Keine langen Sätze
Vielleicht müssen wir die Dinge so zusammensetzen, dass man sie nicht einsortieren kann. Exklusivauszug aus „Raffen, Sterben, Trance“.
Wir kennen die Ergebnisse der „Wahlen“. Dabei waren die Optionen, welche Machtkritik hätten zum Ausdruck bringen können, naturgemäß winzig. Aber auch eingedenk dieser „Winzigkeit“ — die Wahlnichtbeteiligung hätte dazu gehört — bleibt festzustellen: Sollte in der „Coronazeit“ irgendein emanzipatorisches Bewusstsein aufgepoppt sein, es wäre — allen „alternativen“ Kanälen zum Trotz — beinahe vollständig zum Erliegen gekommen. Vielleicht müsste man anfangen, die Dinge neu zusammenzusetzen. Beobachtungen anders zu verknüpfen. So, dass sie nicht einsortierbar sind und sich Bekanntes mit Fragezeichen und Irritierendem verbindet. Vielleicht wäre so die hippocampale Schrumpfung, welche der Gehirnforscher Michael Nehls in seinem Buch „Angriff aufs Gehirn“ als kardinale, politisch gewollte Schicht des Corona-Managements minutiös herausstellt und die auch bei diesen „Wahlen“ als Fundament für alles Weitere fungierte, umzudrehen. In „Raffen Sterben Trance“ unternimmt Teer Sandmann den literarischen Versuch einer ungewohnten Zusammensetzung der Dinge, auf dass die Welt doch noch zur Kenntlichkeit entstellt würde. Die Irritationen sind angepeilt, sodass der Versuch einer neuen Aufklärung nicht vorschnell an Haltungen und Etiketten zerschellt. Ein Auszug.
Hier ist ein Mensch. Öffne dir Tür. Er stammt aus Brabant, gemäß einem Schriftstück von 1463 aus der kleinen Ortschaft Braine-l’Alleud. Geboren um das Jahr 1435. Das früheste Zeugnis datiert allerdings aus dem Jahr 1458 in Orléans, 500 Kilometer von Brabant entfernt. In den 1460er Jahren war er Kapellmeister für Chorknaben an der Kathedrale von Chartres. Dokumente dazu wurden durch Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg zerstört. In den frühen 1470ern reiste er nach Neapel, um als Kaplan und Sänger am Hofe des Königs von Aragón zu wirken. Vor Ort übernahm er auch rechtliche Aufgaben und übersetzte im Auftrag des Königs das Status des Ordens vom Goldenen Vlies aus dem burgundischen Französisch ins Italienische. Außerdem fungierte er als Musiklehrer der königlichen Tochter Beatrix von Aragón. (Für einige Experten aus dem Widerstand, Kinder, wäre damit die Faktenlage ausreichend, um die Verbindung zu den Chasaren, zum englischen Königshaus, zu Jeffrey Epstein, den Pädophilen und damit zum Kern des Menschheitsverderbnisses als gegeben herauszustellen.)
Gegen Ende der 1470er Jahre bricht die kontinuierliche Arbeit in Neapel ab und es sind nur noch vereinzelte Hinweise, die aufpoppen. Mehrfach war er auf Reisen. Ein Beleg vom Mai 1479 weist für die Zeit vom 7. bis 11. des Monats Übernachtungskosten in der Herberge „Alzanello“ zu Ferrara aus, entrichtet von einem „zoane de tintoris de Bourgogne“.
Wann Johannes Tinctoris Neapel endgültig verlassen hat, ist unklar. Was er in den letzten dreißig Jahren seines Lebens getrieben: sein Geheimnis. Kompositionen aus den langen letzten Jahrzehnten fehlen. 1493 besuchte er vermutlich seine frühere Schülerin Beatrix von Aragón, inzwischen verwitwete Königin von Ungarn, und am 12. Oktober 1511 gingen seine Pfründen an einen anderen Kleriker über. Er muss, so wird gefolgert, kurz davor verstorben sein.
Wo ist es erklungen, dieses Agnus Dei aus der Messe sine nomine, gesungen von einer einzelnen Sopranstimme? Erklungen in welchen Köpfen, welchen Seelen? Und weshalb vermochte dieses betörend filigrane Musikstück die Dinge nicht in die andere Richtung zu drehen und darüber hinaus: Wie konnte es überhaupt entstehen, in einem Kopf, einem menschlichen Kopf, wo doch diesem Menschenkopf der Hang zum Bund und zur Haltung eingeschrieben ist? Dieses Agnus Dei aber ist das Gegenteil von Haltung, es ist die Stimme der Geliebten und von Gott zugleich, eine Stimme, die durch eine lichte italienische Landschaft trägt. Hinaus immerzu, immerzu hinaus.
Auch dieses Agnus Dei, sein vibrierendes Licht in der Landschaft, auch das ist der Mensch. Und wenn die KI das Komponieren übernimmt, dann stirbt die Landschaft, der Weg hinaus, das Licht, die Vibration, stirbt Gott und das Lamm. Dann ist das alles nie gewesen und nie hat einer auf den Namen Johannes Tinctoris im Alzanello zu Ferrara übernachtet, Dokument hin oder her.
**
Deine Sätze sind zu lang. Das liest keiner. Das verkauft sich nicht. Streiche die Nebensätze. Sagten sie mir in den Redaktionen des Widerstands. Sie wussten nicht wirklich, was sie sagten. Die Menschheit geht drauf, Kinder, und die Sätze, die das fassen, müssen kurz sein.
Kurz für wen am Ende? Zuweilen verteidigte ich mich, manchmal ergriff mich die Lähmung. Halten wir fest: Die Kürze ist verantwortlich für den Coronairrsinn. Für Lauterbäche und Bärböcke in Ministerämtern, für das Flaggenschwenken für die Ukraine und für den Abbau in den Brodman-Arealen 44 und 45. Nicht nur die Spike-Injektionen, auch kurze Sätze lassen den Hippocampus schrumpfen. Die kurze Sprache ist ein Kind der Werbung, Kern der Optimierung und das Mekka der Smartness.
**
Was ich erfahren musste: Wer mit seinem Widerstand verständlich sein will, muss die Kürze bedienen. Anders hat der Widerstand keine Chance. Wird mir gesagt. Meine Logik geht anders, Kinder: Wer sie bedient, kann sich den Widerstand ans Bein streichen und über Trainerentlassungen im Fußball berichten. Mehr noch, er hat ihn schon aufgegeben und bedient sie mit: die Gehirnschrumpfung. Tuchel und Terzic aber, Kinder, bauen manchmal überraschend lange Sätze, um Niederlagen zu erklären, und an solchen kleinen Paradoxien halte ich mich fest.
**
*Die Universität Kiel, die sich bereits 1914 und 1933 als Kriegstreiber- und Sturmuniversität hervorgetan hat, hat meiner Ansicht nach aus ihrer Vergangenheit wohl nicht so viel gelernt. Und den Politikwissenschaftlern, bei denen ich als Lehrbeauftragter tätig gewesen bin, möchte ich einen Satz eines ihrer Nestoren, des linksradikaler Tendenzen unverdächtigen Professor Karl-Dietrich Bracher, aus seinem Buch „Die deutsche Diktatur“ über die Entstehung des Nationalsozialismus ins Stammbuch schreiben: „Die Synkrisis des deutschen Geisteslebens mit der nationalen Revolution Hitlers war bestürzend nicht nur im Blick auf die Primitivität des Ideenkonglomerats, aus dem die NS-Weltanschauung gespeist wurde, sondern mehr noch durch die blinde Unterwerfung unter ihren betont unduldsamen Ausschließlichkeitsanspruch. Aber dies demonstrierte nur den Vorgang der Selbstgleichschaltung, der von Staatsrechtlern zu Nationalökonomen, von Historikern zu Germanisten, von Philosophen zu Naturwissenschaftlern, von Publizisten zu Dichtern, Musikern, bildenden Künstlern reichte. Untrennbar griffen Byzantinismus, Manipulation und Zwang ineinander.“ * Das sagt Patrik Baab (1).
**
Der Interviewer fragt daraufhin: *Sie setzen aber nicht die Zeit von damals mit der Zeit heute gleich? * Ich aber, wie ich das lese, halte inne und bete: „Um Himmels willen, tun Sie es nicht, Herr Baab, Sie wollen doch weiterleben, nicht wahr, und wenn Sie das wollen, bitte Herr Baab, setzen Sie nicht gleich und am besten nie wieder überhaupt etwas in Bezug!“
**
Die bürgerliche Öffentlichkeit ist eine Zensur- und Denunziationsöffentlichkeit geworden. Sagt Patrik Baab (2). Auch dank des Verbots zu vergleichen.
**
Dafür schlafen meine Freunde. Tief und gut. Und von daher müsste ihr Gehirn, vor allem ihr Hippocampus, wie der Gehirnforscher Michael Nehls aufzeigt, gänzlich intakt sein. Wäre dem allerdings so, müssten sie wiederum die Dinge erkannt haben, wie sie sind, nicht wahr, Corona und so... Nein, Kinder, die Dinge wollen nicht zusammenfinden, denn hätten sie die Dinge, wie sie sind, erkannt, würden sie schlecht schlafen, der Hippocampus begänne zu schrumpfen, sie würden nichts mehr begreifen... und wieder ging es ihnen deshalb gut und sie könnten gut schlafen...
**
Ich weiß nicht, wie viele Male mein kurdischer Freund und ich den Vorgebirgspark umrundet haben. Wie die Viren zu schwirren begannen, begannen wir jedenfalls mit dem Gehen. Es war ein Gehen gegen Zeit und Irrsinn. Bei Kälte, Hitze, bei Sonne, Regen, Hagel. Meistens war es einfach grau. Einige Leute drehten bereits den Kopf nach uns. Wir gingen ja nicht bloß, wir sprachen laut und nicht selten aufgeregt, auf dass der Irrsinn nicht auch uns befiele. Beide erst noch mit einer Phonetik, die uns als Fremde auswies. Was meinem kurdischen Freund auffiel: Das grenzenlose Vertrauen der Menschen kurdischer und türkischer Herkunft in den deutschen Staat. Und bald kamen die Impfschäden. Einer seiner Cousins ringe mit dem Tod.
Auch in seiner Heimatstadt in der Türkei seien schon zig Leute verstorben. Alle „geimpft“. Allerdings werde die Impfung als Todesursache in der Türkei offen ausgesprochen. Die kurdisch-türkischen Kreise zu Köln dagegen seien weiterhin zuverlässig auf Kurs. Was die Auswirkungen im Gehirn betrifft, kann es am Ende selbst ein Erdogan mit der deutschen Ordnung nicht aufnehmen.
**
In einer Gesamtschule in Köln kritzelte ein 12-jähriger Junge, Sohn meines Vorgebirgsparkweggefährten, zum Scherz ein Hakenkreuz auf das Heft eines Mitschülers, das Jahr 2023. Ebenso in Köln, ein Jahr davor, entblößte ein Junge, zehnjährig, seinen Po in der Pause zwischen zwei Lektionen. Das geschah in der Klasse meiner Tochter, sie hat es mir erzählt. Kleine Provokationen, letzte Ausbrüche auf dem Weg zum rundumüberwachten Staatsbürger. In der Zeit, in der ich aufgewachsen bin, hätte beides einen ironischen Kommentar der Lehrperson abgesetzt und fertig. Solche Scherze heute, solches Kritzeln und Hautzeigen aber weckt den ganzen Apparat auf. Es macht das Kind zum Täter und führt auf direktem Weg ins Büro des Schuldirektors, die Eltern als Vorgeladene mit dabei. Dort kassieren Kind und Eltern die Androhung auf Ausschluss im Wiederholungsfall. Nischen für Experimente und dumme Streiche sind den Kindern genommen. Außerdem wissen Lehrer nicht mehr, wie Ironie geht und was es ist. Hippocampale Schrumpfung.
**
Was zuverlässiger Faschisten erzeugt, Kinder? Eine Gesellschaft mit Nischen für dumme Streiche? Oder eine Gesellschaft angelegt als ein einziger großer dummer Streich, der keine Nischen duldet?
**
Und wenn ein 12-jähriges Mädchen von einer ungefähr gleichaltrigen Freundin erstochen wird, so wird dafür plädiert, die Militanz auszuweiten, um Kindern den Prozess frühzeitig machen zu können und mit der Justiz — also der Coronajustiz, wir erinnern uns — über sie herzufahren.
Dabei ist es die Militanz selbst, die alle Nischen tilgt. Wären Nischen für dumme Scherze vorhanden, die niemanden schmerzen, würden Kinder nicht töten. Aber die Kinder sehen nur eines: ein tötendes und tilgendes und stets sanktionierendes System und sie wissen: Das ist kein Scherz. Abends um acht in der ersten öffentlich-rechtlichen Medienanstalt bekommen die Kinder sodann die Ministerpräsidenten und Impfexperten vorgezeigt. Vorgezeigt, wie denen die Verdienstkränze um die Hälse gelegt werden. Dafür, dass sie mit ihrer Coronapolitik Menschen zur Strecke gebracht, Kinder traumatisiert, Alte in Pflegeheimen einsam verenden ließen. Schwierig in solchen Zeiten den Weg zu finden, den richtigen.
**
Jener Cousin, der mit dem Leben rang, ist wenige Tage später verstorben. Er werde in der Türkei begraben, sagt mein Vorgebirgsparkgehgefährte. Die Nachricht stimmt mich glücklich. Nicht dass er gestorben sei, vielmehr dass er die Ewigkeit nicht in Deutschland verbringen muss.
**
Was ist mit jenem meinem Schüler geworden, der aus erkenntnistheoretischen Gründen das Gesäß entblößte? So frage ich mich manchmal halb delirierend. Hat er dieses Gesäß auch während den Coronahochzeiten gezeigt? In der Straßenbahn, im Supermarkt, mit FFP2 darüber gespannt? Und was ist mit allen andern geworden, die ich die Subversion lehrte und die Dekonstruktion der Macht? Ein kurzer Blick ins Internet gibt Antwort: Sie sitzen als Anwälte in Zürich, Genf und London, arbeiten in einer EU-Behörde in Brüssel, sind in leitender Stellung beim IKRK in Afrika oder geben als CEOs von Brandingfirmen Seminare über Marketing und Gender. Einige sind Assistenten an Lehrstühlen oder haben eine Vertretungsprofessur inne. Und führen sie eine eigene Arztpraxis, so sind die Verlautbarungen der WHO das erste, was einem auf ihrer Praxiswebsite ins Auge springt.
**
Ich wollte die Faschismusdekonstruktion lehren, Kinder, und habe Faschisten gezüchtet. Ob Gott das mir verzeihen wird? Wahrscheinlich, kleiner Trost, waren sie es zuvor schon. Die meisten jedenfalls, und die Auszeit bei mir hätte einfach gereicht. Bei jenem Mädchen, aus jedem Schultag eine Inszenierung formend, mit lauter verbotenen Plänen im Kopf und mit verbotenen Utensilien im Spinn — sie zeigte mir diese Utensilien einmal spätnachmittags bei trübem Licht, das Schulhaus fast schon leer — hat die Zeit in meinem Unterricht gereicht. Dieses Mädchen lebt nicht mehr. Im Internet finde ich einzig die Todesanzeige. Franziska L., und die Jahreszahlen. 1994 bis 2016. Wenn ich Leute anmaile aus jener Zeit und nach ihrem Tod frage, so bleibt es still. Niemand schreibt zurück. Ob das mit Franziskas Tod zu tun hat, mit mir, mit Faschismus?
**
Dass ihr Menschen, rief ich aus, um von einer Sache zu reden, gleich sprechen müsst: Das ist töricht, das ist klug, das ist gut, das ist bös! Und was will das alles heißen? Habt ihr deswegen die inneren Verhältnisse einer Handlung erforscht? So fragt ein Querdenker.
**
Corona hatte den Vorteil, dass die Welt für eine gewisse Zeit strukturiert vorlag. Jene, die nicht begriffen, die Masse eben, und innerhalb dieser noch eine Verstandesetage tiefer: Linke, Grüne und Beamte auf der einen Seite. Und jene die begriffen, was mit der Inszenierung angestrengt war, auf der anderen. Und dann noch paar wenige, die Inszenierung in Gang setzend. Inzwischen ist die Welt wieder verworrener — gerade auch unter jenen, die 2020 gefühlt, scheinbar oder tatsächlich den Durchblick hatten. Und so gibt es Tausend Ausgangspunkte, von denen anzusetzen wäre zu einer Debatte, einer benötigten, und das lähmt. Denn diese Tausend Ausgangspunkte ergeben sich nicht aus dem Nichts, sie ergeben sich aus den Mustern, die überall sich einstellen, hüben wie drüben, und die am Ende faschistische Muster sind. Vielleicht auch einfach anthropologische, was die Lähmung abermals potenziert.
**
Was war es denn, was ich bei den Anderen gespürt habe, was mich euphorisch werden ließ über die Tatsache hinaus, nicht allein zu sein? Es war ein inneres Feuer für Menschenmögliches, Kinder, es war eine Erkenntnis aus einem menschlichen Urgrund heraus — weit vor jeder Ideologie, jeder Lehre, jeder Theorie und These —, es war das Begreifen, dass es um den Menschen bei diesem Coronatheater geschehen ist, und es war ein fast frühlingshaftes, unteilbares und unerschütterliches Einstehen für diesen menschlichen Urgrund, den ich von allen anthropologischen Konstanten abgrenze, weil er zuvor ist, vor der Angst und vor dem Tod und vor der Angst vor dem Tod. Zu den Menschen, für die es nicht in Frage kam, sich dem Geschehen hinzugeben, fielen alle Schranken und ich erkannte mich in den anderen, ich sah mich mehrfach, und indem ich das sah, verlor ich mich als isoliertes Wesen und wurde Teil einer Feier, die keinen Rahmen hatte. Keine Regeln, keine Community. Es war ein Adventum, der Anlass monströs.
**
Diese Ankunft kann nicht dauern, vor allem, wenn der Anlass weg ist und sei es zum Schein nur. Bald fallen die Muster auch da wieder ein, wo in den euphorischen Augenblicken des Widerstandes — in einem bis jüngst fremden Garten, an einem bis jüngst fremden Tisch mit bis jüngst fremden Leuten, bei Nacht und Leben in einem bis jüngst fremden Lokal der Stadt ungeahnterweise unweit der eigenen Wohnung liegend — diese gleichen Muster alle abperlten. Bei den Menschen, hervortauchend aus dem Urgrund, perlten sie ab. Das war das Glück und die Grenzverwischung und die große Vereinigung jener Tage. Bis einer hervortrat mit dem Glas...
**
Jener Augenarzt, von dem ich schon sprach, Kinder, lud zu Beginn des Jahres 2022, der russische „Angriffskrieg“ hatte soeben begonnen, Menschen in sein Haus zur Tafel. Es versammelten sich etwa 25 Leute, vereint durch ihren Widerstand gegen die Corona-Repression. Der Abend stand für mich allerdings unter einem schlechten Stern, war ich doch aufgrund eines Bandscheibenvorfalls an ein Wärmekissen gebunden. Allein der Anlass und sein Gastgeber ließen mich das Wagnis, mit Schmerzen die Wohnung zu verlassen, überhaupt eingehen und so stand auch ich, noch bevor es zu Tische ginge, mit einem Glas Sekt in der einen Hand, mit der anderen das Wärmekissen fixierend, leicht schmerzgekrümmt unter den vertrauten, mir zumeist aber dennoch unbekannten Menschen, als einer der Gäste das Glas hob und in die Runde rief: „Auf die Ukraine, auf die Freiheit!“ Und nach zwei Sekunden der Stille, die folgte, und wie zur Erklärung fügte er bei: „Denn das ist es doch, was auch wir hier während Corona verteidigt haben: die Freiheit!“ Ich staunte nicht schlecht, mich plötzlich in einem solchen WIR wiederzufinden, sah mich indes, das Wärmekissen umliegend, nicht in der Lage, Einspruch zu erheben. Auch strahlte, wie mir plötzlich schien, der Mann etwas Rohes aus, das Fleisch im Gesicht gerötet, die Haut aufgedunsen. Innerlich sah ich bereits ein paar Haudegen des Asow-Bataillons durch die Küche schleichen und gegen solche musste ich rein physisch den Kürzeren ziehen, selbst ohne Bandscheibenschaden. Immerhin ließ ich das Glas unten.
Auch der Gastgeber, ebenso irritiert, wie mir schien, prostete nicht mit, sondern senkte vielmehr seinen Kopf zu mir herab und sagte halblaut: „Wenn das nicht der nächste Bär ist, den man uns aufbindet...“ Seine Worte — für den Ukrainefahnenschwenker, damit beschäftigt, mit den Gläsern anzustoßen, die sich ihm entgegenrichteten, nicht vernehmbar — gaben mir immerhin die Gewissheit, nicht in einem Stepan-Bandera-Club gelandet zu sein.
Wie der Abend zu Ende ging, kann ich nicht sagen. Ich verblieb lediglich eine knappe Stunde an der Tafel und verließ das Geschehen aufgrund der Schmerzen frühzeitig. Der Impuls zum Aufstehen kam, als mir der am anderen Tafelende platzierte Freiheitskämpfer wieder in die Augen fiel, das Glas in die Höhe gestemmt.
**
Weshalb nochmals die Repetition an dieser Stelle, Kinder, weshalb nochmals Corona, Ukraine, wo wir doch durch sind und eigentlich nur noch auf eines Lust haben: zu schwimmen und zu drehen in einem Waldsee? Es ist einfach: Wir müssen über Materie und Geist noch sprechen, bevor wir in der Schönheit aufgehen. Das Patent 060606 aber scheint mir ein guter Bezugspunkt, um auf die hinter allem lauernde Thematik von Materie und Geist zu blenden. Die digitale Repression, indem sie das Subjekt streicht, tilgt Geist und Seele aus der Welt. Ware hat nicht Geist, nicht Seele. Zukunftskonzepte der Menschenhaltung, etwa in den smart city-Entwürfen deutlich werdend, sind Konzepte ohne Geist und Seele. Das Leben darin ist eine digital durchorganisierte Prozedur. Alles ist codifiziert. Ein Sein außerhalb gibt es nicht. Das Leiden ist weg, die Angst vorm Tod ebenso – und die Kunst.
Zombies sind Materie und haben weder Geist noch Angst. Der Angriff auf den Geist aber — und dies ist schon tricky, Kinder — ist ein Angriff auf Materie. Auf unser Gehirn. Denn unser Geist und unsere Seele vergessen, wird das Gehirn nicht versorgt oder mit toxischen Stoffen überschwemmt. Sind wir also grundsätzlich Materie? Ist auch unserer Angst Materie — eine Neuronenkonstellation und nichts weiter? Und meine „Klage“ hinsichtlich des Verschwindens von Geist und Seele natürlich ebenso? Wie auch Novalis‘Hymnen an die Nacht Materie wären und die betörende Musik der Renaissance samt dessen, was sie in mir auslöst? Gibt es also dieses Verschwinden des Subjekts gar nicht in echt, weil das Subjekt selbst schon Materie ist, abhängig von Stoffen, die zugefügt werden, abhängig von Zellstrukturen, von Neuronen, Synapsen, Transmittern et cetera? Ist das Subjekt also nicht echt und das, wovon wir reden, wenn wir von Subjekt reden, eine Figur der Materie selbst?
**
Wäre dem aber so, wäre nicht auch Freiheit Materie und somit unfrei, nämlich abhängig von Prozessen, die kausal ablaufen? Damit entfällt der freie Willen: auch er eine Neuronenstruktur?
Hätte also niemand aus freiem Willen gegen die Repression demonstriert? Hätte das Gehirn aufgrund materieller Kausalitäten lediglich dieses oder jenes Verhalten herbeigerechnet und entsprechend hätte ein Gehirn gehandelt? Und das wäre bei einem Ken Jebsen nicht anders gewesen als bei einem Karl Lauterbach?
Und gibt es in Wirklichkeit somit auch keine Repression, keinen Staatsterror? Die Leute wären für nichts auf die Straße gegangen, Ärzte hätten für eine Illusion — ebenso eine materielle Konstellation — Injektionen verweigert und Einfälle der Staatsmacht in ihre Praxen, mehr noch: ihre Existenz riskiert?
Hier können Sie das Buch bestellen: Tredition