Jugend voran!
Erzieher müssen eine Generation heranbilden, die eine neue, menschliche Sozialordnung verwirklichen kann.
Die Jugend ist prädestiniert dafür, Zukunft zu gestalten. Im Gegensatz zu den Älteren hat sie noch viel davon vor sich. Allerdings tragen auch Personen mittleren und hohen Alters eine Verantwortung: nämlich jene, den Jüngeren die notwendigen Werte und Fähigkeiten zu vermitteln. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wären eine gute Grundlage. Leider vermittelt die Erziehung an Schulen, Universitäten und in der Lehre oft das Gegenteil. Anerzogen wird ein autoritärer Charakter, werden Wettbewerbsdenken und Egoismus. Mit diesen Rezepten von gestern lässt sich Zukunft jedoch nicht gestalten. Der Autor will in seinem Artikel nicht den Konflikt zwischen Jung und Alt anheizen. Im Gegenteil ruft er Jugendliche dazu auf, sich mit ihren Eltern zu versöhnen.
Ein Artikel mit dem Titel „Die Jugend muss eine Vorreiterrolle übernehmen“ (1) in der linken deutschen Tageszeitung Junge Welt vom 9. November 2023 über die Weltjugendkonferenz in Paris veranlasste mich als Vater, ehemaligen Lehrer und Psychologen, die Frage zu stellen, wie die Jugend in die Lage kommen kann, bei der Gestaltung der Zukunft eine Vorreiterrolle zu übernehmen.
Junge Menschen beschweren sich oft darüber, dass die Eltern sie nicht verstehen, und grollen ihnen deswegen; deshalb ist es von großer Bedeutung, dass beide Generationen miteinander versöhnt werden. Das geschieht am erfolgreichsten in einer Psychotherapie. In kleinen Schritten wird die Jugend dann ihre Kompetenzen entwickeln und in die Lage kommen, die Zukunft zusammen mit den Erwachsenen zu gestalten.
„Die Jugend muss eine Vorreiterrolle übernehmen“
Im Artikel der Jungen Welt — ein Gespräch mit dem Moderator der Weltjugendkonferenz Rafael Vergara — heißt es, dass Delegierte aus über 60 Ländern auf der Weltjugendkonferenz in Paris aktuelle Krisen sowie Wege nach vorne diskutierten. 400 Jugendliche seien bis zum 5. November dem Aufruf des Netzwerks „Youth Writing History“ gefolgt und hätten Antworten auf die Krisen und Kriege unserer Zeit gesucht. Auf die Frage „Wie geht es weiter?“ antwortete Moderator Vergara unter anderem:
„Langfristig wollen wir ein globales Netzwerk der internationalistischen Zusammenarbeit etablieren. (…) Wir denken, dass die Jugend, als dynamische Kraft der Gesellschaft, dabei eine Vorreiterrolle übernehmen muss. Der Aufbau einer anderen Welt darf nicht auf morgen verschoben werden, sondern wir wollen im Hier und Jetzt am Aufbau eines freien Lebens arbeiten.“ (2)
Ein schönes Ziel — doch stellt sich die Frage, wie die Jugend in die Lage kommen kann, bei der Gestaltung der Zukunft eine Vorreiterrolle zu übernehmen. Da sich der Charakter der Menschen in der Kindheit entwickelt, ginge es darum, Erzieher auszubilden, die fähig sind, eine Generation mit dem Ziel der Verwirklichung einer neuen, menschlicheren Sozialordnung heranzubilden. Das hat bisher gefehlt.
Erzieher befähigen, eine Generation heranzubilden, die eine neue, menschlichere Sozialordnung verwirklich kann
Dass die Charakterstruktur des Menschen durch seine Erlebnisse und Eindrücke in der Kindheit vorherbestimmt wird, ist eine Entdeckung der Tiefenpsychologie. Es sind die Familienatmosphäre und die erzieherische Haltung der Eltern, die die Charakterbildung des Kindes weitgehend bestimmen. Sie formen den seelischen Horizont, der dem Kind frühzeitig eine bestimmte Haltung gegenüber sich selbst und den Mitmenschen nahelegt. Diese aus der Familiensituation entsprungenen Charakterzüge bleiben größtenteils unbewusst.
Charaktereigenschaften sind nicht etwas Angeborenes und Unveränderliches, sondern lediglich das Ergebnis zahlloser Kindheitserlebnisse. Dabei haben die Persönlichkeit der Eltern und ihr erzieherisches Verhalten den allergrößten Einfluss. Es ginge also darum, Eltern und Unterrichtende aufzuklären und sie zu einer gewaltlosen und vernunftgemäßen Erziehung ihrer Kinder und Schüler zu führen.
Aufgabe der Erzieher ist es, Menschen zu bilden, die fähig sind, unabhängige, mutige und gemeinschaftliche Persönlichkeiten zu werden. Es ist in erster Linie die Qualität dieser Beziehung, die den jungen Menschen befähigt, den pädagogischen Absichten des Erziehers zu folgen.
Neue, menschlichere Sozialordnung
Eine neue, menschlichere Sozialordnung muss auf den Prinzipien der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit aufgebaut werden. Freiheit bedeutet konsequente Anwendung des freiheitlichen Prinzips im menschlichen Zusammenleben. Jegliche Über- und Unterordnung widerspricht dem freiheitlichen Prinzip. Freiheit bedeutet Selbstbestimmung des Menschen. Das heißt, sein ganzes Tun und Trachten ist das Ergebnis seiner eigenen Wünsche. Er gestaltet sein Leben, seine Beziehungen zu den Mitmenschen und die gesellschaftliche Organisation selbst.
Herrscht das autoritäre Prinzip vor, dann wird das Verhalten des Menschen durch Befehle, Sanktionen und Strafen erzwungen. Im freiheitlichen Zusammenleben ist die Kommunikation das Mittel der Verständigung. Die Freiheit ist ein Bedürfnis der menschlichen Natur.
Üben Eltern und Lehrkräfte Druck und Zwang aus, kann das Kind in seiner Hilflosigkeit und Abhängigkeit keine gesunde Beziehung einüben: Misstrauen, Angst, Unter- und Überordnung sind dann die Resultate. Gleichheit und Brüderlichkeit sind ebenfalls grundlegende Bestandteile der neuen, menschlicheren Sozialordnung (3).
Jugend braucht politische und psychologische Bildung
Die Menschen werden von allen Institutionen — angefangen bei der Erziehung zu Hause, von der Kinderstube bis hinauf zur Rekrutenschule und das „Feld der Ehre“ — so programmiert, dass sie dann alles machen, was die Machthaber von ihnen wollen. Das ist gezielte Programmierung. Deshalb ist es wichtig, dass der Jugend insbesondere in der Schule politische Bildung vermittelt wird; dass sie zum Beispiel erfährt, dass alle Kriege ein gutes Geschäft sind und in der Politik nichts zufällig passiert. Wenn es passiert, kann man darauf wetten, dass es so geplant war.
Hinzu kommt die psychologische Bildung. In Familie und Schule sollte dem jungen Menschen vermittelt werden, wie er seine Probleme lösen kann und soll. Wichtig ist sein Lebensgefühl, seine Meinung über sich selbst, über seine Kameradinnen und Kameraden sowie seine Meinung über die Gemeinde und den Staat.
Jugend nicht für politische Propaganda einspannen
Junge Menschen, die als Schüler eigentlich lernen und sich bemühen sollen, dass sie in der Schule vorankommen, dürfen nicht für politische Propaganda eingespannt werden. Ganz egal, wozu sie aufgerufen werden, ob sie Flugblätter verteilen oder demonstrieren sollen. Kinder und junge Leute dürfen für politische Zwecke nicht missbraucht werden.
Ursachen der Jugendverwahrlosung
In Berichten über verwahrloste Jugendliche taucht oftmals der Begriff „Psychopathie“ auf. Damit soll angedeutet werden, dass junge Menschen, die in irgendeiner Weise aus dem Rahmen fallen, an angeborenen Persönlichkeitsdeformationen leiden. Diese Auffassung ist jedoch als irrtümlich und oberflächlich erkannt worden.
Die wichtigste Quelle der Jugendverwahrlosung ist die seelische Heimatlosigkeit im Kindesalter. Man weiß heute, welche ungeheure Bedeutung für die Entwicklung des Menschen dem kindlichen Geborgenheitsgefühl zukommt. Das Menschenkind ist mehr als alle anderen Lebewesen liebesbedürftig. Es braucht Schutz und freundliche Führung, um in die äußerst komplizierte Menschenwelt hineinwachsen zu können. Wo es im Erwachsenen frühzeitig infolge von dessen Lieblosigkeit oder Unzuverlässigkeit den „Gegenspieler“ erkennt, schließt es sich von seiner Umwelt ab und verfällt einer Isoliertheit, die von einer verständnislosen Umgebung in ihrer Tragweite kaum erkannt wird.
Versöhnung der Kinder mit den Eltern
Bereits im Jahr 1927 schrieb der Individualpsychologe Alfred Adler im Buch „Menschenkenntnis“ über Klagen von Eltern und Kindern:
„Es ist eine oft hervorgehobene und empfindliche Tatsache, dass die Menschen aneinander vorübergehen und vorüberreden, den Zusammenschluss nicht finden können, weil sie sich fremd gegenüberstehen, nicht nur im weiteren Rahmen einer Gesellschaft, sondern sogar im engeren Kreis der Familie. Nichts tritt uns öfter entgegen als Klagen von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen, und von Kindern, dass sie von den Eltern nicht verstanden würden. (…) Die Menschen würden viel besser zusammenleben, wenn die Menschenkenntnis größer wäre, weil gewisse störende Formen des Zusammenlebens wegfielen, die heute nur deshalb möglich sind, weil wir einander nicht kennen und so der Gefahr ausgesetzt sind, uns durch Äußerlichkeiten täuschen zu lassen und auf Verstellungen anderer hineinfallen.“ (4)
Die Lehre Adlers (1870 bis 1937) ist zu einem Grundpfeiler der Tiefenpsychologie geworden und heute aus der psychologischen Forschung nicht mehr wegzudenken, auch wenn die Individualpsychologie nur teilweise die Anerkennung gefunden hat, die sie tatsächlich verdient und die sie auch für ihre bahnbrechenden Errungenschaften beanspruchen darf.
In dem Moment, wenn wir als Kinder den Eltern grollen, sind wir im Unrecht, dann wissen wir nicht Bescheid. In der Regel ist es die erste Aufgabe, wenn ein Mensch in die Psychotherapie kommt, dass er mit seiner Situation, zum Beispiel mit seinen Eltern versöhnt wird.
Der junge Mensch fühlt sich oft von ihnen beleidigt und grollt ihnen, weil sie ihm angeblich Unrecht getan haben. Sie haben ihn beispielsweise geschlagen oder ihm „einen Knäuel Dummheiten“ vermittelt.
Aufgabe der Psychotherapie ist es, das zu beheben und ihn mit den Eltern zu versöhnen. Er muss einsehen, dass man die Eltern nicht verantwortlich machen kann — weil sie ebenfalls im Stich gelassen und nicht informiert wurden. Sie haben nicht gewusst, wie sie ihr Kind unterrichten, informieren sollten. Die Menschen werden dann einsehen, dass die Eltern auch die „armen Teufel“ waren.
Mit Besonnenheit und Ausdauer kommt die Jugend in die Lage, in kleinen Schritten ihre Kompetenzen zu entwickeln
In meinem Buch „Sich die Ergebnisse der psychologischen Forschung zu eigen machen! Erkenntnisse aus der Begegnung mit dem Psychologen Friedrich Liebling und seiner freiheitlichen Psychotherapie“ schrieb ich auf Seite 35:
„Meines Erachtens stehen junge Menschen im Laufe ihrer Entwicklung vor vielfältigen Anforderungen, die sie in der Regel gut bewältigen. Um die Lebensaufgaben mutig angehen zu können, sind Heranwachsende jedoch auf die Einbettung in eine Halt gebende Umwelt als Lebenswelt und eine einbettende Kultur angewiesen.
Halt und Orientierung erfahren sie, wenn die Familie Wertvorstellungen und Tugenden vermittelt, die in den gesellschaftlichen Institutionen wie Kindergarten und Schule verstärkt und konsequent durchgesetzt werden. Zu nennen sind: Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, Wahrheit, Friedensfähigkeit, Toleranz, Gemeinschaftssinn, Konfliktfähigkeit und Kompromissbereitschaft. Damit sich diese sozialen Werthaltungen und Tugenden im Heranwachsenden festigen, ist praktische Teilnahme an sozialen Aktivitäten unerlässlich.
Ich glaube an die Jugend, an ihre Lernfähigkeit, ihre Kreativität, ihre Einfühlsamkeit, ihr Verantwortungsgefühl, ihre Einsichtsfähigkeit und ihre Bereitschaft zur Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen. Meistens fehlt jungen Menschen nur etwas Besonnenheit und Ausdauer, damit sie in kleinen Schritten ihre Kompetenzen entwickeln können.“ (5)