Jugend im Netz

Die Digitalisierungsagenda der IT-Konzerne hat vor allem jüngere Menschen eingefangen. Ältere, die große Teile ihres Lebens „offline“ gelebt haben, können helfen, einen Ausweg zu finden.

Uns allen ist dieser Anblick vertraut: Kinder und Jugendliche, die glasigen Blickes in ihr Smartphone versunken sind und — zum Beispiel bei Familienfesten — völlig abwesend wirken. Geistige Überfrachtung, Nervosität, Bewegungsmangel, Weltfremdheit können die Folgen sein. Ältere, die in ihrer Jugend politisch engagiert waren, klagen oft darüber, dass ihre Kinder und Enkel völlig unpolitisch geworden seien. Dabei ist auch das Medien-Konsumverhalten der Jüngeren durchaus ein Politikum. Es hilft, eine Digitalisierungsagenda voranzutreiben, die auf Totalüberwachung, Vereinzelung und Entfremdung vom Leben abzielt. Gemäß der Weisheit „Kinder sind unsere Zukunft“ würden wir mit solchem Nachwuchs geradewegs in die Dystopie schlittern. Keineswegs können Angehörige der mittleren und älteren Generation jedoch ihre Hände in Unschuld waschen. Waren sie es nicht, die in Machtpositionen all das zugelassen und in die Wege geleitet haben? War es für sie nicht recht bequem gewesen, dass sich ihre Kinder im Netz verfingen, sodass sie dort „aufgeräumt“ waren und weniger störten? So wie mehrere Generationen die Misere gemeinsam kreiert haben, kann auch nur in Zusammenarbeit von Jung und Alt ein Ausweg daraus gefunden werden. Ein Beitrag zum „Alt und Jung“-Spezial.

Persönlich kann ich mehr als zufrieden sein: Obwohl ich nun schon seit geraumer Zeit zur Gruppe der Älteren gehöre, setzt sich mein Freundeskreis aus Angehörigen ganz unterschiedlicher Altersstufen und Herkunftsländer zusammen. Und nicht nur im Freundeskreis erlebe ich immer wieder, dass mir jüngere Menschen zumeist freundlich, hilfsbereit und höflich begegnen.

Mit anderen Worten kann ich mich über die „Jugend von heute“ kaum beklagen. Und doch: Wenn ich beobachte, wie bedenkenlos junge Leute mit ihren Smartphones umgehen, wie schwer es ihnen fällt, längere Texte zu lesen und wie selten sie noch mit Bargeld bezahlen, könnte ich mich aufregen.

In solchen Momenten befällt mich eine Art Verzweiflung und ich frage mich, wie es sein kann, dass sich junge Menschen wie selbstverständlich ganz im Sinne derjenigen verhalten, die mit Hilfe einer möglichst umfassenden Digitalisierung ihre Machtbasis vergrößern und uns in eine dystopische Zukunft führen wollen. Sind die technikfixierten jungen Menschen ungeachtet ihrer Liebenswürdigkeit einfach zu unwissend, um zu begreifen, woran sie sich beteiligen?

Obwohl ich davon überzeugt bin, dass an dieser Vermutung etwas „dran“ ist, versuche ich gleichzeitig, die Gründe für dieses unkritische Mitmachen zu verstehen. Einer der hierfür in Frage kommenden Gründe dürfte in der Vergangenheit liegen: Die Nachkriegsjugend ist völlig anders aufgewachsen als die heutige Jugend. Damit meine ich gar nicht in erster Linie die bescheidenen Wohnverhältnisse (Außentoiletten, kein Warmwasser, Kohleöfen sowohl zum Kochen als auch zum Heizen), sondern vielmehr die Unbekümmertheit, mit der uns unsere Eltern aufwachsen ließen. Wir mussten zwar zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein, aber ansonsten interessierten sich unsere Eltern nur wenig dafür, was wir — und zwar immer im Freien — nach der Schule so trieben.

Unbedrängt von nachmittäglichen Förderterminen konnten wir, einschließlich durchaus gefährlicher Spiele, alles ausprobieren, wonach uns der Sinn stand, und trainierten dabei nicht nur alle unsere Sinne gleichermaßen, sondern auch unser Immunsystem. Außerdem war uns schon früh das Erleben von Selbstwirksamkeit durch das Erfinden und Herstellen von Spielzeug aus vorgefundenen Materialien vergönnt.

In dieser Hinsicht könnte man von sehr günstigen Entwicklungsbedingungen sprechen, wenn in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten nicht gleichzeitig höchst autoritäre Erziehungsstile vorgeherrscht hätten. Im Vergleich dazu hat inzwischen eine beinahe komplette Umkehrung des Verhältnisses von guten und schlechten Einflüssen stattgefunden.

Die heutigen Kinder und Jugendlichen sind kaum noch erzieherischer Gewalt ausgesetzt, leiden dafür aber unter Zeitdruck, Bewegungsmangel und außerhäuslicher (Smartphone-)Kontrolle.

Darüber hinaus müssen sie heutzutage ein Bildungssystem durchlaufen, das seit der Bologna-Reform und den PISA-Tests ganz massiv auf Effizienz, Leistungserbringung und Arbeitsmarktkompatibilität setzt. Bei der Vermittlung von Wissen geht es auch in den Gymnasien nicht länger um die humanistisch orientierte Heranbildung eines Menschen, sondern um die spätere Verwertbarkeit der angebotenen Lerninhalte, die zu diesem Zweck in Module aufgesplittet worden sind.

Gleichzeitig hat die Zahl schriftlicher Überprüfungen enorm zugenommen, woraus sich ein Lernstil entwickelt hat, der von den Schülern selbst als „learning for the tests“ oder — noch krasser — als „Bulimie-Lernen“ bezeichnet wird. In diesen Fällen geht es um ein kurzfristiges Anhäufen von Wissen, das nach Zweckerfüllung (Testerfolg) oftmals gleich wieder in der Versenkung verschwindet. Wie soll sich unter solchen Umständen ein auf das Erkennen von Zusammenhängen ausgerichtetes Denken herausbilden?

So in etwa habe ich mir schon 2017 die Dinge in meiner Kolumne „Widerstand der Alten“ zusammengereimt, in der es für mich zum ersten Mal um den Versuch ging, das historisch völlig untypische Phänomen einer — zumindest scheinbaren — Verlagerung des widerständigen Verhaltens von der jüngeren auf die ältere Generation wenigstens ansatzweise zu verstehen. Schon damals hatte ich auch das Internet als weitere mögliche Ursache des vielfach beobachteten nachlassenden Interesses junger Menschen an kritischen Auseinandersetzungen mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen im Verdacht.

Zu jenem Zeitpunkt konnte ich mir allerdings überhaupt noch nicht vorstellen, wie stark die Digitalisierung — nicht zuletzt befeuert durch die Coronajahre — in das Leben von uns allen eingreifen würde.

Inzwischen hängen die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten in sehr starkem Maße vom Besitz eines Smartphones und der Zustimmung zum bargeldlosen Zahlungsverkehr ab.

Auch wenn die Folgen der technischen Transformation der Gesellschaft uns mittlerweile alle erfasst haben, werden sie nicht gleichermaßen beurteilt. Insbesondere die Jüngeren schätzen die damit einhergehende Bequemlichkeit, während sich viele Ältere ausgesperrt fühlen oder sich Sorgen um die damit ebenfalls einhergehende Preisgabe ihrer Daten machen.

Demgegenüber scheint es ein mehrheitliches — also altersunabhängiges — Einverständnis mit der Früheinführung digitaler Geräte zu geben. Ungeachtet zahlreicher Aufklärungsbemühungen werden die Auswirkungen exzessiver Bildschirmnutzung auf die Entwicklung der Gehirne von Kindern und Jugendlichen kaum zur Kenntnis genommen. Dabei liegt es eigentlich auf der Hand, dass eine auf den Hör- und Sehsinn beschränkte Stimulierung zu einer Art Notreifung des sich allmählich entwickelnden Gehirns führt, die umso heftiger ausfällt, wenn auch noch andere Faktoren wie ein weitgehender Bewegungsmangel hinzukommen.

Aus diesem Grund gibt es immer mehr Schüler, die sich nicht lange konzentrieren können, soziale Anpassungsschwierigkeiten haben, unter Sprachstörungen leiden, Suchtverhalten entwickeln, Empathiefähigkeit verlieren und motorisch ungeschickt sind.

Als wäre das alles nicht schon schlimm genug, geht mit dem Aufkommen von ChatGPT und Co. auch noch die Chance zu einem Erleben von Selbstwirksamkeit verloren. Worauf können heranwachsende Menschen noch stolz sein, wenn sie feststellen müssen, dass KI-Programme sowieso alles schneller und besser erledigen als sie es selbst vermögen?

Umso erstaunlicher ist es, dass sich jüngere Menschen — nach Abflauen der Fridays-for-Future-Bewegung — wieder in größerer Zahl an den Demos gegen rechts beteiligt haben. Tragischerweise handelt es sich hierbei um eine von ihnen nicht erkannte Instrumentalisierung, da es bei den regierungsseitig ausgerufenen Demos nicht um eine Abwehr faschistischer Tendenzen, sondern um eine Stärkung der eigenen Regierungsmacht und der dahinterstehenden Tech-Giganten geht.

Fazit: Bei meinem zweiten Vergleich mit dem bei jüngeren und älteren Menschen gegebenen Widerstandspotenzial komme ich zu dem Ergebnis, dass die Widerstandsbereitschaft insgesamt stark nachgelassen hat. Nicht einmal die uns drohende Gefahr eines dritten Weltkrieges treibt die Menschen noch in größerer Zahl auf die Straße oder lässt die Beliebtheitswerte kriegsschürender Politiker erkennbar sinken.

Deshalb müssten wir uns meiner Meinung nach jetzt mit der Frage beschäftigen, wie es so weit kommen konnte, dass sich die Bevölkerung (mit Ausnahme von Arbeitsplatzkämpfen) nicht länger lautstark für die Durchsetzung eigener Interessen einsetzt und die digitale Umstrukturierung unserer Gesellschaft — einschließlich der daraus resultierenden Verformung von Kindern und Jugendlichen — als unveränderliche Tatsache hinnimmt? Die weitergehende Frage würde dann lauten: Ließe sich an diesem Zustand durch Bildung eines generationsübergreifenden Zusammenschlusses noch etwas ändern?