Kalt gestellt
Die Verbindung von Macht und Geld führt im deutschen Journalismus zum Ende des Berufsethos — oder zum Bürgergeld. Teil 2 von 2.
Während die künftige Regierung ein Hunderte Milliarden schweres Schuldenpaket für Rüstung schnürt, fragen sich die Wähler erneut, wo die kritische Berichterstattung bleibt. Wie ist es um den Berufsstand des Journalisten bestellt, der den Mainstream verlässt? Welche Konsequenzen hat Bürgergeld für die eigene berufliche Tätigkeit? Werden das Grundgesetz und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 respektiert? Die Autorin berichtet von Fallbeispielen, teilweise aus eigener Erfahrung.
Geld, Arbeit und Menschenwürde
Da der Wert der Arbeit in unserer Gesellschaft noch immer am Geld bemessen wird, aus meiner Sicht der größte und folgenschwerste Irrtum unserer Zeit, ist der Gang zum Jobcenter massiv tabuisiert. Es spricht einfach niemand darüber. Die von Zeit zu Zeit im Fernsehen gesendeten „Hartz-IV-Bürgergeld-Klischee-Reportagen“ mit problembelasteten und alkoholkranken Stereotypen von „Sozialschmarotzern“ vervollständigen das neue alte Feindbild. Anstelle des Tabus braucht es aber eine offene Diskussion zum Thema Existenzsicherung im Kapitalismus.
Um den psychologischen Druck massiv zu erhöhen, halten sich die Jobcenter aber nicht einmal an die Gesetze und das vom Bundesverfassungsgericht im November 2019 gesprochene Urteil. Es scheint, der Mensch solle lieber hirnlos schuften, anstatt sich zu besinnen und auf eine positive Veränderung hinzuwirken.
Die Hartz-IV-Sanktionen bis 2019 nahmen den Menschen jede Lebensgrundlage und brachte viele Tausende jährlich in der Obdachlosigkeit, und das in einem Land mit harten, langen Wintern.
Von 2010 bis Dezember 2016 stieg die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland von 248.000 auf 335.000.
Eine Bürgerbewegung um Ralph Boes erreichte 2019, dass Menschen nicht mehr massiv sanktioniert und auf die Straße geworfen werden können. Der Menschenrechtsaktivist Ralph Boes hungerte mehr als 75 Tage lang, um einen Präzedenzfall zu schaffen und die unmenschliche und würdelose Praxis zu beenden. Er verlor 18 Kilo Körpergewicht. Durch dieses öffentliche „Sanktionshungern“ brachte er unter Einsatz von Gesundheit und Leben gemeinsam mit der Bewegung den Fall vor das Bundesverfassungsgericht. Das Ziel war, auf dem verfassungsmäßig garantierten Grundrecht auf ein Leben in Würde zu bestehen. Hartz-IV hatte die Menschen permanent dazu gezwungen, sich zwischen Würde und Leben zu entscheiden, so Boes. „Da mache ich nicht mit.“
Von 1991 bis 2017 starben einer Schätzung zufolge fast 300 wohnungslose Menschen an Unterkühlung. Für den Winter 2018/2019 geht die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe davon aus, dass mindestens zwölf wohnungslose Menschen erfroren sind. Im Corona-Winter 2020/21 bezahlten 23 obdachlose Menschen in Deutschland das kapitalistische Diktat mit dem Leben und erfroren. Von da an bis 2024 bewegt sich die Zahl jeden Winter zwischen drei und sechs.
Das Sterben auf Deutschlands Straßen muss ein Ende finden. Ein Rückfall unserer Gesellschaft in die Richtung der unmenschlichen und tödlichen Hartz-IV-Sanktionen ist unbedingt auszuschließen.
Obdachloser in Berlin, Januar 2024. Foto: Angela Mahr
Arbeit ist etwas, das jeder Mensch einbringen möchte und einbringt, seinen Fähigkeiten und Talenten entsprechend. Es wäre wohl eine der größtmöglichen Strafen, einem Menschen ein für alle Mal und für immer zu verbieten, zu arbeiten, zu helfen, mitzumachen. Das liegt einfach in unserer Natur. Jedes kleine Kind greift selbst zur Tat, wenn es Erwachsene bei der Arbeit sieht, um etwas beizutragen. Es liegt allerdings nicht in unserer Natur, hierarchischen Strukturen gegenüber grundsätzlich zu „buckeln“ und Befehle oder Weisungen entgegenzunehmen, während wir unser Gewissen ausschalten und wenig oder keine Verantwortung übernehmen. Wir versäumen dann, mitzuentscheiden, was von wem, wie und wozu eigentlich gearbeitet werden soll.
David Graeber hat dieses Dilemma bereits 2018 sehr anschaulich in seinem berühmten Buch „Bullshit Jobs — vom wahren Sinn der Arbeit“ dargelegt.
Prägnant und zugespitzt formuliert es der Journalist Felix Feistel im Jahr 2023:
„Es wird so viel Schwachsinn produziert, so viel gearbeitet, gewerkelt, gemacht und getan wie wahrscheinlich noch nie zuvor. Doch anstatt dass die Menschen das Erreichte nutzen und es gerecht auf alle verteilen, anstatt dass sie mal ein bisschen kürzer treten und sich dem Leben zuwenden, steigen Ungleichheit und Armut, können sich immer weniger Menschen leisten zu leben, was ja an sich schon ein Ausdruck für den Wahnsinn ist, in dem wir uns befinden. Trotzdem wird immer weiter produziert, immer weiter gearbeitet und das System damit immer weiter angetrieben.“
Der Knackpunkt in meinen Worten ist:
Menschen sollten so arbeiten, wie sie es vom Herzen her wollen, vom Verstand her als sinnvoll erkennen und mit ihrem Gewissen vereinbaren können. Es gibt keinen Menschen, der ausschließlich zum Erfüllungsgehilfen geboren wurde.
Unangenehme und anstrengende Arbeiten brauchen gesunde Arbeitsbedingungen und entsprechende Entlohnung. Zeitlich sollten sie auf mehreren Schultern aufgeteilt werden, und die Strukturen der Unternehmen müssen mehr Mitverantwortung ermöglichen. Das entspricht dann sowohl der freien Berufswahl als auch der Menschenwürde.
Es gab und gibt Wege, das alles zu vereiteln, sei es durch kommunistische staatliche Reglementierung oder durch kapitalistische strukturelle Gewalt. Unsere Aufgabe ist es, das jeweils zu durchschauen und neue Wege zu finden. In seinem Brandbrief „Die Menschenwürde ist unantastbar“ schreibt Ralph Boes bereits im Juni 2011:
„Menschen mit Arbeit zu beschäftigen, die sinnlos ist, setzt die Menschenwürde außer Kraft — und sie zu bedrohen mit Hunger und mit Obdachlosigkeit, wenn sie dem Zwang zum Unsinn nicht Folge leisten, erst recht.“
Sein Ansatz, nicht den erwerbslosen Menschen zu verändern, sondern die Verhältnisse weiterzuentwickeln, gewinnt jetzt in Zeiten der Künstlichen Intelligenz nochmal rasant an Aktualität.
Freiheit statt Raubtierkapitalismus
Wir werden nicht umhinkommen, neue Strukturen aufzubauen, während die alten unter der Misswirtschaft, dem Raubtierkapitalismus und der Propagandamaschinerie der vergangenen Jahre auseinanderfallen. Das Buch „Reichtum ohne Gier“ von Sahra Wagenknecht aus dem Jahr 2016 bietet bereits zahlreiche wertvolle Ansätze, wie durch genossenschaftliche Strukturen in Unternehmen eine Wirtschaft entstehen kann, die den Menschen dient, statt umgekehrt.
Eine freie Wissenschaft, freie Medien, freie Kunst und Kultur sind essenzielle Bestandteile einer gesunden Gesellschaft. Deutschland leistet sich einen teuren öffentlich-rechtlichen Rundfunk, welcher dringend entfilzt, reformiert und demokratisiert werden muss.
Künstler und Kulturschaffende sind meist die ersten Leidtragenden, wenn die Verflechtung von Macht und Geld zunehmend nur noch einigen wenigen dient. Wenn der Journalismus korrumpiert ist, wird die Bahn frei für Machtmissbrauch und Korruption und das Problem frisst sich in alle Branchen hinein. Es ist ein Irrtum zu glauben, auf bestimmte Branchen verzichten zu können. Eine Gesellschaft ohne freie Kunst, ohne freie Kultur und ohne freien Journalismus wird auch in den anderen Bereichen ihre Freiheit verlieren — oder vorher zur Besinnung kommen.
Es gibt verschiedene sehr gute Ansätze, die Unternehmensstrukturen, die Entscheidungsprozesse und das Geld zu reformieren und zu demokratisieren. Die Lebensgrundlage der Menschen muss vom Kapitalismus entkoppelt und bedingungslos sichergestellt sein. Es geht dabei nicht um Luxus und auch nicht darum, dass sich Unternehmergeist von Neugründern, Engagement oder harte Arbeit nicht lohnen dürfen. Es geht um das Ende der Erpressbarkeit mit dem Leben.
Es ist höchste Zeit, die schon längst entwickelten, fundierten Konzepte dazu zusammenzutragen, ergebnisorientiert zu diskutieren und umzusetzen.