Keine Zukunft ohne Wandel
Für die Sammlungsbewegung Aufstehen sind Ökologie und soziale Frage keine Gegensätze.
Wird Aufstehen zum Rohrkrepierer? In den Medien beginnen bereits die Abgesänge auf das so hoffnungsvoll gestartete Projekt. Leben Totgesagte aber auch diesmal länger? Hendrik Auhagen, neu im Vorstand von Aufstehen, hat jedenfalls sein Engagement für die Sammlungsbewegung intensiviert. Im Interview mit Florian Kirner betont er vor allem, dass Ökologie als dritte Säule neben Friedenspolitik und sozialer Gerechtigkeit künftig eine wichtigere Rolle spielen wird.
Florian Kirner: Herr Auhagen, Sie sind am 15. Januar 2019 in den neu formierten Vorstand der Sammlungsbewegung Aufstehen gewählt worden. Für viele Beobachter war Ihr Name eine Überraschung. Können Sie kurz erklären, was Sie zu diesem Schritt bewogen hat, sich bei Aufstehen in die Verantwortung zu begeben?
Hendrik Auhagen: Als einer der Initiatoren von Aufstehen aus dem Grünen-Spektrum bin ich zunächst in den Arbeitsausschuss eingeladen worden. Auch weil ich mich als Mitinitiator der Konstanzer Aufstehen-Gruppe mit Verbesserungsvorschlägen an Ludger Volmer gewandt hatte. Ich will den Erfolg von Aufstehen. Ich sehe aber nach dem Riesenanfangserfolg – wie viele andere auch – dringenden Konsolidierungsbedarf und die Notwendigkeit zu mehr Austausch, gerade zwischen den Ortsgruppen und der Bundesebene. Und wenn man dann gefragt wird, ob man das Geforderte auch selbst mit aktiv umsetzen will, dann ergibt sich daraus auch ein Ja.
Die Themenauswahl bei Aufstehen wird oft mit den Worten „Frieden und Gerechtigkeit“ beschrieben. Aber schon rund um den Hambacher Wald hat sich sehr schnell die Frage gestellt, welche Rolle die ökologische Krise spielen sollte. Haben ökologische Themen bei Aufstehen eine gute Lobby?
Auch wenn die Diskussionsprozesse bundesweit noch nicht gebündelt sind, so habe ich doch den Eindruck, dass die meisten Aufstehen-Aktivisten Ökologie durchaus als eines der Kernthemen ansehen – ganz anders als bei vielen Gelbwesten-Aktivisten in Frankreich, die Ökologie eher als ein Thema der Eliten ansehen.
Wenn wir die ökologische Herausforderung ins Verhältnis zur sozialen Frage setzten: Was wäre eine Ökologie von und für unten?
Ich will das an einem konkreten Bereich formulieren, in dem ich auch sehr lange aktiv war. Das ist die Verkehrspolitik. Eine Verkehrswende, die es durch einen Qualitätssprung im öffentlichen Verkehr schafft, dass in den Ballungsgebieten in den nächsten 5 Jahren ein Fünftel der PKW-Fahrer auf ein eigenes Auto verzichtet, würde eine Win-Win-Situation bedeuten.
Für die Umwelt ein Gewinn, weil der Autoverkehr einer der Hauptzerstörer der Ökosphäre ist. Und gleich zweimal für die Menschen: Einmal die Steigerung der Lebensqualität gerade in den heute besonders verlärmten, verparkten und verstunkenen Straßen, und andererseits durch deutlich erhöhte verfügbare Einkommen gerade der einkommensschwachen Haushalte, die aufs eigene Auto dann wegen der besseren Alternativen verzichten könnten.
Sie sind für die Grünen auch einmal im Bundestag gesessen. Wann ist das gewesen und wie sind Sie zu den Grünen gekommen?
Nach meiner Jugendmitgliedschaft in der SPD habe ich 1980 die Grünen bei uns in Konstanz mitgegründet. Motiv war die Überzeugung, die ich auch jetzt noch vertrete, dass diese Zivilisation sich selbst zu zerstören droht – und zwar insbesondere durch den Wachstumszwang. Darum war mein inhaltlicher Schwerpunkt eine alternative Wirtschaftspolitik. Von 1983 bis 1987 war ich dann Mitglied der ersten grünen Bundestagsfraktion. Die Grünen hatten damals das sogenannte „Rotationsprinzip“. Im Rahmen dieses rotierenden Modells war ich 1985 bis 1987 Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Wirtschaftsausschuss. Danach war ich bis Ende der 90er Jahre an der Basis der Grünen aktiv.
Wenn Sie die Grünen der Anfangszeit beschreiben würden, was war das für eine Kultur, was waren das für Leute?
Ich will die Vergangenheit nicht verklären. Negativ war die Gnadenlosigkeit und Schärfe der Auseinandersetzungen bei den Grünen Anfang und Mitte der 80er Jahre. Das gilt auch für die erste grüne Bundestagsfraktion.
Allerdings gab es offene Debatten. Und Bundesparteitage waren nicht inszeniert, sondern die Abstimmungen waren zumeist offen und hingen von Argumenten und nicht nur von Aushandlungsprozessen hinter den Kulissen ab.
Und es gab die Überzeugung, dass es ohne einen tiefen Wandel keine Zukunft für die Menschheit gibt. Sogar jemand wie Winfried Kretschmann gehörte damals zu denen, die das immer wieder betont haben.
Heute sind die Grünen vielleicht im Umgang etwas angenehmer geworden. Aber Politik wird fast bis ins Detail inszeniert. Vor allem geht es vielen Menschen in der Grünen-Partei nicht mehr um einen tiefen Wandel, sondern darum, den ohnehin ablaufenden Prozessen ein grünes Styling zu verpassen.
Bedeutet Ihr Engagement bei Aufstehen, dass die Überzeugung, dass es einen fundamentalen Wandel braucht und dieser auch möglich ist, ist bei Ihnen noch intakt ist?
Man muss definieren, was man mit einem „fundamentalen Wandel“ meint. Für mich heißt das, dass in zentralen ökologischen und sozialen Bereichen die ausstehende Trendwende geschafft wird. Zurzeit zum Beispiel gibt es große Chancen zur Durchsetzung einer Verkehrswende, die leider von den Umweltverbänden und anderen Initiativen nicht genutzt werden.
Also von der Möglichkeit bin ich immer noch überzeugt – auch wenn ich ehrlicherweise zugeben muss, dass die Zweifel wachsen. Aber auch wenn ich oft schlucken muss, im Kern glaube ich immer noch an die trotzige Attac-Losung: „Eine bessere Welt IST möglich”.
Wie?
Ich habe in den Nuller-Jahren bei Attac eine Kampagne initiiert und zentral mitorganisiert gegen die Privatisierung der Deutschen Bahn. Diese Kampagne war schlussendlich erfolgreich. Sie hat verhindert, dass heute die Golf-Emirate und Blackrock im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn sitzen. Sondern sie gehört noch zu 100 Prozent der öffentlichen Hand.
Diese Erfahrung hat meinen Optimismus gestärkt, dass man durch kluge Kampagnen Wesentliches erreichen kann. Auch auf der ganz großen politischen Ebene.
Trotzdem teile ich auch zu einem großen Teil die Zweifel des Wachstumskritikers Niko Paech, inwieweit der „Tanker Großgesellschaft“ überhaupt rechtzeitig zu reformieren ist. Daher beschäftigt mich auch der ganz andere Ansatzpunkt, den ich bisher bei Aufstehen allerdings nicht thematisiert habe, nämlich das Augenmerk auf regionale Abkoppelungsstrategien zu richten.
Abkoppelung & Grundversorgung
Es geht darum, dass speziell in abgehängten Regionen, aber nicht nur dort, regionale Grundversorgungsstrukturen aufgebaut werden, in denen brachliegende Arbeit und brachliegende Ressourcen zusammengebracht werden – was viele Graswurzelinitiativen in ganz Europa auch versuchen.
Mein strategischer Gedanke ist dabei die Verknüpfung mit den politischen Strukturen der Regionen, die Grundversorgungsstrukturen unterstützen müssen, damit es eine Alternative für viele Menschen und nicht nur für AussteigerInnen gibt.
Wir können dadurch Auffangstrukturen herstellen für den Fall – und vor dem fürchte ich mich –, dass unsere globalisierungsökonomischen Strukturen zusammenbrechen. Wenn es mit der Vollversorgung nicht mehr klappt, wird es entscheidend sein, ob es basisökonomische Alternativstrukturen gibt, wenn der Rückfall in die Barbarei vermieden werden soll.
Heute wird davon ausgegangen, dass die Globalisierungsökonomie immer funktionieren und jederzeit dafür sorgen wird, dass genug Lebensmittel und genug Mindestgebrauchsgüter zur Verfügung stehen. Diesen Glauben teile ich nicht.
Ich befürchte, dass wir innerhalb der nächsten zehn, fünfzehn Jahre Einbrüche erleben werden. Die Antwort darauf wäre eine regionale Grundversorgungsökonomie. Da bieten gerade die vermeintlich abgehängten Regionen, in denen sich jetzt auch in Frankreich der Protest ganz besonders deutlich äußert, die besten Chancen. Es wird nicht mehr darum gehen, exportorientierter Standort im Sinne der Globalisierungsökonomie zu sein, sondern Selbstversorgung auf einem akzeptablen Niveau zu bieten.
Im Grundgesetz wird die Aufgabe der politischen Willensbildung den Parteien zugeschrieben und das klassische Instrument politischer Veränderung sind parlamentarische Parteien. Ist Ihr Schritt, zu Aufstehen zu gehen, auch das Ergebnis einer Skepsis gegenüber politischen Parteien?
Man sollte das Instrument Partei weder über- noch unterschätzen. Die Frage der politischen Organisation ist immer eine Frage der augenblicklichen gesellschaftlichen Realität. In bestimmten Situationen ist es unbedingt notwendig oder immerhin vielversprechend, eine Partei zu gründen. In anderen Situationen kommt es darauf an, den Bewegungsaspekt zu betonen.
Es gibt also nicht das eine, richtige Durchsetzungsmodell für immer. Das wechselt.
Wenn Sie die aktuelle Lage in der Bundesrepublik beurteilen, wie schätzen Sie die Kräfteverhältnisse ein?
Ich sehe eine der zentralen Aufgaben von Aufstehen darin, eine möglichst große Einigkeit im linken Spektrum zu schaffen – und zwar von der Basis her.
Übereinstimmungspotential
An der Basis, vor Ort sind sich oft die Mitglieder von SPD, Grünen, LINKE und Parteilose untereinander sehr viel näher als die Leute innerhalb ihrer jeweiligen Parteien. Vor Ort gibt es ein großes Übereinstimmungspotential. Aufstehen hat da für mich die Funktion, einigend und sammelnd zu wirken.
Um das auf einen zentralen Punkt zuzuspitzen, auf die Finanzpolitik: Die Zeiten der selbstverständlichen Einnahmeüberschüsse sind vorbei. Es zeichnet sich eine Rezession ab. Und es wird einen ganz entscheidenden politischen Kampf über die Besteuerung des Gewinnerviertels der Bevölkerung geben. Wenn es hier eine Einigung des linken oder gemeinwesenfreundlichen Spektrums gäbe, dann sähe ich die Chance, die politischen Gewichte in die andere Richtung zu verschieben.
Und nur, wenn es eine ausreichende finanzielle Ausstattung des Gemeinwesens gibt, kann das, was man für gut und richtig hält, auch realisiert werden. Deswegen ist die Finanzpolitik ein strategischer Schlüssel.
Welche Entwicklungen ängstigen Sie?
Mich ängstigt, dass sich im linken Spektrum eine Ersatzradikalität durchsetzt. Das bedeutet: Anstatt die brennenden ökonomischen Fragen zu stellen, weicht man aus in Fragen der Political Correctness. Die sind im Kern meist richtig, aber in der Übertreibung werden sie falsch.
Viele Menschen in prekärer abstiegsbedrohter Lage haben das Gefühl, dass eine linksliberale Oberschicht, die sich auch gerade medial etabliert hat, sich ignorant bis verachtend gegenüber den Problemen der „einfachen Leute” und ihrer Stadtteile verhält.
Das Problem dabei sind nicht Inhalte wie Gleichberechtigung oder die Solidarität mit bedrohten Menschen. Indem sich aber insbesondere die LINKEN einer differenzierten Sicht auch der Probleme verweigern und pauschal offene Grenzen fordern, treiben sie – natürlich ungewollt – der AFD einstmalige Linkswähler zu, obwohl diese neoliberale Partei gegen ihre ökonomische Interessen verstößt. Wie anders lässt sich erklären, dass die LINKEN in Ostdeutschland in großem Stil WählerInnen an die AfD verloren haben? Und auch im Westen bewegen sich im großen Stil Gewerkschaftsmitglieder in diese Richtung .
Wenn dieser Prozess nicht aufgehalten wird, droht mit Sicht auf die kommenden fünf oder zehn Jahre ein Bündnis der AFD mit großen Teilen des CDU/CSU-Spektrums für eine Austeritätspolitik, für Privatisierung – und das kombiniert mit wirklichem Rassismus.
Jetzt wird Aufstehen von einigen der Vorwurf gemacht, soziale Themen etwa gegen die Solidarität mit Flüchtlingen auszuspielen. Ist dieser Vorwurf berechtigt?
Ich finde diesen Vorwurf überhaupt nicht berechtigt. Zunächst einmal hat sich Aufstehen als gemeinsames Spektrum zur Frage der Migration noch gar nicht im Detail positioniert. Diese rassistische Position wird lediglich unterstellt. Ich finde auch keine Aussage von Sahra Wagenknecht rassistisch – sonst würde ich es unverantwortlich finden, Mitstreiter bei Aufstehen zu sein.
Im Gegenzug stelle ich die Frage, ob das Beschreiben realer Probleme gleichbedeutend mit Rassismus ist? Gerade wenn man eine tolerante, offene Politik will, darf man keine Tabuisierung von Problemen betreiben.
Wenn Aufstehen sich für eine differenzierte Diskussion einsetzt, wird diese ganz sicher nicht rassistisch oder rechtspopulistisch ausfallen. Im Gegenteil. Das wird bei uns so laufen, dass es die rechtspopulistischen Tendenzen in der Bundesrepublik schwächt.
Die Linke hat sich insgesamt in die Defensive drängen lassen und ist in einem permanenten Abwehrkampf gegen medial gemachte Vorwürfe gefangen. Was glauben Sie könnte der Beitrag von Aufstehen sein, dass die Linke als Bewegung wieder selbstbewusster wird?
Meiner Einschätzung nach haben mindestens 40 Prozent der Wähler der drei linken Parteien die eben beschriebenen Probleme. Mit einer direkten und offenen Sprache aber auf der Basis von humanitären Werten können diese Menschen wieder für linke Politik gewonnen werden.
Und sogar noch viel mehr: Aufstehen könnte sogar zum Magneten weit über das klassische linke Potential hinaus werden. Denn es gibt immer mehr Menschen, die angesichts der ständigen Drohung des sozialen Abstiegs und der brutalkapitalistischen Entwicklung auf dem Wohnungsmarkt nach – realistischen – Alternativen zum Neoliberalismus suchen.
Wir danken für dieses Gespräch
Hendrik Auhagen, Jahrgang 1951, Gymnasiallehrer für Deutsch und Politik bis 2017.
1968 in die SPD eingetreten, 1980 Mitgründer der Grünen in Konstanz, von 1983-87 Mitglied der ersten Grünen Bundestagsfraktion, von 1985-87 als MdB im Wirtschaftsausschuss, in den 90er Jahren Grüner Basisaktivist. Von 2003-2010 aktiv bei Attac, Mitinitiator von "Bahn-für-Alle", dem Bündnis gegen die Privatisierung der Deutschen Bahn, 2008-2011 Mitglied im bundesweiten Koordinationskreis von Attac.