Julian Assanges Tag vor Gericht
In einem letzten Versuch, Julian Assanges Auslieferung zu verhindern, kämpften seine Anwälte am 20. Februar 2024 mutig darum, die Argumente der Anklage zu entkräften.
Die Verschiebung eines für den Beklagten so existenziell wichtigen Urteils ist quälend, ohne Frage. Aber die britische Justiz hat sich nie um die Gefühle oder die Würde von Julian Assange geschert. Wie verläuft ein solcher Prozess? Wie verhalten sich Juristen, die eigentlich wissen müssten, dass sie sich an einem perfiden Manöver beteiligen, das den Zweck verfolgt, Journalisten einzuschüchtern und einen missliebigen Kritiker der USA zu zerstören? Wie ist die Atmosphäre bei so einer Verhandlung und wie behaupteten sich die Anwälte des Whistleblowers? Der persönliche Bericht von Chris Hedges ist als Zeitdokument von besonderem Wert.
LONDON — Am Nachmittag war die Videoübertragung, die es Julian ermöglicht hätte, seinen letzten Einspruch in Großbritannien gegen seine Auslieferung zu verfolgen, abgeschaltet worden. Seinen Anwälten zufolge war Julian zu krank, um (der Verhandlung) beizuwohnen, ja sogar zu schwach, um das Geschehen im Gerichtssaal per Videolink zu verfolgen — wenngleich es auch durchaus möglich war, dass er kein Interesse daran hatte, sich einem weiteren gerichtlichen Lynchmord auszusetzen. Der rechteckige Bildschirm unter den schwarzen schmiedeeisernen Gitterstäben um den Balkon in der oberen linken Ecke des Gerichtssaals herum, wo Julian als Angeklagter eingesperrt gewesen wäre, war vielleicht eine Metapher für die Leere dieser langen und verwickelten Justizpantomime.
Die undurchschaubaren Verfahrensregeln — die Anwälte in ihren blondgelockten Perücken und ihren Roben, die geisterhaften Gestalten der beiden Richter, die in ihren grauen Perücken und weißen Halskrausen von ihrem erhöhten Podium auf das Gericht herabblicken, die mit poliertem Walnussholz getäfelten Wände, die Reihen von Spitzbogenfenstern, die Regale auf beiden Seiten mit Gesetzbüchern in braunen, grünen, roten, karmesinroten, blauen und beigen Ledereinbänden, die beiden Anwälte der Verteidigung, Edward Fitzgerald KC and Mark Summers KC („KC“ bedeutet King’s Counsel und wird besonders erfahrenen und verdienten Anwälten verliehen; Anmerkung der Übersetzerin), die die beiden Richter, Dame Victoria Sharp and Justice Johnson, mit „your lady“ und „my lord“ ansprachen — waren allesamt verstaubte viktorianische Requisiten in einem modernen angloamerikanischen Schauprozess, Vorboten eines maroden Justizsystems, das sich der Macht von Staat und Unternehmen unterwirft und uns durch richterliche Anordnung unserer Rechte berauben soll.
Der physische und psychische Zerfall Julians, der sieben Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in London gefangen gewesen war und fast fünf Jahre lang in Untersuchungshaft im Hochsicherheitsgefängnis HMP Belmarsh (HMP = His Majesty’s Prison; Anmerkung der Übersetzerin) einsaß, war immer das Ziel — Nils Melzer, ehemaliger UN-Sonderberichterstatter für Folter, nannte ihn Assanges „Hinrichtung in Zeitlupe“.
Politische Führer und ihre Echokammern in den Medien überschlagen sich, die Behandlung Alexei Nawalnys anzuprangern, sagen aber wenig, wenn wir dasselbe bei Julian tun. Die juristische Farce zieht sich hin wie der endlose Fall von Jarndyce und Jarndyce in Charles Dickens‘ Roman Bleak House (In diesem Roman, der die Gerichtsbarkeit Englands scharf kritisiert, geht es um eine unendlich sich hinziehende Erbschaftsstreitigkeit; Anmerkung der Übersetzerin). Sie wird sich wahrscheinlich noch ein paar weitere Monate hinziehen — man kann schließlich nicht erwarten, dass die Biden-Regierung all ihren anderen politischen Nöten auch noch die Auslieferung von Julian hinzufügt. Es könnte Monate dauern, bis eine Entscheidung gefällt oder ein oder zwei Berufungsanträgen stattgegeben wird — während Julian weiterhin im HMP Belmarsh dahinsiecht.
Julians fast fünfzehnjähriger Kampf mit der Justiz begann 2010, als WikiLeaks geheime Militärdokumente aus den Kriegen im Irak und in Afghanistan veröffentlichte, darunter auch Aufnahmen, die zeigten, wie in Bagdad aus einem US-Hubschrauber heraus Zivilisten erschossen wurden — unter ihnen hatten sich auch zwei Journalisten von Reuters befunden. Er flüchtete sich in die ecuadorianische Botschaft in London, bis ihn die Metropolitan Police 2019 verhaftete, die von der Botschaft Ecuadors die Erlaubnis erhalten hatte, einzudringen und ihn festzunehmen. Im HMP Belmarsh ist er seit fast fünf Jahren inhaftiert.
Julian hat kein Verbrechen begangen. Er ist kein Spion. Er hat keine geheimen Dokumente gestohlen. Er machte, was wir alle tun, wenngleich auf viel wichtigere Weise. Er veröffentlichte umfangreiches Material, das ihm von Chelsea Manning zugespielt wurde, und Kriegsverbrechen, Lügen, Korruption, Folter und Mordanschläge aufdeckte. Er riss den Schleier von der mörderischen Maschinerie des US-Imperiums und entlarvte sie damit.
Die zweitätige Anhörung ist Julians letzte Chance, gegen die Auslieferungsentscheidung der damaligen britischen Innenministerin Priti Patel im Jahr 2022 Einspruch zu erheben. Am Mittwoch (21. Februar 2024) wird die Anklage ihre Argumente vorbringen. Sollte ihm die Berufung verweigert werden, kann er beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. eine Aussetzung der Vollstreckung nach Artikel 39 beantragen, die in „außergewöhnlichen Umständen“ und „nur bei drohender Gefahr eines nicht wieder gutzumachenden Schadens“ gewährt wird. Das britische Gericht kann jedoch eine sofortige Auslieferung vor einer Anweisung nach Artikel 39 anordnen oder es kann beschießen, das Ersuchen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu ignorieren, in dem Julian gestattet wird, diesem Gericht seinen Fall darzulegen.
Im Januar 2021 lehnte Bezirksrichterin Vanessa Baraitser am Westminster Magistrates‘ Court den Auslieferungsantrag ab. In ihrem 132-seitigen Urteil stellte sie fest, dass ein „erhebliches Risiko“ eines Selbstmordes von Julian Assange angesichts der harten Bedingungen, denen er im US-Gefängnissystem ausgesetzt würde, bestehe. Gleichzeitig akzeptierte sie jedoch alle von den USA gegen Julian vorgebrachten Anklagepunkte als nach Treu und Glauben erhoben. Sie wies die Argumente zurück, dass dies ein politisch motivierter Fall war, dass ihn in den USA kein faires Gerichtsverfahren erwarte und dass seine Verfolgung ein Angriff gegen die Pressefreiheit sei.
Nachdem die US-Regierung Berufung beim Hohen Gerichtshof in London eingelegt hatte, wurde Baraitsers Entscheidung aufgehoben. Obwohl der Hohe Gerichtshof Baraitsers Schlussfolgerung in Hinblick auf Julians „erhebliches Selbstmordrisiko“ bei bestimmten Bedingungen in einem US-Gefängnis akzeptierte, ließ er auch die vier Zusicherungen in der diplomatischen Note Nr. 74 der USA gelten, die dem Gericht im Februar 2021 gegeben und in denen eine gute Behandlung Julians versprochen wurde.
In den „Zusicherungen“ heißt es, dass gegen Julian keine „Special Administrative Measure“ ergriffen werde („Special Administrative Measures sind Maßnahmen im Strafsystem der USA, die insbesondere die Kommunikations- und Kontaktmöglichkeiten von Gefangenen beschränken. Sie sollen dann verhängt werden, wenn durch die Kommunikation des Häftlings die Gefahr terroristischer oder sonstiger Gewaltakte droht.“ Hier entnommen durch die Übersetzerin). Sie versprechen, dass Julian als australischer Staatsbürger seine Haftstrafe in Australien verbüßen kann, wenn die australische Regierung seine Auslieferung beantragt. Sie versprechen ihm eine angemessene medizinische und psychologische Betreuung. Sie versprechen, dass Julian weder vor noch nach seinem Verfahren in der Administrative Maximum Facility in Florence, Colorado, inhaftiert sein wird.
Damit einer Berufung stattgegeben werden kann, muss die Verteidigung die beiden Richter davon überzeugen, dass die Bezirksrichterin schwerwiegende Rechtsfehler begangen hat.
Sie argumentierten, dass Spionage von Rechts wegen ein politisches Vergehen sei und dass das Auslieferungsabkommen mit den USA eine Auslieferung aus politischen Gründen verbietet. Sie stellten das umfangreiche britische Recht, das Gewohnheitsrecht und das Völkerrecht in den Mittelpunkt, die Spionage als „rein politisches Vergehen“ definieren, weil sie sich gegen einen Staatsapparat wendet. Aus diesem Grund sollten der Spionage Angeklagte vor einer Auslieferung geschützt werden. Die Anwälte beschäftigten sich lange damit, den Fall von Chelsea Manning zu beurteilen und ihre Weitergabe von Dokumenten, die Kriegsverbrechen enthüllten, als „in öffentlichem Interesse" zu rechtfertigen. Anschließend folgerten sie, dass Julian das Recht hatte, die Dokumente zu veröffentlichen, wenn Chelsea Manning berechtigt war, diese weiterzuleiten.
Im Laufe des Tages wurde offensichtlich, dass die beiden Richter nicht gut mit dem Fall vertraut waren. So fragten sie ständig nach Zitaten und zeigten sich überrascht, dass hochrangige US-Beamte wie der damalige CIA-Chef Mike Pompeo erklärten, Julian würde in einem US-Gericht nicht den Schutz des Ersten Verfassungszusatzes genießen, weil er kein US-Bürger sei (Im Ersten Verfassungszusatz wird unter anderem die Pressefreiheit garantiert; Anmerkung der Übersetzerin). Julians Anwälte führten vergangene Spionagefälle an, wie beispielsweise den des MI5-Agenten David Shayler, der unter dem Official Secrets Act von 1989 angeklagt wurde, der The Mail on Sunday 1997 geheime Dokumente übermittelt zu haben, in denen die Namen von Agenten aufgeführt waren.
Er enthüllte auch, dass der MI5 (der britische Inlandsgeheimdienst) Akten über prominente Politiker, darunter auch Labour-Minister, führte, und dass der MI6 (der britische Auslandsgeheimdienst) an einem Komplott zur Ermordung des libyschen Führers Muammar Gaddafi beteiligt gewesen war. Der Auslieferungsantrag Großbritanniens wurde vom französischen Berufungsgericht abgelehnt, weil es sich um ein „politisches Vergehen“ handelte.
In allen 18 Anklagepunkten wird Julian vorgeworfen, dass er die Absicht hatte, „die so erlangten Informationen zum Schaden der USA und zum Vorteil einer jeglichen fremden Nation zu verwenden.“
Nach den Anhörungen von 2020, die sich auf Julians geistige und psychische Gesundheit konzentriert hatten, war diese Anhörung insofern erfrischend, als sie sich mit den von den USA begangenen Verbrechen sowie der Wichtigkeit ihrer Veröffentlichung befassten. Die beiden Richter unterbrachen nur selten — im Gegensatz zu anderen Gerichtsverfahren gegen Julian, denen ich beigewohnt habe und bei denen der Richter der Verteidigung oft herablassend das Wort abschnitt.
Dies mag die breite öffentliche Unterstützung — auch durch große Medienunternehmen, die sich nun, verspätet, hinter Julian stellten — widerspiegeln. Hunderte von Menschen drängten sich vor dem Eingang der Royal Courts of Justice, einem weitläufigen viktorianischen Gebäude mit Statuen von Jesus, Moses, Salomon und Alfred dem Großen, den berühmten Säulen der englischen Rechtstradition, um Julians Freiheit zu fordern.
Die Nachmittagssitzung verlief anders. Etwa ein halbes Dutzend Mal unterbrachen die Richter die Verteidigung, um zu fragen, wie die Leaks Leben gefährdet hätten, weil sie nicht gründlich geschwärzt worden waren, obwohl die USA nie in der Lage waren, Beweise dafür vorzulegen, dass irgendjemand aufgrund der Leaks sein Leben verloren hatte.
Diese Falschmeldung war lange das Kreuz, an das US-Beamte Julian nageln wollten. Die beiden Richter schleuderten den Verteidigern diese Anschuldigungen entgegen, bevor die Sitzung vertagt wurde — man musste sich schon fragen, ob die beiden während der Mittagspause Anweisungen erhielten.
„Diese wahllosen Veröffentlichungen wurden von The Guardian und The New York Times verurteilt“, ermahnte Richter Sharp das Verteidigungsteam. „Sie hätten auch anders gemacht werden können.“
Dieser Hinweis war besonders unerhört, da die ungeschwärzten Dokumente nicht von WikiLeaks oder Julian erstveröffentlicht wurden, sondern von der Website Cryptome, nachdem Reporter des Guardian das Passwort für die ungeschwärzten Dokumente abgedruckt hatten.
Die USA streben offiziell die Auslieferung Julians an — ihm würden für die 2010 erfolgte Veröffentlichung der Irak- und Afghanistan-Kriegsprotokolle sowie der Diplomaten-Depeschen der USA bis zu 175 Jahre Gefängnis drohen. Die USA beantragten seine Auslieferung jedoch erst nach der Veröffentlichung der als „Vault 7“ bekannten Akten im März 2017, in denen detailliert beschrieben wird, wie der CIA Apple- und Android-Smartphones „hacken“ und mit dem Internet verbundene Fernsehgeräte, selbst wenn sie ausgeschaltet sind, in Abhörgeräte verwandeln konnte.
Joshua Schulte, ehemaliger CIA-Mitarbeiter, wurde letztes Jahr (2023) in je vier Fällen der Spionage und des Computer-„Hackens“ und in einem Fall der Lüge gegenüber FBI-Agenten, nachdem er geheimes Material an WikiLeaks übergeben hatte, für schuldig befunden. Im Februar wurde er zu 40 Jahren Haft verurteilt.
Nach der Veröffentlichung von Vault 7 bezeichnete der damalige CIA-Direktor Mike Pompeo WikiLeaks als „nicht-staatlichen feindlichen Geheimdienst“. Jeff Sessions, damaliger Generalstaatsanwalt, erklärte, Julians Verhaftung sei eine Priorität. Im August hatte der Senat ein 78-seitiges Gesetz zur Finanzierung von Geheimdiensten verabschiedet, in dem unter anderem stand, dass „der Kongress der Ansicht ist, dass WikiLeaks und dessen Führungsspitze einem nicht-staatlichen feindlichen Geheimdienst ähneln, der häufig von staatlichen Akteuren unterstützt wird und von den USA als ein solcher Dienst behandelt werden sollte“.
Im Mai 2019 beschuldigte die Trump-Regierung Julian des Verstoßes gegen das Spionagegesetz und forderte das Vereinigte Königreich auf, ihn auszuliefern, um ihn in den USA vor Gericht zu bringen. Für Trump stellten die Taten, derer Julian beschuldigt wurde, einen Hochverrat dar und er forderte „die Todesstrafe oder so“. Andere Politiker, darunter auch der ehemalige republikanische Präsidentschaftskandidat Mike Huckabee, forderten ebenfalls Julians Hinrichtung.
Sollte Julian ausgeliefert und zusätzlich für die Veröffentlichung der Vault-7-Dokumente angeklagt werden, so Fitzgerald dem Gericht gegenüber, „könnte dies zusätzliche Anklagen zur Folge haben, die wegen Beihilfe für den Feind die Todesstrafe rechtfertigen würden“. Er meinte, die USA könnten, insbesondere bei einer Wiederwahl Trumps zum Präsidenten, ganz leicht „diese Anklagen in ein Kapitalverbrechen umformulieren“.
Summers erwähnte Präsident Donald Trumps Ersuchen um „detaillierte Optionen“ für die Ermordung von Julian, als dieser sich in der Botschaft Ecuadors aufhielt. Er erklärte, es seien sogar „Skizzen angefertigt worden“, und fügte hinzu, dass die Anschlagspläne fallengelassen wurden, als die britischen Behörden insbesondere wegen einer möglichen Schießerei in den Straßen von London einen Rückzieher machten.
„Das Beweismaterial zeigte, dass die USA bereit waren, alles dafür zu unternehmen — einschließlich des Missbrauchs des eigenen Justizsystems —, um die Straffreiheit für US-Beamte für die Folter- und Kriegsverbrechen in ihrem 'Krieg gegen den Terror' aufrechtzuerhalten und diejenigen Akteure und Gerichte zu unterdrücken, die willens und bereit waren, diese Verbrechen zu verfolgen“, sagte er.
Die Anwälte hatten Recht. Der CIA ist die treibende Kraft hinter der Auslieferung. Der Leak war höchst peinlich und für den CIA höchst schädlich. Dafür will der CIA Julian zahlen lassen. Schulte, der VAULT7 leakte, wurde zu 40 Jahren verurteilt. Julian, sollte er ausgeliefert werden, wird der nächste sein.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „Julian Assange’s Day in Court“. Er wurde von Gabriele Herb ehrenamtlich übersetzt und vom ehrenamtlichen Manova-Korrektoratteam lektoriert.