haben kein Interesse an Moralpauken! Nach Europa kommen sie samt und sonders, um sich und ihre Familien, einschliesslich der Tochter, wirtschaftlich besser zu stellen. Und so horchen viele bei wirtschaftlichen Zielen auf und sind begierig zu erfahren, mit welchen Tricks und Geheimnissen Europa und seine Bewohner reich geworden sind. Zugegeben, es gab die schmutzigen Tricks: Kriege, Kolonialisierung, Ausbeutung etc. Zu unseren elementaren Errungenschaften gehören dagegen: (1) Bildung - und zwar Bildung für alle, (2) Erwerbsarbeit – und zwar für Männer und Frauen, (3) Berufsausbildung - und für alle gleich. Professionelle, die den Mut haben, auch noch auf die Einkommens- und Statushierarchie hinzuweisen, die sich bei uns mit der Berufsausbildung verbindet, können sich mit den Vätern konsensuell verständigen. Wer in dieser Auseinandersetzung einem tief Gläubigen dann auch noch den Roten Teppich der Vaterliebe ausrollt, findet sie reichlich: jene emotionalen Beweggründe und Drehmomente, mit denen sich auch ein Traditionalist oder Fundamentalist bewegen und verändern kann.

Rückblick und Ausblick

Zurück zur Leitkultur. Selbstverständlich sind die gemeinsamen Werte wichtig und der „Kitt einer Gesellschaft“. Doch ohne Verrechtlichung sind sie gar nichts. So haben denn beide recht: Bundesminister Dobrindt und Hofreiter, der Fraktionssprecher vom Bündnis/Grüne. Aber sie mögen sich noch lange streiten: Sie streiten gewissermassen verkehrt.

Es verhält sich umgekehrt: Werte sind leichter transkulturell zu verorten als das Recht, denn dessen Normierung hängt von den wirtschaftlichen und technologischen Möglichkeiten ab und stellt auf unterschiedlich konkretisierte Kernkulturen und Kernrollen ab.

So sind Kulturen weltweit verschieden und doch „irgendwie“ gleich: Überall sind Werte eher am Wünschen orientiert – das ist kostenlos und eher den Individuen frei- und anheimgestellt. Das Recht hingegen ist eine Institution - für alle verbindlich, kollektiv normiert und getragen.

So hat Hofreiter zwar recht: Die Grundrechte sind in Europa verbindlich. Sie zeigen Werte an, die bei uns kollektiv normiert und finanziert sind. Für die Regionen „vor Ort“ gilt dasselbe und doch anderes. Deshalb ist die monetär organisierte Kernkultur bzw. sind die „normierten Werte“ an die Neulinge zu vermitteln. Das gelingt über die transkulturellen Gemeinsamkeiten, die auf der Wertebene gelten und die hier wie dort leichter auszumachen sind.

Anzunehmen, die Rechtsformen der westlichen Kapitalzentren seien universell, ist, wie erwähnt, blauäugig und verkennt die Realität. Es ist diese irrige Annahme, die den Krieg zwischen Zentren und weltwirtschaftlichen Rändern entfesselt hat. Ich habe vor vielen Jahren davor gewarnt (16) – leider vergeblich.

Im ersten Teil der Knacknuss „Kernkultur“ habe ich die kollektiven Ordnungsvorstellungen und das individuelle Verhalten auf die gesellschaftlichen Strukturen bezogen, in denen Menschen leben - eine unzulässige Vereinfachung: Sie reflektiert n u r die eine Seite der Realität.

Sobald wir Individuen vor uns haben, sind wir mit einem Paradox konfrontiert: Die Einzelnen sind von ihrer Gesellschaft bzw. von jener Kernkultur geprägt, in der sie aufgewachsen sind. Sie können sich allerdings auch gegen die offiziellen Ordnungsvorstellungen stellen oder - frei und „für sich“ - völlig neue Regeln erfinden oder erschwindeln.

Die individuen-zentrierte Musterung und Verwurzelung des Verhaltens wird im Teil 2 der Knacknuss „Kernkultur“ diskutiert: Ich werde dann nach den psychischen Strukturen und der psychologischen Dynamik fragen, die Menschen auszeichnen – individuell, transkulturell und kontextspezifisch. Zusammenführen kann ich das Paradox allerdings nur, weil jede Arbeit mit Menschen sowohl Wissenschaft als auch Kunst ist.


Literaturhinweise:

(1) Bassam Tibi: Multikultureller Werte-Relativismus und Werte-Verlust. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 52–53/96, S. 27–36
(2) Theo Sommer: Einwanderung ja, Ghettos nein - Warum Friedrich Merz sich zu Unrecht auf mich beruft. ZEIT 47/2000
(3) German Foreign Policy: Europas Leitkultur, 08.06.2017: 2
(4) Neue Zürcher Zeitung: Der Wert von Werten. NZZ-Podium Berlin, 23.09.2016: 5, https://www.nzz.ch/international/aktuelle-themen/nzz-podium-berlin-nzz-podium-berlin-ld.118202
(5) NZZ: Der Philosoph Slavoj Žižek im Gespräch: Liberal? Gott bewahre! 30.01.2016: 35, https://www.nzz.ch/feuilleton/liberalgott-bewahre-1.18685968
(6) NZZ: Rüdiger Safranski: «Die Angst vor dem politischen Islam ist da, doch singt man laut im Walde». 06.05.2017: 38, https://www.nzz.ch/feuilleton/boerne-preis-traeger-ruediger-safranski-die-angst-vor-dem-politischen-islam-ist-da-doch-singt-man-laut-im-walde-ld.1290527
(7) Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt a.M. 2001: 450/456
(8) Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Frankfurt am Main 2008.
(9) Abraham Maslow: "A Theory of Human Motivation" (1943). In: Psychological Review. 50 (4): 370 – 96, https://en.wikipedia.org/wiki/Maslow%27s_hierarchy_of_needs
(10) Verena Tobler: Kernkultur – ein Approach für interkulturelle Verständigung und Integration. In: Pädagogik & Erziehung, Jg. 34,Nr. 1 2008 http://www.kernkultur.ch/resources/Artikel/VerstaendigungPSYCHO.pdf
(11) J.R. Rogge: Too many, too long: Sudanese Twenty-Year Refugee Dilemma. New Jersey 1985: 88
(12) J. R. Rogge: Too many, too long: Sudanese Twenty-Year Refugee Dilemma. New Jersey 1985: 97
(13) Verena Tobler: Wege gegen die Ausländerfeindlichkeit 1993.
(14) Verena Tobler. Die Perspektiven der interkulturellen Auseinandersetzung. http://www.kernkultur.ch/resources/Instrumente/IKIPerspektiven.pdf
(15) Verena Tobler: Die Taliban verstehen: Plädoyer für einen fruchtbaren Umgang mit Traditionalisten, http://www.kernkultur.ch/resources/Artikel/DieTalibanverstehenNZZ.pdf