Journalismus wäre, wenn...
30 Fragen, die Journalisten zum Fall Skripal stellen müssten.
Der Fall „Skripal“ ist alles andere als aufgeklärt – da werden schon russische Diplomaten ausgewiesen und Russland weitere Sanktionen angedroht. Statt auf gesicherte Fakten stützt man sich in London auf Behauptungen "nach bestem Wissen". Und deutsche Medien phantasieren schon vom „Bündnisfall“. Rob Slane, ein britischer Journalist und Blogger, stellt sich und seinen Lesern viele Fragen zu dem mysteriösen Fall - Fragen, auf deren Beantwortung Journalisten schon längst hätten drängen müssen.
30 Fragen, die Journalisten zum Fall Skripal stellen sollten
von Rob Slane
Zum Fall „Sergei und Yulia Skripal“ gibt es viele Fragen, die zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels ungeklärt und ziemlich ungewöhnlich sind. Es mag ja gute und harmlose Erklärungen für einige oder gar alle dieser Fragen geben – aber vielleicht gibt es sie auch nicht. Deshalb müssen dort Fragen gestellt werden, wo es bis jetzt keine oder nur sehr unbefriedigende Antworten gibt.
Manche werden nun denken, dass dies alles im Reich der Verschwörungstheorien anzusiedeln ist. Aber das ist es nicht – aus dem einfachen folgenden Grund: Ich habe weder eine glaubwürdige Theorie – ob nun Verschwörungs- oder wie auch immer geartet – über die ganzen Einzelheiten des Vorfalls in Salisbury, noch beabsichtige ich eine zu liefern. Ich habe keine Ahnung, wer für dieses Geschehen verantwortlich ist und bleibe weiterhin für viele Erklärungen offen.
Es gibt indessen einige Ungereimtheiten im offiziellen Narrativ, die nach Antworten und Klärungen verlangen. Man muss kein Verschwörungstheoretiker oder ein „Russlandfreund“ sein, um das zu erkennen. Man muss nur über eine gesunde Skepsis verfügen, „eines Typs, wie er von allen wissbegierigen Menschen entwickelt wird“!
Im Folgenden finden Sie nun die 30 wichtigsten Fragen zu dem Fall sowie zur Reaktion der britischen Regierung, die derzeit überhaupt noch nicht beantwortet wurden oder die der Klärung bedürfen.
- Warum gibt es seit der ersten Woche der Untersuchungen keine aktuellen beziehungsweise aktualisierten öffentlichen Erklärungen zum Gesundheitszustand von Sergei und Yulia Skripal?
- Leben sie überhaupt noch?
- Wenn ja: Wie ist ihr gesundheitlicher Zustand und welche Symptome zeigen sie?
- Kürzlich schrieb Stephen Davies, Facharzt für Notfallmedizin am Salisbury NHS Foundation Trust (der Trust ist der Träger des Salisbury District Krankenhauses, A. d. Ü.) in einem Brief an die Times folgendes: „Bezüglich Ihrer Reportage (‚Nach Kontakt mit Gift sind fast 40 Menschen in Behandlung‘, vom 14. März 2018) würde ich gerne klarstellen, dass keine Patienten eine Nervengas-Vergiftung in Salisbury erlitten haben und dass es überhaupt je nur drei Patienten mit einer merklichen Vergiftung gab.“ Seine Behauptung, dass „keine Patienten eine Nervengas-Vergiftung in Salisbury erlitten haben“ ist bemerkenswert seltsam, weil es dem offiziellen Narrativ so deutlich widerspricht. War dies ein Flüchtigkeitsfehler oder sollte damit genau das ausgedrückt werden – dass in Salisbury niemand mit einem Nervengas vergiftet wurde?
- Es wurde behauptet, dass die Skripals und Kriminalmeister Nick Bailey von einem „militärisch verwendbaren Nervengas“ vergiftet wurden. Einigen Behauptungen zufolge könnte das erwähnte Gift fünf- bis achtmal toxischer als das VX-Nervengift sein. Wenn man bedenkt, dass nur 10 mg VX als durchschnittlich tödliche Dosis angesehen wird, könnte man annehmen, dass der im Fall Skripal erwähnte Typ sofort zum Tod geführt haben müsste. Gibt es eine Erklärung dafür, warum dies nicht geschah?
- Obwohl recht bald nach dem Vorfall in Meldungen von einem Nervengift die Rede war, dauerte es fast eine Woche, bis Public Health England (Regierungsbehörde innerhalb des Gesundheitsministeriums, A. d. Ü.), für jene Menschen, die am Tag des Anschlags die Kneipe The Mill oder das Restaurant Zizzi in Salisbury besucht hatten, Empfehlungen ausgab. Warum diese Verzögerung, und stellte diese eine Gefährdung der Bevölkerung dar?
- In ihren Empfehlungen erklärte Public Health England, dass Menschen, die jene Plätze besucht hatten, wo offensichtlich Spuren eines militärisch anwendbaren Nervengases gefunden worden waren, ihre Kleidung waschen sollten und: „persönliche Dinge wie Telefone, Handtaschen oder andere elektronische Geräte mit Feuchtigkeits- oder Babytüchern abwischen und diese dann im Hausmüll entsorgen sollten.“ Gelten Babytücher als eine wirkungsvolle und sichere Methode, mit Objekten umzugehen, die möglicherweise mit „militärisch verwendbaren Nervengasen“ verseucht wurden, vor allem wenn sie fünf- bis achtmal tödlicher als VX sind?
- Den ersten Berichten zufolge war Kriminalmeister Bailey nach seinem Kontakt mit der Substanz erkrankt, als er sich um die Skripals gekümmert hatte, die auf einer Bank in Einkaufszentrum The Maltings in Salisbury saßen. Später – und zuerst vom Londoner Polizeichef Lord Ian Blair am 9. März – wurde jedoch behauptet, er sei in Sergei Skripals Haus in der Christie Miller Road damit in Berührung gekommen. Man sollte meinen, dass diese Frage einfach nachzuprüfen sei – trotzdem waren die Meldungen darüber seitdem höchst widersprüchlich. Was entspricht denn nun den Tatsachen?
- Die Regierung behauptet, das Gift sei „ein militärisch verwendbares Nervengas eines in Russland entwickelten Typs.“ Der Ausdruck „eines in Russland entwickelten Typs“ sagt rein gar nichts darüber aus, ob die in Salisbury verwendete Substanz in Russland produziert oder hergestellt wurde. Kann die Regierung bestätigen, dass ihre Wissenschaftler von Porton Down nachgewiesen haben, dass die Substanz, die die Skripals und Kriminalmeister Bailey vergiftet hat, tatsächlich in Russland produziert oder hergestellt wurde?
- Der frühere Botschafter von Usbekistan, Craig Murray, spricht von Quellen im britischen Außenministerium, die ihm Folgendes berichtet hätten: Wissenschaftler von Porton Down würden der Behauptung über die Herkunft der Substanz nicht zustimmen, da sie diese nicht feststellen konnten. Laut Murray einigten sie sich erst auf großen Druck der Regierung hin auf die Kompromiss-Sprachregelung „eines in Russland entwickelten Typs“, die fortan in allen diesbezüglichen offiziellen Stellungnahmen benutzt wurde. Kann das Britische Außenministerium in klaren und eindeutigen Worten und mit aller Entschiedenheit Herrn Murrays Behauptung widerlegen, dass auf Wissenschaftler von Porton Down Druck ausgeübt wurde, sich mit einer bestimmten Wortwahl einverstanden zu erklären, und dass man sich schließlich auf eine sehr „schwammige“ Version einigte?
- Als das britische Außenministerium versuchte, Murrays Behauptungen zu widerlegen, verwendete es unter anderem genau diese Formulierung – „eines in Russland entwickelten Typs“. Will und kann das britische Außenministerium darüber hinaus bestätigen, dass das Gift nicht nur „eines in Russland entwickelten Typs“ ist, sondern dass es in Russland „produziert“ oder „hergestellt“ wurde?
- Warum sprach die britische Regierung gegenüber der russischen Regierung ein 36-Stunden-Ultimatum aus, innerhalb dessen diese eine Erklärung abgeben müsse, weigerte sich dann jedoch, der Bitte Russlands nachzugeben, Beweise für die angebliche Schuld zu liefern – zumal diese ja auch nicht manipuliert hätten werden können, weil Porton Down ja ihre eigene Probe behalten hätte?
- Wie kann sich ein Staat (oder auch eine Person oder Organisation) gegen eine Anschuldigung verteidigen, wenn ihm der Zugriff auf Beweismittel verweigert wird, die angeblich seine Schuld nahelegen?
- Ist dies nicht eine klare Aufhebung der Unschuldsvermutung und eines rechtsstaatlichen Verfahrens?
- Warum hat außerdem die britische Regierung ein Ultimatum gegenüber der russischen Regierung ausgesprochen, obwohl dies den Regeln der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW, Organisation for the Prohibition of Chemical Weapons) widerspricht, die in Artikel 9, Paragraph ii der Chemiewaffenkonvention (CWC) klar definiert sind – eine Konvention, die beide Staaten unterschrieben haben?
- Geht man davon aus, dass die Ermittlung vom Ermittlungsleiter als „eine außerordentlich herausfordernde Untersuchung“ bezeichnet wurde, die „eine Vielzahl einzigartiger und komplexer Fragen“ aufwirft, und geht man weiter davon aus, dass viele Fakten des Falles noch unbekannt sind (beispielsweise wann, wo und wie die Substanz verabreicht wurde) – wie ist es dann möglich, dass die britische Regierung mit einer solchen Gewissheit auf den Schuldigen zeigen kann?
- Hat sie auf diese Weise nicht zudem die Ermittlungen politisiert und beeinträchtigt?
- Warum musste die britische Regierung schon nach einer guten Woche der Ermittlungen eine Schuld zuweisen, anstatt den Abschluss der Ermittlungen abzuwarten?
- In der Andrew Marr Show am 18. März behauptete Außenminister Boris Johnson: „In Erwiderung auf die Ausführungen des Herrn Chizov über Russlands Chemiewaffenbestände kann ich sagen, dass wir in den letzten zehn Jahren tatsächlich Beweise dafür hatten, dass Russland nicht nur die Lieferung von Nervengas für Attentate erwogen, sondern auch Novichok hergestellt und gelagert hat.“ Woher kam diese Information und wurde sie ordnungsgemäß überprüft?
- Wenn diese Information bereits vor dem 27. September 2017 bekannt war, dem Datum, an dem die OPCW in einer Stellungnahme erklärte, dass die Zerstörung von 39.967 Tonnen an Chemiewaffen im Besitz der russischen Föderation abgeschlossen sei – warum hatte dann Großbritannien die OPCW nicht über die eigenen Informationen, die dieser Stellungnahme widersprachen, unterrichtet – zumal es auch von Rechts wegen dazu verpflichtet gewesen wäre?
- Wenn diese Informationen nach dem 27. September 2017 bekannt waren – warum hat Großbritannien die OPCW nicht über diese „neue“ Information unterrichtet, wozu es von Rechts wegen verpflichtet gewesen wäre, weil es ja angeblich zeigt, dass Russland die OPCW angelogen und ein heimliches Chemiewaffenprogramm am Laufen hatte?
- Ebenfalls in der Andrew Marr Show stellte Johnson die folgende Behauptung auf, nachdem er gefragt wurde, ob er „absolut sicher“ sei, dass die Substanz, die zur Vergiftung der Skripals benutzt worden war, ein „Novichok“ sei: „Dies ist, natürlich nach unserem besten Wissen, ein von Russland hergestelltes Nervengift, das unter die Kategorie „Novichok“ fällt, die nur von Russland hergestellt wird...“ Ist die Wendung „nach unserem besten Wissen“ eine angemessene Antwort auf Marrs Frage, ob er „absolut sicher“ sei?
- Genügt dies als legale Grundlage für die Beschuldigung eines anderen Staates und die Verhängung von Strafmaßnahmen, oder bedarf es einer größeren Gewissheit, bevor eine solche Anschuldigung ausgesprochen werden kann?
- Nachdem er die verklausulierte Wendung „nach unserem besten Wissen“ verwendet hat, übertraf Johnson noch die frühere Regierungsbehauptung, es handele sich um eine Substanz „eines in Russland entwickelten Typs“, indem er sie als „in Russland hergestellt“ bezeichnete. Waren die Wissenschaftler von Porton Down tatsächlich in der Lage nachzuweisen, dass die Substanz „in Russland hergestellt“ wurde oder ist Herr Johnson hier über das Ziel hinausgeschossen?
- Auch als er behauptete, dass die im Fall Skripal verwendete Substanz „zur Kategorie Novichok“ gehörte, „die nur in Russland hergestellt wurde“, ging er weiter als in der ursprünglichen Behauptung, das Gift sei „eines in Russland entwickelten Typs“. Kann Johnson den Beweis dafür liefern, dass diese Art chemischer Waffen je erfolgreich in Russland synthetisiert wurde – zumal der wissenschaftliche Beirat der OPCW erst 2013 erklärt hat, dass er „nicht über genügend Informationen verfügt, um sich zur Existenz oder zu den Eigenschaften von ‚Novichoks‘ zu äußern.“
- Wie Craig Murray nochmals betont, hat die OPCW seit ihrer Erklärung von 2013 (legal) mit iranischen Wissenschaftlern zusammengearbeitet, die diese Chemiewaffen erfolgreich synthetisiert haben. War sich Johnson, als er behauptete, sie seien „in Russland hergestellt“, darüber im Klaren, dass Chemiewaffen der Art „Novichok“ bereits woanders synthetisiert worden waren?
- Deutet die Tatsache, dass iranische Wissenschaftler diese Art chemischer Waffen synthetisieren konnten, darauf hin, dass auch andere Länder dazu in der Lage wären?
- Ist die britische Regierung sich dessen bewusst, dass die wichtigste Anlage für Forschungen zur Synthetisierung von Novichoks in den 1970er und 1980er Jahren nicht in Russland lag, sondern in Nukus, Usbekistan?
- Ist es nicht zumindest theoretisch möglich, dass sowohl Gifte als auch Geheimnisse außer Landes oder gar in die Vereinigten Staaten gebracht wurden, als das US-amerikanische Verteidigungsministerium im Rahmen eines Abkommens mit der Regierung von Usbekistan den Standort in Nukus dekontaminierte und demontierte?
- Die Verbindung von Sergej Skripals MI6-Anwerber Pablo Miller, der zufällig auch in Salisbury lebt, mit Christopher Steele, dem Autor des sogenannten „Trump Dossiers“, ist wohl bekannt; ebenso die Tatsache, dass die Herren Skripal und Miller sich regelmäßig in der City getroffen haben. Spielt diese Verbindung bei den Ermittlungen des Geschehens in Salisbury eine Rolle?
Rob Slane lebt in dem Land, das früher als Großbritannien bekannt war, das er heute aber als „Der Morast“ bezeichnet. Er ist der Autor von „The God Reality: A Critique of Richard Dawkins’ The God Delusion“ und von „A Christian & an Unbeliever Discuss: Life, The Universe & Everything“. Zudem schreibt er monatlich erscheinende weltanschauliche Artikel für verschiedene US-amerikanische Zeitschriften und bloggt auf TheBlogMire.
Redaktionelle Anmerkung: Dieser Text erschien zuerst unter dem Titel „30 Questions Journalists Should Be Asking About Skripal Case“. Er wurde vom ehrenamtlichen Rubikon-Übersetzungsteam übersetzt und vom ehrenamtlichen Rubikon-Korrektoratsteam korrigiert.