Kein Frieden ohne Gerechtigkeit

Juristen aus aller Welt setzen sich in einer internationalen Stellungnahme für die Anerkennung der israelischen Verbrechen als Völkermord ein.

„Es liegt in der Verantwortung der Mitgliedstaaten, das Völkerrecht durchzusetzen und dafür zu sorgen, dass diejenigen, die gegen das Völkerrecht verstoßen, zur Rechenschaft gezogen werden. Andernfalls wird der Kern des internationalen Rechtssystems geschwächt und es wird ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen, der es ermöglicht, dass Gräueltaten ungestraft verübt werden können“, erinnerte der UN-Sonderausschuss über die israelischen Handlungen in den besetzten palästinensischen Gebieten. In dieser Stellungnahme werden die von Israel begangenen Verbrechen rechtlich als Völkermord eingestuft, um die Staaten an die Verpflichtungen zu erinnern, die sich aus einer solchen Einstufung ergeben. Die Stellungnahme ist in sieben Sprachen verfügbar und ruft Juristen weltweit dazu auf, von ihrer Handlungsmacht Gebrauch zu machen, da „unsere Untätigkeit nicht nur unschuldige Leben nicht schützen kann (....), sondern auch das internationale Rechtssystem gefährdet“ (1). Die Initiatorinnen der Stellungnahme, Marie-Laure Guislain und Tamsin Malbrand, bitten alle, ihnen bekannte Juristen, Anwälte, Richter und Rechtsdozenten zu ermutigen, sie bis zum 24. Februar 2025 um 20 Uhr zu unterzeichnen. Sie sind überzeugt: Ein entschiedenes gemeinsames Vorgehen kann noch etwas bewirken.

Keine Hoffnung auf dauerhaften Frieden ohne Gerechtigkeit: Juristen aus aller Welt setzen sich für die Anerkennung des Völkermordverbrechens ein.

Auch wenn der Waffenstillstand vom Januar ein Ende der systematischen Massaker in Gaza andeutet, lehrt die Geschichte, dass dauerhafter Frieden nicht ohne Gerechtigkeit geschaffen werden kann. Es ist daher zwingend notwendig, dass dort nicht auch das Völkerrecht stirbt, indem man damit beginnt, die von Israel begangenen Verbrechen im Rahmen dieses Rechts korrekt zu qualifizieren. Dutzende Juristen, Anwälte, Richter und Rechtsdozenten aus der ganzen Welt schließen sich den Experten und Berichterstattern der Vereinten Nationen an und bekräftigen in dieser Stellungnahme, dass diese Verbrechen als Völkermord eingestuft werden sollten, und erinnern damit an die rechtlichen Verpflichtungen der Staaten, sobald ein ernsthaftes Risiko für Völkermord besteht.

Die Völkermordkonvention von 1948 definiert das Verbrechen des Völkermords als eine einzelne oder mehrere „Handlungen, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören“. Israel hat mindestens drei dieser Taten in Gaza begangen:

„Mord, schwere Körperverletzung, schwere Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Unversehrtheit und die vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Existenzbedingungen, die zu ihrer vollständigen oder teilweisen physischen Zerstörung führen sollen.“

Erstens haben die israelischen Angriffe seit dem 8. Oktober 2023 mehr als 47.354 Menschen in Gaza direkt getötet, darunter mehr als 14.500 Kinder, ohne die Tausenden unter den Trümmern zu zählen.

Zweitens zählt man mehr als 111.563 Verletzte, die weltweit höchste Zahl an Kindern mit amputierten Gliedmaßen pro Einwohner, und verursachte das Klima des Terrors massive Traumata. Inhaftierte wurden häufig gefoltert und misshandelt, was die körperliche und psychologische Unversehrtheit der Palästinenser in Gaza erheblich beeinträchtigte.

Drittens bombardierte Israel systematisch die Lebensgrundlagen (Wasserstellen, Ackerland usw.), 92 Prozent der Wohnhäuser, 84 Prozent der Gesundheitseinrichtungen, die sanitären und elektrischen Anlagen (was zu einer Rekordzahl von Infektionen und Krankheiten führte) und vertrieb 90 Prozent der Bevölkerung in Lager, die anschließend bombardiert wurden.

Zudem ordnete Israel eine „vollständige Belagerung“ des Gazastreifens an, wodurch die humanitäre Hilfe nur sehr begrenzt durchgelassen wurde. Die akute Unterernährung hat alarmierende Ausmaße erreicht, wodurch laut UNICEF „der Verlust einer ganzen Generation“ droht.

Im Juli 2024 bestätigte der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, dass „Israel die Hungersnot als Strategie im Rahmen des Völkermords, den es derzeit betreibt, einsetzt“ (2).

Diese Bedingungen sind sehr wohl geeignet, die „vollständige oder teilweise Vernichtung“ der Palästinenser in Gaza herbeizuführen und sie im Sinne der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) zu einem langsamen Tod zu verurteilen.

Entgegen der weit verbreiteten Meinung erfordert Völkermord keine Mindestanzahl an Opfern. Mehrere Gerichte stuften Übergriffe, die kleinere Massaker beinhalteten, wie die der Jesiden oder der bosnischen Muslime in Srebrenica, als Völkermord ein.

Im Hinblick auf das vorsätzliche Element des Völkermords reicht der Wille, einen Teil der Gruppe zu vernichten, aus, wenn er wesentlich ist. Die Rechtsprechung räumt ein, dass sich die Zielpartei in „einem bestimmten geografischen Gebiet“ befinden kann, wobei sie die Kontrolle und Zweckmäßigkeit des Völkermörders über dieses Gebiet beurteilt. Gaza ist eingeschlossen und steht unter der Kontrolle Israels. Es hat also die „Möglichkeit“, die Bevölkerung zu vernichten.

Außerdem machen die Einwohner Gazas 40 Prozent der 5,5 Millionen Palästinenser aus, also einen Teil, der „groß genug ist, dass sein Verschwinden Auswirkungen auf die gesamte Gruppe hat“ (3). Da das quantitative Kriterium auf tragische Weise erfüllt war, erkannte der IGH im Januar 2024 an, dass es sich um einen „wesentlichen“ Teil der Gruppe handelte, ohne dass andere Kriterien geprüft werden mussten.

Auch Israels Absicht, Völkermord zu begehen, kann durch direkte Beweise belegt werden, da israelische Beamte Stellungnahmen und Dokumente veröffentlicht haben, die diese Absicht klar zum Ausdruck bringen. Yoav Gallant enthüllte:

„Wir kämpfen gegen menschliche Tiere und handeln dementsprechend [...] Gaza wird nicht zu dem zurückkehren, was es vorher war. Wir werden alles zerstören“ (4).

Der israelische Präsident Isaac Herzog fügte hinzu:

„Wir werden kämpfen, bis wir ihnen das Rückgrat gebrochen haben“ (5).

37 Experten und Berichterstatter der UNO waren schon ab November 2023 alarmiert von einer „offensichtlich Völkermord beabsichtigenden und entmenschlichenden Rhetorik hoher israelischer Beamter“ (6), die zur „totalen Zerstörung“ und „Auslöschung“ des Gazastreifens aufrief und die Notwendigkeit betonte, „sie alle zu erledigen“, eine Rhetorik, die „in verschiedenen Bereichen der israelischen Gesellschaft“ (7) weit verbreitet war.

In Bezug auf indirekte Beweise für die Völkermordabsicht stellten die Experten systematische Angriffe auf Zivilisten fest, die nach dem Recht bewaffneter Konflikte verboten sind und unverhältnismäßige Verluste unter ihnen verursachten: „25.000 Tonnen Sprengstoff“, das entspricht zwei Atombomben, wurden in den ersten Monaten über einer Fläche abgeworfen, die der Hälfte von Madrid entspricht, und zielten auf dicht besiedelte Stadtteile ab, oft nachts.

Auch ungewöhnliche und geplante Methoden wurden beobachtet: Beschuss von Zivilisten, die Lebensmittel abholen wollten, Angriffe auf die Straße, die die Bevölkerung benutzte, während sie innerhalb von 24 Stunden zwangsevakuiert wurde, wiederholte Zwangsumsiedlungen der Bewohner von Gaza in „Sicherheitszonen“, die als Flüchtlingslager ausgewiesen und anschließend bombardiert wurden, und die Zerstörung von Krankenhäusern und Schulen, in die sich die Überlebenden geflüchtet hatten. Die Fortsetzung der Verbrechen durch Israel trotz wiederholter Warnungen der UNO und des IGH, die festgestellt hatten, dass ein „reales und unmittelbares Risiko“ eines Völkermords besteht, ist ein ebenso entscheidendes Indiz für die Einstufung des vorsätzlichen Elements.

Schließlich kann sich Israel nicht auf das Recht auf Selbstverteidigung berufen, ohne die Grundsätze der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten. Ein Besatzungsstaat kann sich jedenfalls nicht darauf berufen, wenn die Bedrohung von dem besetzten Gebiet ausgeht.

Die Unterzeichner dieser Stellungnahme fordern daher alle Staaten dringend auf, ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen: Verhinderung von Völkermord an den Palästinensern in Gaza und den anderen besetzten palästinensischen Gebieten; alle nötigen Handlungen zur Aufrechterhaltung eines dauerhaften Waffenstillstands; Verhängung eines vollständigen Waffenembargos und von Wirtschaftssanktionen gegen Israel; Einstellung jeglicher Art von finanzieller, militärischer oder sonstiger Unterstützung für Israel, die wegen Beihilfe zum Völkermord strafrechtlich verfolgt werden kann, und Aussetzung von Kooperationsabkommen mit Israel; Unterstützung der Umsetzung der Anordnungen des IGH; Festnahme der Verantwortlichen, gegen die der Internationale Strafgerichtshof einen Haftbefehl ausgestellt hat; strafrechtliche Verfolgung der natürlichen Personen und Instanzen, die für den Völkermord verantwortlich sind oder Beihilfe dazu leisten, in ihren Rechtssystemen, auch im Rahmen der universellen Gerichtsbarkeit.

Hier können Juristen, Anwälte und Rechtsdozenten die Stellungnahme unterzeichnen: zur Stellungnahme in allen Sprachen.


Recherche und Redaktion:

Marie-Laure Guislain, ausgebildete Rechtsanwältin, die sich in Frankreich auf internationale Verbrechen spezialisiert und unter anderem die Klagen wegen Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Lafarge oder Beihilfe zum Völkermord gegen BNP in Ruanda initiiert hat.

Tamsin Malbrand, ausgebildete Anwältin, die sich in Frankreich auf internationale Verbrechen spezialisiert hat und unter anderem die Klage wegen Beihilfe zum Völkermord gegen BNP in Ruanda initiiert hat.

Personen, die einen Beitrag geleistet haben:

Joel Bedda, Jurist für internationales Strafrecht und humanitäres Recht

Yasmina El Moussaid, Juristin für internationales Recht


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst hier. Er wurde von Elisa Gratias ins Deutsche übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratsteam lektoriert.